KAPITEL
18
8. Tishri 5414
»Menschen verschwinden«, erklärte Jasper düster und blickte Pavel an. »Ruth ist nicht mehr zu den Versammlungen am Donnerstag gekommen. Niemand weiß, wo Sumino steckt. Irgend etwas geht hier vor.«
»Sie stammen alle aus dem Hinterland. Möglicherweise sind sie durch die Scharmützel mit der Untergrundbewegung abgeschnitten worden und haben im Moment keine Möglichkeit, die Stadt zu erreichen.«
»Kann schon sein, aber vielleicht haben sie auch die Magistraten direkt zu den Gruben der Dunkelheit geschickt.«
»Die Regierung entführt keine Menschen.«
Jasper lehnte sich auf der Couch zurück, um noch ein paar der Sonnenstrahlen zu erhaschen, die durch das Fenster in Pavels Wohnung fielen. In seiner Hand hielt er eine Bierdose, mit der er ab und zu in der Luft herumfuchtelte, um seine Worte zu unterstreichen. »Du bist ein Klotzkopf, ist dir das klar?«
Pavel verschränkte die Arme vor der Brust. »Sei nicht so schwierig, Jasper. Ich glaube, wenn wir alle tun, was sie verlangen, dann geschieht uns nichts. Schließlich sind sie keine Monster, sondern menschliche Wesen, genau wie wir.«
»Bah!« Jasper machte eine abschätzige Handbewegung, und die Linien in seinem Gesicht vertieften sich. »Sie mögen ja menschliche Wesen sein, aber sie werden von einer Horde blauer Halunken beherrscht.«
Pavel zeigte durch das Fenster zu dem gelben Haus hinüber, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand. »Erst gestern hat dieser Lieutenant, den die Regierung bei den Richmonds einquartiert hat, Marjorie einen Beutel mit Lebensmitteln gebracht. Was sagst du denn dazu? Er …«
»Er soll die Nachbarschaft ausspionieren und versucht natürlich, seine wahre Aufgabe zu vertuschen. Schließlich befindet er sich im Moment allein auf feindlichem Gebiet. Aber warte nur ab, bis er etwas herausgefunden hat, das er seinen Vorgesetzten melden kann. Dann verschwinden die Lebensmittel, und dafür wirst du Gewehre zu sehen kriegen. Dann wird es dir leid tun, daß du ihn nicht auf der Stelle umgebracht hast.«
Pavel warf entnervt die Arme hoch. »Großvater, in Derow sind die Truppen Tag und Nacht durch die Straßen marschiert, und nichts ist passiert. Sie waren absolut friedlich! Warum glaubst du bloß, die einzige Möglichkeit, Probleme zu lösen, bestünde darin, harmlose Menschen umzubringen?«
Jasper beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. »Zum Beispiel, weil es verdammt viel einfacher ist, sie umzubringen, solange sie noch harmlos sind, statt zu warten, bis sie deine Familie ermordet und eine Horde von Halunken angeheuert haben, die ihre Ärsche vor der Vergeltung schützen sollen!«
»Man kann auch diplomatisch vorgehen! Ich weiß, wovon ich spreche!«
Jasper betrachtete seine Fingernägel, als hätte er gerade etwas höchst Interessantes darunter entdeckt. »Weißt du was?«
»Was?«
»Ich glaube, du bist ohne Gehirn geboren. Sollen wir das mal von einem Arzt überprüfen lassen? Ist ganz erstaunlich, was man heute schon alles transplantieren kann.«
Pavel lachte gequält und schüttelte drohend die Faust. »Warum sagst du immer solche Sachen, wenn wir uns unterhalten?«
Sein Großvater warf ihm einen scharfen Blick zu und legte einen Arm über die Rückenlehne der Couch. »Weil du dich mitunter wirklich wie ein hirnloser Ochse aufführst. Diplomatie hat den Gamanten bisher nur einmal geholfen, und zwar damals, als der alte Zadok sie den Magistraten mit einer Million Kämpfer im Rücken aufgezwungen hat.«
»Du siehst auch nur, was du sehen willst! Und wenn du nicht bald zum Registrierungsbüro gehst und deinen Namen auf das Blatt Papier setzt, landest du im Gefängnis, weil ich nämlich aufhören werde, für dich zu lügen!«
»Sei nicht albern.«
»Wer ist hier albern? Ich breche das Gesetz, nur damit du dich nicht daran halten mußt. Ist dir eigentlich klar, daß ich wegen dir zum Kriminellen geworden bin? Erst heute morgen habe ich einen Soldaten belogen, der mich gefragt hat, wo du wohnst. Ich habe ihm erzählt, du wärst obdachlos.«
»Das stimmt ja auch«, erwiderte Jasper. Er hatte Angst gehabt, heimzugehen, und so war er hier und dort bei Freunden untergeschlüpft oder hatte sich in einem der Obdachlosenlager versteckt, die zu Hunderten die Stadt umgaben. Er mußte ständig in Bewegung bleiben, so wie es die cleveren Leute während der letzten gamantischen Revolte gemacht hatten. Selbst sein Besuch bei Pavel war ein Risiko, doch Jasper hatte vorher sorgfältig die Umgebung erkundet und war dann in einem günstigen Moment durch den Hintereingang hereingeschlüpft. »Davon abgesehen wärst du schon längst selber ein Krimineller geworden, wenn du nur einen Funken Verstand besäßest. Und ohne deinen dummen Job in den Regierungslabors könnten wir schon längst hier verschwunden sein und sicher auf irgendeiner Insel leben.«
»O Jasper«, stöhnte Pavel und kratzte seinen schwarzen Bart, »manchmal machst du mich so wütend, daß ich dich am liebsten aufhängen würde.«
»Na gut, aber wenn du in die Küche gehst, um ein Seil zu holen, dann bring mir noch ein Bier mit.« Jasper zerdrückte die leere Dose und grinste dabei frech.
»Klar. Ich tue doch alles, um für ein paar Sekunden deiner Gesellschaft zu entfliehen.«
Pavel riß ärgerlich die Küchentür auf und stapfte zum Kühlschrank hinüber. Während er die Fächer durchwühlte, kam es ihm so vor, als würde er hören, wie das Gartentor zugeschlagen wurde und Yaels Schritte sich eilig dem Haus näherten. Schließlich entdeckte er im untersten Fach eine Dose Imperial Stout. Er nahm sie heraus und hörte im gleichen Moment Jasper rufen.
»Pavel! Komm schnell her!«
Dann drang Yaels leises Weinen an sein Ohr. Pavel ließ die Dose fallen und die Kühlschranktür offen und rannte los. Als er ins Wohnzimmer stürmte, sah er Jasper, der auf dem Boden kniete, Yael im Arm hielt und ihr tröstend den Rücken streichelte. Yael schaute hoch. Ihr hübsches Gesicht war tränenüberströmt, und rings um die Augen waren rote Striemen und beginnende Schwellungen zu sehen.
»O Yael, was ist passiert.«
»Daddy?« heulte sie und streckte die Arme nach ihm aus.
Pavel eilte zu ihr, hob sie hoch und drückte sie fest an sich. »Hast du einen Streit gehabt?«
Das Mädchen nickte und versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken.
»Du hast doch nicht als erste geschlagen, oder?«
»Nein, Daddy, ganz bestimmt nicht.«
»Ist schon gut, Kleines. Ganz ruhig jetzt.« Pavel streichelte sie sanft und küßte ihre Stirn. »Hast du irgend etwas gesagt, das du gar nicht so gemeint hast und …«
»Nein, ich weiß nicht, warum Maren mich geschlagen hat. Die Lehrer haben uns heute in verschiedene Klassen gesteckt und …«
»Wen, uns?« fragte Jasper.
»Uns Gamanten. Ich wollte gerade mit Jonas zum Zeichenunterricht gehen, da sprang Maren plötzlich hinter einem Busch hervor und schrie uns an. ’Ihr dreckigen Gamanten’ hat er gerufen, und dann hat er mich geschlagen, immer und immer wieder! Schließlich hat Jonas einen Stein aufgehoben und ihm damit aufs Ohr gehauen, und da hat er mich losgelassen.«
»Guter Junge, dieser Jonas«, knurrte der Großvater. Sein faltiges Gesicht hatte den wachsamen Ausdruck eines Wolfs auf der Jagd angenommen.
Pavel warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Praktisch ihr ganzes Leben lang hatte er Yael beigebracht, daß Gewalt nie zu etwas Gutem führte, sondern die Probleme stets nur vergrößerte. »Yael«, flüsterte er liebevoll und blickte ihr in die Augen, »wenn Maren so etwa noch einmal macht, dann bedeckst du einfach deinen Kopf mit den Händen und sagst ihm, daß es dir leid tut – selbst wenn du überhaupt nichts getan hast. Dann wird er aufhören, dich zu schlagen.«
»Okay, Dad«, murmelte das Mädchen und vergrub ihr Gesicht in seinem Hemd.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Pavel, daß Jasper vor unterdrückter Wut fast kochte, tat aber so, als hätte er nichts bemerkt.
»Ich hab dich lieb, Kleines. Ist es jetzt besser?«
Yael holte tief Luft, hob den Kopf und lächelte schwach. »Ein bißchen.«
»Gut. Am besten gehst du jetzt und wäschst dir das Gesicht mit kaltem Wasser. Und auf dem Rückweg darfst du dir eins von den Plätzchen nehmen, die auf der Anrichte in der Küche liegen.«
»Eins von Tante Sekans Plätzchen?«
»Ja, sie hat sie heute morgen vorbeigebracht.«
»Was für eine Sorte?«
Pavel lächelte über ihren begeisterten Gesichtsausdruck und ließ sie auf den Boden hinunter. »Geh und schau selbst nach.«
Sie lächelte strahlend und lief los. »Ich wette, es sind welche mit Erdnußbutter. Sie weiß, daß ich die am liebsten mag.«
»Ich glaube, da hast du recht«, erwiderte Pavel lachend.
Kaum war Yael in Richtung Badezimmer verschwunden, packte Jasper Pavels Schulter und zog ihn zu sich herum. Dem alten Mann war die Zornesröte ins Gesicht gestiegen.
»Du dummer Einfaltspinsel!« rief er. »Willst du, daß sie umgebracht wird?«
»Nein, ich will, daß ihr nichts passiert. Aus Kämpfen erwächst nichts Gutes, so etwas führt nur …«
»Um Himmels willen, du bringst ihr bei, sich wie ein Mäuschen zu verhalten! Sie soll sich wohl beizeiten daran gewöhnen, immer das Opfer zu sein, was? Vielleicht soll sie sogar Gefallen daran finden, wie?«
Pavels Herz raste. Er erwiderte Jaspers wütenden Blick mit gleicher Intensität. »Vielleicht ist es aber auch besser, ein Opfer zu sein, statt tot.«
Jasper richtete sich zu voller Größe auf, spannte die Muskeln an und reckte das Kinn kampfeslustig vor. Die beiden Männer starrten sich geraume Zeit schweigend an.
»Dieser Maren, das ist ein Magistraten-Bengel, stimmt’s?«
Pavel verzog das Gesicht. »Was macht das für einen Unterschied?«
Sie hörten Yaels Schritte in der Küche. Dann ertönte das Scharren der Plätzchenschüssel, die über die Anrichte gezogen wurde, gefolgt vom einem leisen, begeisterten Glucksen.
Jasper rückte dichter an Pavel heran und zischte: »Lehre sie, zu kämpfen. Und bring ihr vor allem bei, wie man überlebt. Die Menschen, die sie umbringen wollen, werden ihr Vorhaben nicht aufgeben, nur weil sie sich zu Boden wirft und ihren Kopf schützt.«
»Du hast nie versucht, mich oder meine Ansichten zu verstehen! Ich gehe nun mal einen anderen Weg als du!«
»Du wirst mir gehorchen, mein Junge!« Jasper stieß Pavel ärgerlich den Finger gegen die Brust. »Nur weil jemand ›es tut mir leid‹ ruft, wird kein Mörder sein Gewehr senken. Was glaubst du denn, warum sie die gamantischen Kinder von den Magistratenbälgern trennen? Darüber solltest du lieber mal nachdenken!«
Jasper wandte sich ab, stapfte quer durch den Raum, riß die Haustür weit auf und ließ sie hinter sich ins Schloß knallen. Der Wind zerrte an den Ärmeln seiner Robe, als er den Weg entlangeilte.
Obwohl er es eigentlich gar nicht wollte, rannte Pavel zur Tür, riß sie auf und rief: »Die Magistraten sind keine Mörder!«
»Bah!« brüllte Jasper zurück, während er auf die Straße einbog.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite verließ soeben Lieutenant Warick das Haus der Richmonds. Seine purpurne Uniform war frisch gebügelt und gestärkt.
Pavel hob grüßend eine Hand – und erbleichte, als der Mann ihn höhnisch anblickte.
Jeremiel schritt zielstrebig in Richtung Aufzug. In seiner Begleitung befanden sich zehn Wachen. »Brücke«, befahl er mit angespannter Stimme.
Wie viele Funksprüche hatte die Hoyer in den vergangenen vier Tagen erhalten und nicht beantwortet? War bereits ein Dutzend Kreuzer unterwegs, um nachzuprüfen, was hier vor sich ging?
Insgeheim verfluchte er sich selbst. Er war zu beschäftigt gewesen, um an die Möglichkeit zu denken, daß simple Sabotage all seine überstürzt ausgearbeiteten Pläne zunichte machen konnte. Und die unerfahrenen Gamanten, die sich um die Kommunikationseinrichtungen kümmerten, waren nicht ausreichend mit den Möglichkeiten der Geräte vertraut. Natürlich war ihnen nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Er selbst war der einzige, der hätte merken können, daß die Fernübertragung lahmgelegt und die automatischen Warnschaltungen außer Betrieb gesetzt worden waren. Wer immer diese Sabotage verübt hatte – er hatte darauf vertraut, daß Jeremiel sich in erster Linie um Horeb und die Flüchtlinge kümmern würde – und damit hatte sie völlig recht gehabt. Wie hatte Rachel das wissen können? Ihre Bemerkungen über den Traum beunruhigten ihn. Sobald er die Zeit dazu fand, würden sie sich sehr ausgiebig darüber unterhalten müssen.
Der Aufzug stoppte und Janowitz trat als erster hinaus. Er ging zu den vier gamantischen Wachen hinüber, die routinemäßig auf der Brücke Dienst taten, sprach sich mit ihnen ab und wies dann die zehn Männer seines Eliteteams an, die Brückenbesetzung der Hoyer gründlich zu durchsuchen, was ihm ein paar deftige Flüche seitens der Frauen einbrachte.
Jeremiel hatte angeordnet, daß sich jeweils fünf Mitglieder der Stammbesatzung auf der Brücke aufhalten und dort ihre Plätze vor den abgeschalteten Konsolen einnehmen mußten – falls sich Palaia meldete, sollten vertraute Gesichter auf dem Schirm zu sehen sein.
Jeremiel trat vor und bedachte Halloway mit einem mörderischen Blick. Die rothaarige Frau hockte erschöpft auf dem Kommandosessel. Ihre Wangen schienen noch eingefallener zu sein, und die Knochen standen scharf hervor.
»Was wollen Sie, Baruch?«
Jeremiel warf Janowitz, der noch mit der Überprüfung beschäftigt war, einen kurzen Blick zu und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf den Frontschirm. Die Bildübertragung war abgeschaltet, und die graue Fläche wirkte wie eine große, verschlossene Tür. Wollte Halloway ihren Leuten den Anblick der im All treibenden Leichen ersparen, wenn das Schiff in regelmäßigen Abständen jene Stelle passierte, an der er die Schleusentore geöffnet hatte? Vermutlich.
»Sie sind alle sauber, Jeremiel«, verkündete Janowitz. Dann wies er sein Team an, entlang der Brückenwände Aufstellung zu nehmen. Die Männer hielten ihre Waffen schußbereit und betrachteten das Geschehen im Raum aufmerksam.
Baruch ging langsam zu Halloway hinüber und blickte auf sie hinab. »Ich wollte Sie davon in Kenntnis setzen, daß ich die Langstreckenverbindung wieder angeschlossen habe. Außerdem habe ich dafür gesorgt, daß auch die untergeordneten Brückenfunktionen abgeschaltet wurden.«
Halloways Muskeln spannten sich kaum merklich an. »Ich hätte gedacht, Sie würden eher darauf kommen. Werden Sie auf Ihre alten Tage nachlässig?«
Baruch lächelte freundlich. »Gehen wir hinüber in den Konferenzraum und unterhalten wir uns.«
Als Halloway sich erhob, taumelte sie und packte nach der Rückenlehne des Sitzes. Unwillkürlich ergriff Jeremiel ihren Arm, um sie zu stützen. Sie blickte auf seine Hand, machte aber keine Anstalten, sie abzuschütteln. Langsam schaute sie auf und sah in seine Augen. Ihr Blick wirkte auf merkwürdige Weise verwundbar, so, als ob ihre Seele offen vor ihm läge. Jeremiel fühlte sich auf sonderbare Weise davon berührt. Er ließ ihren Arm los und deutete zum Konferenzzimmer hinüber. Halloway ging voran.
Sie betraten den runden, etwa dreißig Fuß durchmessenden Raum. In der Mitte stand ein ovaler Tisch, der von fünfzehn Stühlen umgeben war. An den Wänden hingen Holos exotischer Landschaften. Auf den meisten waren majestätische Bergpanoramen zu sehen, einige zeigten aber auch unheimliche, vom Wind gezeichnete Felsformationen.
Jeremiel rückte Halloway einen Stuhl zurecht. »Setzen Sie sich.«
Ohne ihm zu danken, nahm sie Platz und lehnte sich müde gegen das hohe Rückenteil.
Jeremiel verschränkte die Arme vor der Brust und ging im Zimmer auf und ab. Halloway legte die ineinander verkrampften Hände in den Schoß. In dieser Haltung wirkte sie sehr zerbrechlich, beinahe schon kindlich.
»Müde?« fragte Jeremiel.
»Wie kommen Sie auf die Idee?«
»Sie sind nicht so haßerfüllt wie sonst.«
»Meine Güte, versprühen Sie heute wieder Charme.«
Jeremiel ging um den Tisch herum, ließ sich neben ihr nieder und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Sie warf ihm einen müden Blick zu. Ihre purpurne Uniform wies Falten an Stellen auf, wo sie eigentlich nicht vorgesehen waren. Hatte sie in der Uniform geschlafen, während sie im Kommandosessel saß? Jeremiel wußte nur zu gut, wie das war.
»Hören Sie auf, gegen mich zu arbeiten. Dann haben Sie auch mehr Zeit zum Schlafen.«
Halloway zog die Augenbrauen hoch. »Warum bitten Sie mich nicht gleich, mich in eine Kröte zu verwandeln?«
»Was meinen Sie, was ich mit Ihnen machen sollte? Sicher ist Ihnen klar, daß ich eine derartige Sabotage nicht ungestraft lassen kann. Schon allein ihrer Mannschaft wegen wäre das unmöglich. Die Leute könnten ja glauben, ich würde Verrat einfach hinnehmen.«
»Was machen Sie denn üblicherweise?«
»Üblicherweise bringe ich den Verantwortlichen um.«
»Nun … dann würde ich zumindest etwas Ruhe finden.«
Halloway sagte das so gleichmütig, daß Jeremiel sich unwillkürlich zurücklehnte. »Warum sprechen wir jetzt nicht einfach darüber, auf was für Probleme ich bei der Schiffsführung noch stoßen könnte? Auf diese Weise würden wir beide eher Schlaf finden.«
Halloway lächelte schwach. »Fahren Sie zur Hölle.«
»Offenbar haben wir da ein Kommunikationsproblem. Ich möchte Sie eigentlich nicht hinrichten.«
Sie spielte unsicher und nervös mit ihren Fingern.
»Halloway, lassen Sie uns vernünftig reden. Ich kann nicht …«
»Ich auch nicht! Wir spielen beide mit sehr hohem Einsatz, Baruch. Sie kämpfen für Ihr Volk. Und ich für meins. Es gilt alles oder nichts. Das wissen Sie auch.«
Jeremiel schüttelte verwirrt den Kopf. »Nein, keineswegs. Wir haben einen Handel abgeschlossen. Sie haben erklärt, Sie würden meinen Anordnungen Folge leisten. Und ich habe versprochen, Sie und Ihre Mannschaft sicher auf dem nächsten gamantischen Planeten abzusetzen. Und genau das habe ich auch vor. Sie selbst machen alles schwerer, als nötig wäre. Halten Sie einfach noch eine Woche still, dann sind Sie auf irgendeinem Planeten und können die Magistraten anfunken, damit sie einen Kreuzer schicken, der Sie aufnimmt. Heil, gesund – und lebendig!«
»Tahn hat recht. Ich habe Sie völlig überschätzt.«
Jeremiel schüttelte den Kopf. »Was soll das bedeuten?«
»Es bedeutet, daß Sie offenbar die magistratische Geschichte nicht besonders gut kennen. Und jetzt bringen Sie mich entweder um, oder lassen Sie mich zurück auf die Brücke.«
Jeremiel runzelte die Stirn. Geschichte interessierte ihn nur insofern, als sie die technologischen Entwicklungen der Magistraten betraf. Er hatte jahrelang nach einem Weg gesucht, Palaia Station zu zerstören. Für einen Moment überlegte er, ob er ihr das sagen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Allerdings hätte ihn brennend interessiert, was ihr solche Angst einjagte. Magistratische Geschichte? Er ging im Geist die Fakten durch, die er kannte, und die in erster Linie besonders wichtige Ereignisse betrafen. Offenbar bemerkte Halloway, was in ihm vorging, denn ihr Gesichtsausdruck änderte sich, und sie schluckte schwer, als hätte sie Bedenken, schon zuviel gesagt zu haben. Zuviel worüber? Er hatte ihr gesagt, sie würde ungeschoren davonkommen, und sie hatte geantwortet, er sei dumm …
Der Annum-Zwischenfall?
»O Gott«, murmelte er und rieb sich die Stirn. »Sie glauben, Sie müssen Ihr Schiff zurückerobern, wenn Sie Ihre geistige Unversehrtheit erhalten wollen.«
Halloways Augen glitzerten, doch sie sagte nichts.
»Sie denken an den Annum-Zwischenfall, nicht wahr?« fragte Jeremiel.
»Wieso wissen Sie davon?«
»Nun, man könnte sagen, Tahn ist eine Art Hobby von mir. Es ist ganz hilfreich, die persönliche Geschichte eines Menschen zu kennen. Sie gibt einem Anhaltspunkte dafür, wie jemand denkt. Nun gut, es geht also um alles oder nichts. Wenigstens wissen wir jetzt, wo wir stehen.«
Jeremiel strich sich nachdenklich über die Lippen. »Tut mir leid. Ich verstehe, was Sie empfinden. Schon seit Jahrzehnten schicken die Magistraten gamantische Kinder in ihre Rechtsschulen, um ihren Verstand auf ähnliche Weise zurechtzubiegen, wie das mit der Mannschaft der Annum geschehen ist. Oh, natürlich achten sie darauf, die Gehirne der Kinder nicht ähnlich stark zu schädigen, aber wir haben auf diese Weise ganze Generationen brillanter Denker verloren. Innerhalb der Gesellschaft können sie nur noch untergeordnete Positionen einnehmen. Wenn Gamanten betroffen sind, bezeichnen die Magistraten diesen Vorgang als ›Eliminierung schädlicher Faktoren‹. Was meinen Sie, wie man das in Ihrem Fall nennen wird? ›Sicherheitsmaßnahmen im Interesse der Galaxis‹?«
Angespannte Stille senkte sich über den Raum. Jeremiel zupfte nervös am Ärmel seines Hemdes. Er war mit sich selbst uneins. Wieso saß er hier und empfand Mitleid für eine Frau, die an der Ermordung so vieler unschuldiger Gamanten mitgewirkt hatte? Doch er empfand dieses Mitleid – und er konnte ihre Verzweiflung durchaus nachvollziehen. Es mußte für sie die Hölle bedeuten, darüber nachzudenken, was die Zukunft für sie bereit hielt. Und ganz genauso erging es ihm selbst. Das war der Grund, weshalb er Mitgefühl für sie empfand, auch wenn sein Verstand dagegen rebellierte und ihm riet, jeden magistratischen Soldaten an Bord zu töten. Dann würde er nachts wenigstens nicht mehr wachliegen müssen bei dem Gedanken, was sie wohl aushecken mochten, um ihn oder seine Leute zu ermorden. Doch andererseits war er gewiß nicht in der Lage, die Flüchtlinge ganz allein auszubilden und zugleich für ihre Sicherheit zu sorgen. Und Ausbildung brauchten sie, sehr dringend sogar. Er konnte sich mit diesem Schiff nicht auf einen Kampf einlassen, solange nicht wenigstens eine Mannschaft mit gewissen Grundkenntnissen bereitstand.
Halloway beugte sich vor, und Jeremiel betrachtete die Schönheit ihres Haars, die zarten Gesichtszüge und die feinen Sommersprossen auf ihrer Nase. Dabei war ihm durchaus bewußt, daß sie ihn prüfend anschaute und in seinem Gesicht nach etwas suchte, wovon er sich keine Vorstellung machte.
»Tja«, sagte Halloway schließlich, »der berühmte Jeremiel Baruch ist also tatsächlich ein menschliches Wesen. Ich hatte mich das schon oft gefragt.«
»Und wie kommen Sie zu dieser Ansicht?«
»Sie sehen wie eine verdammte Seele aus, die an einem seidenen Faden über den Gruben der Finsternis hängt. Bei dem Gedanken geht es mir gleich besser.«
»Fühlen Sie sich nur nicht zu wohl. Noch bin ich nicht hinabgestürzt.«
»Das ist nur eine Frage der Zeit, Baruch.« Halloway stützte sich müde mit einer Hand auf den Tisch und stand auf. »Darf ich jetzt wieder zu meinen Pflichten zurückkehren?«
Jeremiel biß die Zähne zusammen. Sollte er sie gehen lassen? Einerseits hatte sie unschätzbare Arbeit geleistet, als sie ihre Mannschaft in dieser Situation einsatzfähig hielt. Doch andererseits stand sie Dank ihrer genauen Kenntnisse des Schiffs automatisch an der Spitze seiner gefährlichsten Gegner.
»Nein, ich glaube nicht.«
Sie blickte überrascht auf. »Warum nicht? Wenn Sie tatsächlich die untergeordneten Funktionen abgeschaltet haben, gibt es nichts mehr, was ich von der Brücke aus gegen Sie unternehmen könnte.«
»Das ist zwar richtig, aber im Maschinenraum könnten Sie mir helfen. Außerdem kann ich Sie dann besser im Auge behalten. Insbesondere, nachdem wir gerade geklärt haben, daß unser Handel nicht mehr gilt.«
Jeremiel nahm ihren Arm und führte sie in Richtung Tür.
Rudy Kopal wanderte auf der Brücke der Zilpah auf und ab. Sein schwarzer Kampfanzug raschelte bei jeder Bewegung. Schweiß verklebte sein braunes Haar und rann ihm stechend in die Augen. Sein Blick wanderte über die Brücke. Zehn Menschen arbeiteten hier an den Kontrollkonsolen, die in Nischen längs der Wände untergebracht waren. Über ihm gaben zweiundzwanzig Bildschirme Informationen in unterschiedlichen Farben wieder. In den letzten zehn Stunden hatte er seine Mannschaft so oft angebrüllt, daß mittlerweile niemand mehr aufzuschauen wagte und alle so taten, als wären sie intensiv mit ihren Kontrollen beschäftigt.
Verdammt, Jeremiel. Ich habe dich gewarnt. Ich habe dir gesagt, nicht nach Horeb zu gehen.
Er biß die Zähne so fest zusammen, daß seine Kiefernmuskeln schmerzten. »Merle?« sagte er. Die unausgesprochene Frage hing wie eine Drohung im Raum.
Die kleine Frau drehte sich auf ihrem Sitz um. Sie hatte ein rundes Gesicht mit einer hervorstechenden Nase und langes, rabenschwarzes Haar, das über ihre Schultern herabfiel. In ihren dunklen Augen spiegelte sich die gleiche Furcht, die auch ihn bewegte.
»Noch nichts Neues, Rudy. Die letzte Botschaft von der Hoyer an Palaia besagte lediglich, man hätte eine Vereinbarung mit einem Ratsherrn namens Ornias getroffen, bei der es um fünf Milliarden geht. Die Nachricht wurde vor vier Tagen rausgeschickt.«
Rudy warf einen Blick auf den Frontschirm. »Wissen wir, wo sich die Hoyer im Moment befindet?«
»Wir vermuten, daß sie noch immer Horeb umkreist. Eine Bestätigung haben wir allerdings nicht erhalten.«
Kopal trat näher an den Schirm und betrachtete den sternenübersäten Himmel. Sie hielten ihre derzeitige Position schon seit Stunden, während sie auf neue Informationen warteten. »Wie lange brauchen wir, wenn wir mit Höchstgeschwindigkeit dorthin fliegen?«
Merles Lippen preßten sich zusammen. Sie senkte den Blick. »Rudy, selbst wenn …«
»Wie lange!«
Auf der Brücke herrschte tödliche Stille. Niemand wagte auch nur einen Muskel zu rühren. Trotzdem schien es, als würden sich alle ducken.
Merle erhob sich von der Navigationskonsole und ging zu Kopal hinüber. Ihr Kopf reichte kaum bis zu seiner Schulter. »Gehen wir irgendwo hin, wo wir reden können.«
Zögernd drehte Rudy sich um und ging steif zum Aufzug. Merle folgte ihm und drückte auf den Knopf für Deck zwölf. Sie schwiegen während der Fahrt. Als der Aufzug stoppte, ging Merle voraus und schlug den Weg zur Beobachtungskuppel ein.
Rudy folgte ihr. Beide betraten den Raum und warteten, bis die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte. Die etwa zwanzig Fuß durchmessende Kuppel war durchsichtig. Längs der Wände standen mit blauem Stoff bezogene Bänke. Die schwache Beleuchtung verbreitete nicht mehr Licht als der Vollmond. Jenseits der Kuppel strahlten die fernen Galaxien so hell, daß man den Eindruck hatte, man müsse lediglich die Hand ausstrecken, um eine Handvoll Sterne einzusammeln.
Und irgendwo dort draußen steckte Jeremiel in einem tiefen, dunklen Abgrund voller Probleme.
Nachdem sie mehrere Minuten lang einfach nur dagestanden und die Sterne betrachtet hatten, seufzte Merle und ließ sich auf einer der Bänke nieder.
Sie fuhr sich mit der Hand durch das schwarze Haar und meinte: »Du hast dich ziemlich festgefahren, Rudy.«
Kopal verschränkte die Arme und richtete den Blick auf Crowheart Z-1, einen Neutronenstern von majestätischer Pracht. Er kam ihm vor wie der einzige helle Punkt in einer ansonsten von Verzweiflung verdunkelten Galaxis. »Was, zum Teufel, sollen wir denn tun, Merle? Ihn einfach dort zurücklassen? Du weißt doch, was sie ihm antun werden.«
»Natürlich weiß ich das.«
»Ich werde das nicht zulassen. Ginge es um einen von uns, wäre er schon längst mit der ganzen Flotte herbeigeeilt, um uns rauszuhauen.«
»Ich weiß, aber …«
»Du hast doch selbst schon genug von dieser Neuro-Labors zerstört. Willst du, daß Jeremiel diesen Geräten ausgeliefert wird? Ich könnte meinen eigenen Anblick im Spiegel nicht mehr ertragen, wenn ich nicht alles versucht hätte, um ihn aus Tahns Händen zu befreien.«
Als er an Tahn dachte, fuhr er unwillkürlich herum und schlug mit der Faust gegen die Scheibe. Ein dumpfer Laut ertönte. Rudy ballte die Fäuste und kämpfte um seine Selbstkontrolle.
Merles leise Stimme drang durch seinen Gefühlsaufruhr. »Ich liebe ihn auch, Rudy, aber wir müssen die Dinge objektiv betrachten. Erstens: Wahrscheinlich befindet sich Jeremiel wirklich in Tahns Händen. Und wenn das so ist, bleiben ihm zwei Möglichkeiten: Er kann kämpfen oder Selbstmord begehen. Du weißt so gut wie ich, daß er alles tun wird, um einer Behandlung durch die Gehirnsonden zu entgehen, weil er sonst zu viele wichtige Informationen über die Untergrundbewegung preisgeben würde. Zweitens: Wir stehen dicht davor, etwas zu tun, was die gesamte Bewegung gefährden könnte. Wenn wir die Hälfte unserer Flotte hier zurücklassen, um die Rettungsoperationen auf Abulafia und Ahiqar zu beenden, verringern wir dadurch unsere Feuerkraft in gefährlichem Ausmaß. Und die könnten wir in den kommenden Monaten noch sehr dringend benötigen. Weil es nämlich nach den Informationsfetzen, die wir aufgeschnappt haben, ganz so aussieht, als hätten die Magistraten bereits ein Genozidprogramm auf Tikkun gestartet. Was …«
»Das wissen wir nicht genau«, rief Rudy wütend. »Alles, was wir haben, sind ein paar Nachrichtenfetzen, in denen von ›Sterilisation‹ und ›Umsiedlung‹ die Rede ist. Wir können nicht sicher sein …«
»Sei kein Narr«, brüllte Merle zurück und erhob sich mit blitzenden Augen. »Willst du das Risiko wirklich eingehen? Willst du das? Tikkun ist der bevölkerungsreichste gamantische Planet, den es in der Galaxis noch gibt. Eine Viertelmillion Menschen unseres Volkes lebt dort!«
»Merle, wir können die Flotte nicht teilen! Das ist viel zu riskant, verdammt nochmal! Und wir können auch nicht …«
»Was passiert, wenn die Magistraten ein Sterilisationsprogramm auf Tikkun einleiten? Was wird aus der gamantischen Zivilisation, wenn sich fünfundzwanzig Prozent des Volkes nicht mehr fortpflanzen können?« Erregt ballte sie die Fäuste. »Wenn sie damit Erfolg haben, dann war Tikkun lediglich der Anfang.«
»Betreib hier keine Schwarzmalerei.«
»Schwarzmalerei würde ich das nicht nennen, sondern eher eine begründete Voraussage. Ich vertraue eben auf die Magistraten. Wenn sie erklären, sie wollten alle gamantischen Probleme lösen, dann meinen sie das auch so.«
»Du vertraust Slothen? Als nächstes wirst du ihn dann wohl noch als Zaddik anerkennen, so wie der Rest der Galaxis.«
Merle packte Rudys Ärmel und zerrte ihn zu sich herum. »Wann hat er denn je ein Versprechen gebrochen? Als er erklärte, er würde die gamantischen Raubzüge beenden, haben wir den Planeten Jumes verloren. Und als er sagte, die gamantischen Agitatoren würden zum Schweigen gebracht, wurden Pitbon und Kayan vernichtet. Er hält seine Versprechen.«
Rudy ließ die Arme kraftlos herabsinken, trat zur Kuppelwand und blickte in die kalte Schwärze des Alls hinaus. Das sanfte Glühen Hunderter von Galaxien kaschierte die Dunkelheit. In der Ferne konnte er den wie Zinn schimmernden Fleck erkennen, der den Orion-Arm der Milchstraße kennzeichnete. Sein Volk hatte einen sehr langen Weg zurückgelegt, um der Verfolgung zu entkommen, doch sie schien ihnen zu folgen, wohin sie sich auch wandten. Plötzlich schien es ihm, als hätte er eine Bewegung wahrgenommen – eine Art Schatten, der an der Wand entlanghuschte. Er drehte sich um und starrte verwirrt darauf.
»Und vielleicht«, erklärte Merle, »vielleicht hat Jeremiel ja die Hoyer in seinen Besitz gebracht.«
Rudy schüttelte den Kopf. »Operation Abba war kein guter Plan. Ich habe nie geglaubt, daß so etwas funktionieren könnte.«
»Das hast du aber immer gesagt.«
»Dann habe ich eben gelogen.«
Merle betrachtete ihn abschätzend. »Aber es hätte klappen können.«
»Ja, wenn er dich und mich zur Unterstützung gehabt hätte.«
»Vielleicht hat er jemanden gefunden, der ebensogut ist.«
Der Schatten schien an seinem Platz festgefroren zu sein. Rudy betrachtete ihn stirnrunzelnd und fragte sich, welcher Gegenstand in diesem Raum einen so sonderbaren, an ein Tier erinnernden Umriß werfen mochte. »Das wäre möglich. Aber wenn es so ist, weshalb hat er uns dann nicht angefunkt? Und selbst wenn er die Kontrolle über die Hoyer besitzen sollte und nur die Funkanlage streikt, wird es ihm verdammt schwerfallen, das Schiff zu halten. Tahn ist schließlich kein Narr. Er weiß ganz genau, welche Hebel er ziehen muß, damit Jeremiel alles um die Ohren fliegt.«
»Aber uns bleibt keine Wahl, Rudy. Jeremiels Leben ist im Moment zweitrangig.« Merles Stimme zitterte. »Die Überlebenden aufzusammeln und Tikkun zu schützen, sind unsere vorrangigsten Aufgaben.«
Ihre Blicke trafen sich, und sie teilten einen Moment stiller Verzweiflung. Es kam Rudy so vor, als höre er irgendwo tief in seinem Geist eine leise Stimme, die ihn in eine bestimmte Richtung drängen wollte. »Nein. Wir können die Flotte nicht aufteilen.«
»Um Gottes willen, Kopal!« Merle warf die Arme hoch. »Was muß ich denn noch alles tun, bis es endlich in deinen Dickschädel gedrungen ist …«
Sie sprach weiter, doch Rudys Verstand hatte sich abgeschottet. Die Stimme in seinem Kopf wurde lauter und drängender. Schließlich wurde sie so stark, daß er den Kopf schüttelte, um sie loszuwerden. »Halt Merle, halt. Ich habe meine Meinung geändert. Du hast recht. Lieber Gott, ich kann den Gedanken kaum ertragen, aber wir müssen Kontakt zu Martin Qaf aufnehmen.«
»Soll das heißen, ich kann Kurs auf Tikkun nehmen?«
Rudy trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Er war immer noch nicht bereit, die Worte auszusprechen, die Jeremiel möglicherweise zu einem Schicksal verurteilten, das schlimmer war als der Tod. Schließlich zwang er sich zu einem Nicken.
Merle stieß erleichtert den Atem aus, legte einen Arm um Rudy und zog ihn in eine freundschaftliche Umarmung. »Ich weiß, daß es schwer ist. Aber wenn Jeremiel jetzt hier wäre, würde er genau den gleichen Befehl geben.«
Rudy zog Merle fester an sich und beobachtete dabei den Schatten, der unbeweglich in der Ecke hing. Er empfand ein unheimliches Gefühl – so als würde der Schatten ihn beobachten. »Wenn du Martin erreichst, dann sag ihm, daß er für Operation Abulafia verantwortlich ist. Erklär ihm, daß wir unterwegs nach Tikkun sind, so daß ihm nur sieben Kreuzer bleiben, um ihm den Rücken zu decken.«
»Wird gemacht.«
»Er muß die Evakuierung der Flüchtlinge so schnell wie möglich durchführen, wenn er hier noch lebend herauskommen will.«
Merle nickte düster. »Ich werde ihn daran erinnern – obwohl das sicher nicht nötig ist.«
Abruzzi fuhr sich durch das wollige graue Haar und stützte sich dann auf die Rückenlehne von Tenon Lamonts Sitz. Die Frau blickte zu ihm hoch. Ihr hübsches, orientalisches Gesicht hatte sich mißbilligend verzogen. Rings um sie schüttelten die Brückenoffiziere ungläubig den Kopf.
»Das ist lächerlich, Captain«, flüsterte Tenon wütend. »Tahn braucht ganz offensichtlich Hilfe.«
»Dessen bin ich mir durchaus bewußt.« Abruzzi warf einen Blick auf die Botschaft der Geheimstufe eins, die den Frontschirm ausfüllte.
Grüße, Captain Abruzzi.
Unternehmen Sie keinen Versuch, in die Vorgänge auf der Hoyer einzugreifen. Beobachten Sie weiter, und halten Sie uns auf dem laufenden. Wir haben vor kurzem einen Schlag gegen die Untergrundflotte eingeleitet und können uns zu diesem Zeitpunkt keine Komplikationen leisten.
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Magistrat Slothen
Tenon drehte sich um und warf Abruzzi einen wütenden Blick zu. »Wir können nicht einfach hier herumsitzen und zuschauen, wenn wir genau wissen, daß die Hoyer in Schwierigkeiten steckt.«
Abruzzi stemmte die Fäuste in die Hüften. »So lauten aber unsere Befehle. Ich fürchte, uns bleibt keine Wahl.«
»Ach, zum Teufel damit! Wir haben Slothen von dem abgebrochenen Angriff und den mit Flüchtlingen überfüllten Shuttles berichtet. Welche Komplikationen könnten wir denn schon verursachen, wenn wir Tahn retten!«
»Slothen weiß mehr über die galaktische Lage als wir, Lieutenant. Vielleicht fürchtet er, Baruch könnte noch rechtzeitig eine Nachricht hinausschicken, die seine Flotte herbeiruft und …« Abruzzi hob unsicher eine Hand, »… und dann könnte er der Falle entkommen, die Slothen ihm gestellt hat.«
Abruzzi ging zur oberen Ebene des Kommandoraums und ließ sich in seinen Sessel sinken. Nervös überprüfte er die dreiundsechzig Monitore, die die Wände der Brücke bedeckten. Alles an Bord der Scipio wirkte wie immer – nur die Offiziere nicht. Ihre Gesichter sahen besorgt aus, als sie ihn abwartend anschauten. Er verstand ihre Gefühle – auch ihm kam es so vor, als würde er mit jedem Moment, den er zögerte, die Hoyer zu retten, Tahn ein Messer in den Rücken stoßen.
Abruzzi stieß den Atem aus. »Bitte überwachen Sie weiterhin die Aktivitäten der Hoyer. Wir müssen bereit sein, jederzeit zuzuschlagen.«