KAPITEL
2
Auf Horeb ging der dritte Mond über den zerklüfteten Bergspitzen auf und erfüllte die Sandebenen mit silbernem Licht. Jeremiel Baruch zerrte an den Handschellen, die seine Hände auf den Rücken fesselten, und blickte zum düsteren Himmel empor. Das Shuttle der Hoyer schoß wie eine tödliche Lanze heran. Wieviel Zeit blieb ihm? Zwei Minuten? Drei?
Zorn brannte in seinem Innern. Ornias hatte in dem Kampf, der gleich nach Jeremiels Gespräch mit Tahn entbrannt war, entkommen können. Die Gefolgsleute des Ratsherrn waren bis auf den letzten Mann gestorben, um ihm Deckung zu geben, während Ornias durch das Labyrinth geheimer Gänge flüchtete, das den Fels unterhalb des Palastes durchzog. Mein Fehler. Ich hätte ihn in dem Moment erschießen sollen, als ich eine Pistole in die Finger bekam.
Baruch trat von einem Fuß auf den anderen, während er das Shuttle beobachtete. Rings um ihn erhoben sich dunkel die Ruinen ausgebrannter Häuser. Menschen hasteten durch die raucherfüllten, vom Krieg gezeichneten Straßen und hielten Knüppel oder Gewehre umklammert. Irgendwo weinte ein Baby. In der Ferne blitzten Schüsse auf – der Krieg ging in der Wüste mit unverminderter Heftigkeit weiter.
Er holte tief Luft und schaute zu, wie das Schiff den Raumhafen umkreiste. »Gesegneter Epagael«, betete er leise. »Nur noch ein einziges Mal. Laß das hier gutgehen und ich schwöre, ich werde wieder gläubig.« Operation Abba war ein Plan, der noch nie durchgeführt worden war – ein im Grunde verrückter Plan, nur gedacht für verzweifelte Situationen wie jene, der er sich jetzt gegenüber sah.
Es kam ihm so vor, als würden sich hinter ihm die Geister der Vorfahren versammeln. Menschen, die ihr Leben lang gegen arrogante Eroberer gekämpft hatten. Menschen, die vom Rad des Schicksals zu Boden geworfen worden waren und sich geweigert hatten, liegenzubleiben. Ihre Stimmen schienen im Wind zu flüstern und ihm Mut zuzusprechen.
»Harper?« rief er den großen schwarzen Wächter an, der hinter ihm stand. Harper schritt vorwärts und zielte dabei mit dem Gewehr auf Jeremiels Bauch. Baruch schaute darauf hinunter und meinte mit einem schwachen Lächeln: »Sind Sie sicher, daß Sie es sich nicht doch noch überlegen wollen?«
Harper schüttelte energisch den Kopf und warf einen Blick auf das Shuttle. »Dafür ist es zu spät. Janowitz? Uriah?« wandte er sich an die anderen Wachen. »Macht euch bereit.«
Das Shuttle landete in einer Wolke aus Staub und heißer Luft. Jeremiel senkte den Kopf. Drei magistratische Wachen in purpurnen und grauen Uniformen rannten die Laufplanke des Shuttle herab und eilten auf ihn zu. Ein anderer Mann, rothaarig und von eher schmächtiger Statur, blieb beim Eingang des Shuttle stehen und umklammerte sein Gewehr fester, als er den Aufruhr auf den Straßen sah. Dort rannten die Menschen noch immer schreiend umher und versuchten, in Schiffe zu gelangen, bevor der magistratische Angriff begann.
»Das ist er«, rief der große, dunkelhaarige Lieutenant, wobei er auf Jeremiel deutete. »Bringt ihn ins Shuttle. Und beeilt euch. Uns bleiben nur ein paar Minuten, bis der ganze Planet in Flammen aufgeht.«
Der blonde Corporal grinste boshaft. »Komm schon, Baruch. Auf dich wartet ein hübscher, kühler Laborsessel.«
»Ja«, kicherte der Lieutenant, »und den Helm mit der Gehirnsonde gibt’s gratis dazu.«
Die drei Soldaten stießen ein brüllendes Gelächter aus. Die beiden Corporals packten Jeremiels Arme, klopften ihn rauh nach Waffen ab und zerrten ihn zum Schiff. Harper, Uriah und Janowitz schlossen sich als Nachhut an.
Jeremiel betrat die schmale, mit blaugepolsterten Bänken ausgestattete Mannschaftskabine. Vom Eingang aus konnte er den gesamten weißverkleideten Rumpf überblicken. Vier kreisrunde Sichtfenster waren in die Hülle eingelassen. Jeremiel ging zur gegenüberliegenden Wand hinüber und wartete dort. Als Harper und seine Männer das Shuttle ebenfalls betreten wollten, streckte einer der magistratischen Soldaten den Arm aus, um ihnen den Zutritt zu versperren.
»Was, zum Teufel, habt ihr denn vor?« fragte der Sergeant.
»Wir gehen mit an Bord, Mister!« erklärte Harper. »Mein Befehl lautet, Baruch niemandem außer Captain Tahn persönlich zu übergeben!«
»Ihr traut uns wohl nicht, wenn’s um fünf Milliarden geht, was?«
»Nein!«
Jeremiel ließ seinen Blick vom einen zum anderen wandern. Der schlanke, dunkelhaarige Lieutenant stieß ärgerlich die Luft aus und fixierte Harper. »Ich bin Lieutenant Simons. Wer zum Teufel sind Sie eigentlich? Ich habe Befehl, Baruch abzuholen, und zwar nur ihn allein.«
Harpers dunkelbraunes Gesicht erstarrte zu einer Maske. »Ich bin der Vertreter des Ratsherrn Ornias, Lieutenant. Mein Name ist Harper. Der Ratsherr hat uns angewiesen, den Gefangenen zu begleiten.« Er packte vielsagend sein Gewehr fester. »Wenn Sie uns nicht mitnehmen, Lieutenant, dann bleibt Baruch auch hier.«
»Ach du lieber Himmel«, stöhnte der Lieutenant. »Na schön, warten Sie einen Moment. Ich rufe die Hoyer und hole mir Tahns Einverständnis. Wir haben keine Zeit für lange Streitereien.«
Jeremiel beobachtete mit zusammengebissenen Zähnen, wie sich Simons und sein rothaariger Co-Pilot zur Kommandokanzel begaben. Die beiden anderen Mitglieder des magistratischen Sicherheitsteams traten unruhig von einem Fuß auf den anderen und fluchten leise über die »gottverdammten Gamanten«. Die durch die geöffnete Schleuse hereindringenden Rufe und Schreie steigerten sich zu einem ohrenbetäubenden Crescendo. Schüsse hallten durch die Straßen der Stadt. Ein roter Lichtblitz erhellte das Innere des Shuttle. Beide Soldaten fuhren herum und spähten aus der Schleuse.
»Jetzt, Harper!« brüllte Jeremiel, setzte sich im gleichen Moment in Bewegung und trat einem der Soldaten gegen die Kehle. Der Mann stürzte nach hinten. Er war schon tot, bevor er den Boden berührte. Jeremiel wirbelte herum, als Simon mit gezogener Pistole in die Kabine stürmte.
Gewehrfeuer flammte auf.
Jamie Ryngold rannte den langen weißen Flur entlang. Er war von mittlerer Statur und hatte breite Schultern, blaue Augen und kurzgeschnittenes braunes Haar. Fünf andere Mitglieder des Sicherheitsteams begleiteten ihn. Ihr Ziel war der Hangar, wo sie Captain Tahn treffen würden, der das Shuttle mit dem Gefangenen von Horeb erwartete. Der berühmte Jeremiel Baruch, Führer der gamantischen Untergrundbewegung und verantwortlich für den Tod Dutzender seiner Freunde – endlich befand er sich in ihrer Gewalt. Triumphierend hob Ryngold während des Laufs die geballte Faust.
»Du siehst ja recht zufrieden aus«, keuchte Kell Gilluy, seine Freundin.
Jamie lächelte sie an. Die schlanke Frau mit dem blonden Lockenkopf trug eine enganliegende purpurne Uniform, die jeden einzelnen Muskel nachzeichnete. »Zufrieden? Das wäre stark untertrieben.« Er klopfte liebevoll auf das Medopack an seinem Gürtel. »Vielleicht hätte ich die Spritze mit einer Überdosis füllen und Baruch damit ein für allemal erledigen sollen.«
»Das wäre keine besonders gute Idee, mein Lieber. Die Magistraten möchten ihn lebend haben, damit sie sein Gehirn bis auf den letzten Informationsfetzen ausquetschen können.«
»Ja, ich weiß. Und mit Baruchs Kenntnissen sollten wir eigentlich in der Lage sein, seine verdammte Untergrundbewegung endgültig zu vernichten.« Vor seinem inneren Auge tauchten die Gesichter von einem Dutzend toter Freunde auf. Seine Kiefernmuskeln spannten sich unwillkürlich.
»Hoffentlich hat Iona diesen Mistkerl Dannon inzwischen aufgetrieben, damit wir eine positive Identifikation von Baruch erhalten. Erst wenn das geschehen ist, werde ich wirklich glauben, daß wir ihn erwischt haben.«
Sie kamen an ein paar in braune Overalls gekleideten Technikern vorbei. Das Licht aus den abgeblendeten Deckenlampen fiel wie ein Vorhang aus taubengrauer Seide über die Wände und schimmerte auf dem geriffelten Metall der Schotts. Die Leuchtziffern der überall angebrachten Chronometer gaben die aktuelle Zeit wieder.
»Verdammt«, knurrte Kell. »Tahn wird uns zusammenstauchen, weil wir zu spät kommen.«
»Meinst du, Baruch ist schon an Bord? Das glaube ich nicht. Simons ist erst vor weniger als einer Stunde losgeflogen, um ihn auf Horeb abzuholen.«
Sie verlangsamten ihr Tempo, als sie um eine Ecke bogen. Aus den Augenwinkeln bemerkte Jamie, daß Kell plötzlich innehielt. Er wandte sich zu ihr um und sah, wie sie zurückzuckte, als hätte sie gerade ein Peitschenhieb getroffen. Ihre Knie gaben nach, und sie stützte sich an der Wand ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Kell?« Er packte ihren Arm, um sie zu halten. Ihr hübsches Gesicht hatte sich voller Furcht verzerrt. »Was ist los?«
Die übrigen Mitglieder des Teams liefen weiter in Richtung des Hangars, ohne etwas von dem Vorfall zu bemerken.
»Was … was geschieht hier?« flüsterte Kell.
»Wovon redest du? Ist alles in Ordnung mit dir?«
Kell starrte die leere Wand an, als könne sie dort die Umrisse einer fremdartigen Gestalt erkennen. Jamie folgte ihrem Blick. Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn, als stünde ein unsichtbares Wesen hinter ihm und beobachte ihn.
»Ich … ich dachte, ich hätte einen Schatten gesehen, als wir um die Ecke bogen. Es … ich fühle mich nicht besonders.«
»Das glaube ich gern. Du siehst aus, als wärst du gerade fast in einen bodenlosen Abgrund gestolpert.«
Kell legte eine Hand auf ihren Magen. Die knallharte Frau, die jedes Sicherheitsteam liebend gern in seine Reihen aufgenommen hätte, zitterte wie ein Blatt im Sturm. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Jamie nahm sie sanft in die Arme und versuchte, sie aufzuheitern. »Du hast schon etwas blaß ausgesehen, als wir die Messe verließen. Ist bestimmt die Suppe gewesen – ich habe ja gleich gesagt, daß sie schmeckt wie etwas, daß man nach der letzten Party von den Schotten abgekratzt hat.«
»Nicht … Irgend etwas ist hier falsch, Jamie. Schrecklich falsch.«
Jamie schluckte schwer. »Es gefällt mir nicht, wenn du so etwas sagst. Beim letzten Mal ist Janice Cogle von diesem Routineeinsatz auf Ikez III nicht zurückgekommen.«
Er gab sich dem vertrauten Gefühl ihres Körpers in seinen Armen hin. »He, Kell, warum gehst du nicht einfach zum Lazarett und meldest dich krank? Wenn wir beim Sicherheitsdienst vorbeikommen, nehme ich dort einen Ersatzmann für dich mit.«
»Aber dann verlierst du noch mehr Zeit. Du weißt doch, wie nervös der Captain in letzter Zeit ist. Er wird dir glatt den Kopf abreißen.«
»Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich weiß, wie man mit Tahn umgehen muß. Wenn man zerknirscht genug dreinblickt, kommt man mit einem milden Tadel davon.«
Jamie küßte Kell sanft, legte dann die Hände auf ihre Hüften und drehte sie in die entgegengesetzte Richtung. »Ich liebe dich. In ein paar Stunden sehen wir uns wieder.« Er wandte sich ab und versuchte, seine Kameraden einzuholen.
Schon nach wenigen Schritten spürte Jamie, wie die Angst mit klammen Fingern nach seiner Kehle griff. Kell gehörte weiß Gott nicht zur überängstlichen Sorte, doch auf der anderen Seite galt ihre Fähigkeit, Gefahren zu erahnen, innerhalb der Flotte geradezu als legendär. Wie mit einem sechsten Sinn fühlte sie Fallen und Hinterhalte und bewahrte ihr Team auf diese Weise davor, überhaupt erst in Schwierigkeiten zu geraten. Traf das auch diesmal zu? War ihr Verhalten eine Warnung?
Jamie beschleunigte sein Tempo, bog um die Ecke und lief auf den Fahrstuhl zu. Lieutenant Sam Morcon, ein untersetzter Mann mit sandfarbenem Haar und einem harten Zug um den Mund, hielt ihm mit finsterer Miene die Tür auf.
»Wir haben uns schon gefragt, wo Sie geblieben sind, Ryngold. Weshalb diese Verzögerung? Und wo ist Gilluy?«
Jamie schlüpfte in die Kabine und drückte auf die Taste für Deck neunzehn. Ihm war klar, daß er Morcon nicht erzählen konnte, was Kell gesagt hatte. Das ganze Team würde dann so nervös werden, daß seine Einsatzbereitschaft in Mitleidenschaft gezogen würde. »Kell ist krank. Ich habe sie ins Lazarett geschickt. Wir müssen an ihrer Stelle jemand anderen ins Team nehmen.«
»Krank? Sie sah doch ganz normal aus. Was …«
»Ich weiß auch nicht. Vermutlich liegt es an dieser Käsesuppe, die sie vorhin gegessen hat. Haben Sie mitgekriegt, wie das Zeug gerochen hat? Als hätte es seit einem Monat in der Sonne gestanden.«
Der Lieutenant wirkte erleichtert. »Ja, habe ich gemerkt. Genau deshalb habe ich mich auch an das andere Ende vom Tisch gesetzt. Na schön, lassen Sie mich mal ans Kom.« Er zwängte sich zwischen Jamie und Norman Linape hindurch bis zur schwarzen Kom-Einheit und tippte die Nummer des Sicherheitsdienstes von Deck neunzehn ein.
»Sicherheit«, meldete sich eine lakonische Stimme aus dem Lautsprecher.
»Banders? Hier ist Morcon. Wir haben einen Krankheitsfall im Team. Schicken Sie sofort einen Ersatzmann zum Aufzug neunzehn-drei.«
»Aye, Lieutenant.«
Morcon trat einen Schritt zurück und lehnte sich lässig gegen die Wand. Jamie stieß lautlos den angehaltenen Atem aus und richtete seinen Blick auf die blauen Zahlen der Decksanzeige.