KAPITEL
27
Jeremiel kniff angesichts der Helligkeit in der Fahrstuhlkabine die Augen zusammen. Obwohl er den größten Teil seines Lebens unter ganz ähnlichen Lampen verbracht hatte, vermißte er nach ein paar Monaten auf Horeb den sanften Kerzenschein, der ihn an seine Jugend auf Tikkun erinnerte. Der Anblick von Slothens häßlichem Gesicht hatte vieles aus seiner Vergangenheit wieder lebendig werden lassen. Während er Slothens ausdruckloser Stimme lauschte, hatte er die Gesichter von Hunderten toter Freunde gesehen, und die rauchenden, zerstörten die Oberflächen von einem Dutzend Planeten – und jetzt sehnte er sich danach, den gleißenden Lichtern zu entkommen und wieder eine Stimme zu hören, die gamantisch mit ihm sprach.
Er warf einen Blick zu Rachel hinüber. Ruhig und gelassen stand sie an der gegenüberliegenden Kabinenwand und beobachtete aufmerksam alle Vorgänge. Sie trug eine graue magistratische Uniform, und auf ihrer Stirn zeichneten sich ein paar Schweißperlen ab. Jeremiel wünschte sich, er könnte nahe genug an sie herankommen, um ein paar Worte mit ihr zu wechseln, sie zu fragen, ob sie in letzter Zeit wieder ein paar interessante Träume gehabt hatte, doch die Fahrstuhlkabine war zu überfüllt.
Er senkte den Kopf, um das Licht der hellen Lampen zu meiden, und blickte genau in Halloways Augen. So dicht, wie sie beieinander standen, konnte er ihren Eigengeruch wahrnehmen, der ihn ein wenig an Wildblumen nach dem Regen erinnerte. Woher kannte er diesen Duft? Ihr Gesicht hatte sich zu einer Maske verhärtet, was ihn schmerzlich berührte. Hatte sie Angst, er könnte ihr wieder weh tun?
Jeremiel senkte die Stimme, damit nur sie ihn hören konnte. »Vorhin auf der Brücke … Ich war aufgeregt … Es war keine Absicht …«
»War es nicht?«
»Nein. Es tut mir leid. Ich war nur …« Jeremiel hielt inne, als er bemerkte, daß Tahn ihn unverwandt anstarrte.
»Was werden Sie tun, wenn Sie Ihre Flotte nicht auftreiben können, bevor wir nach Tikkun fliegen, Baruch?«
»Wir fliegen nicht nach Tikkun.«
Tahn lehnte sich gegen die Kabinenwand und lächelte amüsiert. »Nein? Na, kommen Sie schon. Sie wissen doch ganz genau, wenn Sie nicht wenigstens Kurs auf Tikkun nehmen, stürzen die Magistraten sich sofort auf Sie, und dann ist es um Sie und Ihre Freunde geschehen. Und zweitens …«
»In dem Fall verlieren aber auch Sie und Ihre Mannschaft das Leben, Captain.«
»Und zweitens brüten Sie selbst etwas aus. Ich kenne Sie und Ihre Art zu denken. Wenn die Regierung die Hälfte Ihrer Flotte zerstört hat und überdies auch noch noch irgendeine Aktion auf Ihrer Heimatwelt plant, dann sind Sie gar nicht in der Lage, Ihre Finger da herauszuhalten.«
Jeremiels Blick glitt zu Rachel zurück. Sie schaute ihn furchtsam an. Fünf Kreuzer, hatte sie gesagt. Lieber Gott. Er hatte sich unwohl gefühlt, seit sie zum ersten Mal davon gesprochen hatte. Aber er konnte seine strategischen Planungen nicht auf den Träumen eines anderen Menschen aufbauen. Er brauchte harte Fakten. Und doch …
Der Aufzug stoppte auf Deck vier. Jeremiel zog Halloway zu sich an die Wand. »Rachel, nehmen Sie Janowitz und Uriah und stellen Sie sicher, daß Captain Tahn in seine Kabine zurückgebracht wird. Und stellen Sie einen Posten vor die Tür, damit er auch drinnen bleibt.«
»Einen Moment, Baruch«, wandte Tahn ein und wehrte sich gegen den harten Griff der Wächter.
»Was gibt es denn?«
»Wir müssen uns über die Schiffspsychologie unterhalten. Sie wissen doch, was passiert, wenn der Kommandeur abwesend ist. Die Mannschaft dreht durch.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Lassen Sie mich auf die Brücke. Solange Sie die Kontrollen in den Maschinenraum umgeleitet haben, kann ich nichts unternehmen, aber meine Gegenwart wird sehr dazu beitragen, daß die Mannschaft Ruhe bewahrt. Und je näher wir Tikkun kommen, desto mehr wird die Nervosität zunehmen.«
Jeremiel blickte forschend in Tahns blauviolette Augen und entdeckte außer dieser Bitte noch etwas, das gut verborgen war. Aber was? Natürlich wollte Tahn wieder bei seiner Mannschaft sein. Jeder Kommandant in seiner Lage würde genauso reagieren. Trotzdem hatte Jeremiel den Eindruck, daß noch etwas anderes hinter diesem Wunsch stand.
Jeremiel schüttelte den Kopf. »Abgelehnt. Vielleicht, nachdem wir …«
»Damit schneiden Sie sich nur ins eigene Fleisch, Baruch! Solange ich bei ihnen bin, kommen meine Leute wenigstens nicht auf dumme Gedanken. Aber weiß der Himmel, was sie sich ausdenken, wenn ich nicht dort bin. Um Gottes willen, wenn Sie das hier durchziehen wollen, dann lassen Sie mich auf die Brücke! Lassen Sie mich einfach … bei meiner Mannschaft sein.«
Tahns heftiges Drängen verstärkte Jeremiels Bedenken. »Rachel, ich möchte vier Wachen vor seiner Tür haben, Sie eingeschlossen.«
»Verstanden.«
»Verdammt, Baruch!« Tahn kämpfte gegen die Hände, die ihn aus dem Aufzug zerrten.
Jeremiel drückte auf den Knopf, der die Tür schloß, und tippte dann Deck zwanzig ein, wobei er Halloway finster anblickte. »Er ist ja ziemlich hartnäckig.«
»Was haben Sie denn erwartet?«
»Ich erwarte …«
»Den Teufel tun Sie. Sie sind einfach nur grausam. Wollen Sie ihn wegen seiner Vergangenheit bestrafen? Alles, was er je getan hat, war, den Befehlen der Magistraten Folge zu leisten. Was hätten Sie denn an seiner Stelle anders gemacht?«
Halloways Augen blitzten wie gefrorene Smaragde. Jeremiel spürte einen plötzlichen Schmerz in seinem Innern aufzucken. Er antwortete nicht.
»Er hat sein Schiff verloren, Baruch. Seine Mannschaft ist alles, was ihm noch bleibt. Können Sie es ihm nicht ein bißchen leichter machen?«
»Er hat sein Schiff verloren. Ich habe gerade vielleicht fünfundzwanzigtausend Freunde verloren. Tahn besitzt immer noch sein Leben, Lieutenant. Und wenn er das behalten will, sollte er sich nicht gegen mich stellen.«
»Töten Sie Tahn, Commander, und seine loyale Crew wird alles tun, um Sie zu vernichten.« Halloways Augen verengten sich drohend.
Der Aufzug hielt an, und die Tür öffnete sich. Die restlichen Wachen überprüften den Flur und gaben durch ein Kopfnicken zu verstehen, daß keine Gefahr drohte. Trotzdem zog Jeremiel seine eigene Pistole, packte Halloway am Arm und schob sie vor sich her, um den Gang selbst noch einmal zu kontrollieren. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß alles in Ordnung war, ließ er die Frau los.
»Gehen Sie, Lieutenant. Sie kennen ja den Weg. Ich bin direkt hinter Ihnen.«
Halloway setzte sich in Bewegung. Jeremiel folgte ihr und hielt dabei die Pistole auf ihren Rücken gerichtet. Er bezweifelte zwar, daß sie irgendwelche Dummheiten vorhatte, aber nachdem er gerade Slothens boshaftes Gesicht auf dem Monitor gesehen hatte, waren seine Nerven viel zu angespannt, um die Pistole wieder wegzustecken. Hatte die blaue Bestie die Wahrheit über die Vernichtung der halben Untergrundflotte gesagt? Oder war das nur eine schlaue Lüge? Doch ganz gleich, was zutreffen mochte – er steckte jedenfalls in weitaus größeren Schwierigkeiten, als er bisher angenommen hatte, denn wenn Slothen gelogen hatte, ahnte er, daß auf der Hoyer irgend etwas vorging.
Jeremiels Blick huschte nervös durch den Korridor, und bei jedem Wachtposten, den sie passierten, überlegte er, ob ihm das Gesicht vertraut war. Er fühlte sich wie jemand, der auf einem brennenden Seil einen See voller Haie überqueren muß. Die Angst wühlte in seinen Eingeweiden, während er zugleich von Selbstzweifeln gequält wurde. In Wirklichkeit ist das gar nicht dein Schiff, du hast es nur vorübergehend in Besitz. Und das Leben Tausender Menschen hängt von dir ab.
Als Halloway die Tür zu Jeremiels Kabine erreichte, fragte sie: »Soll ich hineingehen oder draußen warten?«
»Kommen Sie ruhig mit hinein, Lieutenant.« Jeremiel trat neben sie und verdeckte mit seinem Körper das Türschloß, während er die Codesequenz eingab. Er hatte das Schloß selbst programmiert, um zu gewährleisten, daß niemand ohne seine Einwilligung Zutritt erlangen konnte. Die Tür öffnete sich.
Jeremiel deutete eine leichte Verbeugung an. »Nach Ihnen.«
»Verschwenden Sie Ihre Galanterie nicht an mich. Ich bin keine von Ihren sanften gamantischen Frauen.« Halloway ging an ihm vorbei und blieb mitten im Zimmer stehen.
Jeremiel zuckte unwillkürlich zusammen, als ihn plötzlich Erinnerungen an Syenes herrlich muskulösen Körper heimsuchten. Eine Woche vor ihrem Tod hatte sie nackt vor dem großen Spiegel in seiner Kabine gestanden und sich selbst begutachtet: »Mir scheint, für zweiunddreißig bin ich ganz gut in Form.« Jeremiel erinnerte sich, wie er über diese Bemerkung ungläubig den Kopf geschüttelt hatte. Syenes dunkle, olivfarbene Haut hatte feucht geglänzt, weil sie gerade erst unter der Dusche gestanden hatte. »Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Und die eitelste.« Ihr fröhliches Lachen klang noch immer in seiner Seele und erfüllte ihn mit unstillbarer Sehnsucht.
Und die Hälfte seiner Flotte war vernichtet? Menschen, die sie beide gekannt und gemocht hatten, waren tot? Jeremiel war nicht bewußt, daß seine Augen ins Leere starrten, während sich auf seiner Miene die Trauer widerspiegelte. Schließlich bemerkte er, daß Halloway ihn forschend anschaute.
»Haben Sie Geister gesehen?« fragte sie.
Jeremiel schloß die Tür hinter sich. »Sie wissen ja, wo der Terminal ist. Machen Sie sich an die Arbeit. Und für den Fall, daß Sie den korrekten Zugriffscode vergessen haben sollten, finden Sie dort drüben auf dem Schreibtisch einen Ausdruck sämtlicher Schlüsselworte.« Er deutete auf einen Stapel Plastikfolien, während er zum Getränkespender hinüberging. Er wählte ein Glas numonianischen Taza, trug es zum Tisch und ließ sich in einen der Sessel sinken.
Halloway nahm am Schreibtisch Platz. »Avel Harper möchte, daß Sie ihn anrufen.«
»Danke. Sonst noch etwas?«
»Nein.«
»Dann löschen Sie die Nachricht und fangen Sie mit der Arbeit an.«
Halloway gab eine Reihe von Befehlen ein und schaute dann wartend auf den Schirm. Jeremiel achtete nicht weiter auf sie, sondern beschäftigte sich mit der Frage, wie viele Tage es her war, seit Syene zum letzten Mal seinen Namen ausgesprochen hatte. »Ich … ich wußte, du würdest kommen … Jere … Jeremiel. Dannon … Jahn. Uns … betrogen. Er …er war hier. Vor einer … halben Stunde.«
»Ich werde ihn töten, Syene. Das schwöre ich.«
»Baruch?« unterbrach Halloway seine Gedanken.
Jeremiel blickte nicht auf. Der Schmerz wühlte noch immer tief in seinem Innern. Hör damit auf. Sie ist schon vor Monaten gestorben. »Ja, Lieutenant?«
»Was ich vorhin gesagt habe … über gamantische Frauen. Tut mir leid. Ich war einfach nur wütend über das, was Sie Tahn angetan haben.«
»Was Sie von Gamanten halten oder nicht, ist für mich ohne jede Bedeutung, Halloway. Sie sind hier, um Nachforschungen anzustellen, die meine Leute nur unter Schwierigkeiten und mit erheblichem Zeitaufwand durchführen könnten. Also machen Sie schon.«
Aber das stimmt nicht ganz, warf Jeremiel sich insgeheim vor. Er hätte die Suche mindestens ebenso effektiv selbst durchführen können, wenn nicht sogar besser. So, wie die Dinge lagen, mußte er ohnedies alle Fakten, die sie ihm gab, prüfen und nochmals prüfen. Nein, im Grunde wollte er einfach nur, daß sie hier war.
Mit einer raschen Bewegung schaltete Baruch das Interkom ein und wählte die Nummer von Kabine 1912. »Avel? Hier ist Jeremiel. Sind Sie da?«
Es folgte eine kurze Pause, dann kam die Antwort: »Ja, Jeremiel. Danke, daß Sie so schnell zurückrufen.«
»Ich hoffe, es ist nichts Ernstes, Harper. Nachdem ich gerade Slothens blaues Gesicht gesehen habe, sind meine Nerven etwas überreizt.«
»Nein, nein, keine Sorge. Mikael Calas hat nur darum gebeten, mit Ihnen zu sprechen. Es sei dringend, meint er. Es geht um etwas, das sein Großvater ihm aufgetragen hat.«
Jeremiel runzelte die Stirn. »Wann? Ich war der letzte, der mit Zadok gesprochen hat. Warum sollte er damals nicht …«
»Mikael behauptet, sein Großvater hätte vor ein paar Tagen mit ihm gesprochen.«
»Zadok ist schon seit Monaten tot, Avel. Das wissen Sie doch.«
»Mikael hat ein schweres Trauma erlebt. Sie müssen verstehen …«
»Ja, ich verstehe.« Sie alle waren durch die Hölle gegangen, doch Mikael hatte innerhalb weniger Wochen nicht nur seine ganze Familie, sondern auch seine Welt verloren. »Sagen Sie ihm, ich treffe mich mit ihm, sobald ich kann. Die Einsätze sind gerade massiv erhöht worden, und ich werde die nächsten Tage mit strategischen Planungen verbringen. Bitten Sie ihn in meinem Namen um Entschuldigung.«
»Wird gemacht.«
Jeremiel bemühte sich um einen normalen Tonfall. »Avel? Irgend etwas Neues über Dannon?«
»Nichts.«
»Haben Sie den Suchtrupps mitgeteilt, daß der Untergrund eine Million auf seine Ergreifung ausgesetzt hat?«
»Habe ich. Aber bisher haben sie absolut nichts entdeckt, Jeremiel.«
»Dann brechen Sie die Suche ab. Wir müssen davon ausgehen, daß er tot ist.«
Jeremiel bemerkte, daß Halloway kurz aufsah. Er senkte den Blick und legte den Finger auf die Aus-Taste.
»Aber wieso?« fragte Harper. »Ich verstehe das nicht. Was ist, wenn er …«
»Kümmern Sie sich sofort darum, Avel. Baruch Ende.« Er schaltete das Interkom aus.
Halloway drehte sich halb mit ihrem Stuhl um und warf Jeremiel einen zweifelnden Blick zu. Das Licht unterstrich die Linien ihres alabasterfarbenen Gesichts. Weshalb wirkten ihre Augen so anrührend auf ihn? Es war so, als würde sie ihm erlauben, einen Blick hinter ihre so sorgfältig ausgearbeitete geschäftsmäßige Maske zu werfen und ihm ihre wahre, zerbrechliche Natur zu offenbaren.
Sei vorsichtig. Du hast den Verlust von Syene noch nicht überwunden. Außerdem ist sie eine magistratische Offizierin, die durchaus bereit sein könnte, ihre äußere Erscheinung gegen dich einzusetzen.
Ungeduldig fragte er: »Haben Sie etwas herausgefunden, Lieutenant?«
»Ja, schon, aber ich bin mir nicht sicher, ob es das ist, was Sie hören wollen.«
»Da könnten Sie schon recht haben. Was ist es denn?«
Halloway zögerte noch einen Moment und erklärte dann: »Offenbar haben Einheiten Ihrer Untergrundbewegung eine Reihe von Aktionen auf Abulafia initiiert. Militärische Einrichtungen der Magistraten wurden angegriffen und dabei mehrere Tausend Soldaten getötet. Die Magistraten haben entsprechend reagiert. Sie …«
»Oh … nein.« Jeremiel schlug mit der Faust auf den Tisch.
Mit leiser Stimme fuhr Halloway fort. »Nach offiziellen Schätzungen hat es etwa zwanzigtausend Opfer gegeben. Es war ein Angriffsmanöver der Stufe eins. Die gemäßigte Zone des Planeten wurde zerstört, die Überlebenden flüchteten polwärts. Ihre Flotte, oder zumindest ein Teil davon, lieferte sich ein Scharmützel mit dem Kreuzer Shamash, schlug ihn in die Flucht und startete dann eine Rettungsaktion.«
»Und die Schlacht, die Slothen erwähnte?«
»Darüber liegen keine Informationen vor. Offenbar hat sie erst vor sehr kurzer Zeit stattgefunden.«
»Oder gar nicht.«
»Das wäre auch möglich.«
Für ein paar Sekunden empfand Jeremiel so etwas wie Erleichterung. Vielleicht hatte Slothen tatsächlich gelogen, doch wenn das zutraf … Oh, Gott.
Erinnerungen an das reiche Farmland Abulafias stiegen in ihm auf und wurden überlagert von der Vorstellung, wie die Felder jetzt aussehen mußten – eine glasig geschmolzene Wüstenei. Auf Abulafia hatte es kommunale Farmen gegeben, auf denen es von Kindern nur so gewimmelt hatte. Bei seinem letzten Besuch der größten Kooperative des Planeten hatte sich ein schwarzhaariger, fünfjähriger Junge an seinem Bein festgeklammert, während sie einen Spaziergang durch die blühenden Obstgärten machten, und ihn angestrahlt, weil er der berühmte Führer der Untergrundbewegung war, die sie alle vor den finsteren Machenschaften der Magistraten beschützte. Jeremiel schloß die Augen.
»Baruch?«
»Ich … ich will jetzt nicht reden.« Haß legte sich wie eine bleierne Decke über ihn. Er hatte das Gefühl, irgend etwas tun zu müssen, wenn er nicht von dem Gewicht erdrückt werden wollte.
Jeremiel erhob sich schwankend und schlug mit der Faust gegen die Wand. Wieder und wieder holte er aus und legte sein ganzes Gewicht in jeden Hieb. Und bei jedem Schlag, der gegen die Wand krachte, stellte er sich vor, es wäre ein Schuß, der einen der rotgekleideten Soldaten niederstreckte. Als er genug Feinde getötet hatte und das Blut in breiten Strömen über die zerschmolzene Oberfläche des Planeten floß, sah er einen kleinen, schwarzhaarigen Jungen, der wieder zum Leben erwachte, aus der Lava hervorkroch und lachend auf ihn zueilte.
Und schließlich war der Schmerz in seiner geschundenen Faust schlimmer als jener, der in seinem Innern tobte. Jeremiel ließ die Hände sinken, blieb einen Moment still so stehen und blickte dann zur Decke empor.
Carey saß wie gebannt an ihrem Platz und wagte kaum zu atmen. Baruch sah aus wie ein gefolterter Erlöser; sein attraktives Gesicht war schweißüberströmt. Die kräftige Schultermuskulatur war noch immer angespannt und wölbte sich unter dem Stoff seines schwarzen Overalls.
Halloway sah wieder auf den Monitor und betrachtete die statistischen Daten über Abulafia. Es war ein landwirtschaftlich orientierter Planet gewesen, auf dem man in erster Linie Gerste angebaut hatte, obwohl es auch eine Reihe von Obstplantagen gegeben hatte. Auch Careys Eltern hatten auf einer Plantage gearbeitet. Erinnerungen an ihre Kindheit tauchten auf, und sie schien wieder den süßen Duft der orionischen Pfirsichblüte wahrzunehmen. Bevölkerungszahl: 23.000. Die Hälfte davon Kinder. Erbärmlich wenig Menschen für eine so große und fruchtbare Welt. Halloway warf einen Blick auf die Produktionsdaten. Offenbar hatten die Bewohner des Planeten außerordentlich hart gearbeitet. Ihre Ernte war fünfmal so groß wie die vergleichbarer magistratischer Welten. Und dabei verfügten sie nicht einmal über deren hochmodernes technisches Gerät.
Baruch stieß ein tiefes Seufzen hervor. Seine Fäuste waren noch immer geballt. Für einen Sekundenbruchteil trafen sich ihre Blicke, und Halloway sah direkt in seine weit aufgerissenen und verwirrend blauen Augen, in denen Haß aufschimmerte. Zu ihrer Überraschung empfand auch Halloway einen Teil des Schmerzes, der in ihm tobte. Verdammt! Sie hatte nicht geahnt, daß sie mit Pieromas verletzlicher Haltung auch einen Teil ihrer Gefühle übernehmen würde. Verstohlen ballte sie die Fäuste.
»Machen Sie sich keine Vorwürfe. Es gibt nichts, was Sie hätten tun können. Auch wenn Sie dort gewesen wären, hätte das nichts geändert.«
Jeremiel senkte den Kopf und starrte sein Glas an. Dann versetzte er ihm einen Stoß, der es quer über den Tisch trieb, bis es schließlich über die Kante rutschte und zu Boden fiel. Der Ausdruck der Verzweiflung auf seinem attraktiven Gesicht traf Halloway wie ein eisiger Hauch. Und als er sprach, mußte sie die Zähne zusammenbeißen, um von dem Schmerz in seiner Stimme nicht überwältigt zu werden.
»… Ein paar Bauern. Sie stellten nicht die geringste Gefahr für die Regierung dar.«
»Slothen betrachtet jede Form des Widerstands als Bedrohung. Giclasianer lassen abweichende Meinungen nur in einem sehr engen Rahmen zu. Und die Gamanten bewegen sich in der Regel außerhalb dieses Rahmens.«
Jeremiel ging langsam zu ihr hinüber. »Und der Untergrund hat seine Kräfte geteilt und bewegt sich möglicherweise in Richtung des lysomianischen Systems. Was, zum Teufel, geht dort draußen vor?«
»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Soll ich nach etwas anderem suchen?«
Jeremiel nickte. »Ja, forschen Sie nach allem, was mit Tikkun zu tun hat.«
Halloway wandte sich wieder der Konsole zu und gab den korrekten Code ein – und fragte sich im gleichen Moment, weshalb sie das getan hatte. Er hätte es gemerkt, wenn du etwas anderes gemacht hättest. Genau. Deshalb hast du es getan. Und es hat nichts mit dem Umstand zu tun, daß ein Teil von dir ihm helfen möchte.
Der Schirm blitzte auf: Zugriff verweigert.
»Was?«
Halloway versuchte, auf einem anderen Weg an die Daten heranzukommen, wobei sie sich bewußt war, daß Baruch sie beobachtete.
Unzulässiger Zugangscode.
»Tatsächlich? Na, das ist ja sehr interessant.«
»Was ist los?« fragte Baruch.
»Ich komme nicht durch.«
»Warum nicht? Wie ist das möglich?«
»Manchmal läßt Slothen bestimmte Dateien über den Zentralcomputer auf Palaia sperren. Aber warten Sie einen Moment. Ich werde etwas anderes versuchen. Vielleicht komme ich ja durch die Hintertür hinein.«
Sie benutzte ihre Sicherheitsfreigabe, um erneut die Datenbank abzufragen, vermied diesmal jedoch das Stichwort »Tikkun« und fragte statt dessen nach Geheimdienstoperationen. Als die Informationen auf dem Schirm erschienen, runzelte sie die Stirn. Die durcheinandergewürfelten Buchstaben ergaben keinen Sinn. Ganz offensichtlich war ein Zerhacker zwischengeschaltet.
»Tja, da sind wir ja in eine schöne Sache hineingeraten. Sehen Sie sich das mal an.«
Jeremiel stützte sich auf die Rückenlehne ihres Sitzes und betrachtete den Schirm. »Die Daten sind verschlüsselt?«
»Offensichtlich.«
Jeremiel beugte sich vor, um die Tastatur zu erreichen, und Halloway spürte die Wärme seines muskulösen Arms, als er sie dabei leicht streifte. Seine Stimme klang tonlos, als er einzelne Textstellen laut las: » … Sterilisierung … Überlegenheit demonstrieren … gesamte Bevölkerung erfassen … bürokratischer Vorgang … Vernichtung …«
Halloway merkte, wie seine Spannung zunahm. Er berührte ein paar Tasten und ließ den Schirm langsam scrollen. » … Umerziehungszentren in der Wüste … gezielte Terrormaßnahmen … Problem vereinfacht …«
Jeremiel schluckte schwer, als ihm die Bedeutung dieser Satzfetzen aufging.
Carey sah zu ihm auf. »Baruch, so etwas kann heutzutage nicht mehr geschehen. Das da sind nur ein paar Fragmente. Ziehen Sie daraus keine voreiligen Schlüsse.«
Jeremiel erwiderte ihren Blick, und alle Feindschaft zwischen ihnen verschwand. Sie waren nur noch zwei menschliche Wesen, die sich anschauten. Jeremiels Augen schienen zu fragen: Kannst du es denn nicht sehen? Und auch Carey kam es so vor, als hätte sie gerade das leise Flüstern gehört, mit dem sich ein Liebhaber zum letzten Mal verabschiedet, das plötzliche Verstummen eines lachenden Kindes, den leisen Tod einer ganzen Zivilisation.
In Careys Gedanken tauchten Erinnerungen an den Tod ihrer Eltern auf: Schlachtschiffe, die durch den dunklen Himmel jagten … purpurne Strahlen, die ein unheimliches Netz über ihrem Heim woben … der süße Duft von Orangenblüten, vermischt mit dem stechenden Geruch ionisierter Luft … und ihre Mutter schrie »Lauf, Carey! Um Gottes willen, versteck dich zwischen den Bäumen!« … Timmys Keuchen, der hinter ihr herlief, bis die Strahlen ihn durchbohrten.
Die Gefühle drohten sie zu überwältigen. Abrupt schob sie den Stuhl zurück und stand auf. »Ich … ich muß gehen.«
Als Carey versuchte, Jeremiel beiseite zu schieben, packte er ihr Handgelenk und hielt sie auf. Seine Augen waren tränenerfüllt, und sein attraktives Gesicht zeigte tiefes Mitgefühl.
»Ihre Familie?« fragte er. Carey nickte, und bevor sie richtig merkte, was geschah, hatte er die Arme um sie gelegt und zog sie an sich. Die Wärme, die sie plötzlich durchflutete, erschreckte sie in ihrer Intensität. Jeremiels Bart strich sanft über ihr Gesicht, als er beruhigend in ihr Ohr murmelte. Für einen zeitlosen Moment gestattete Carey es sich, den Trost anzunehmen, den er ihr bot. Wie lange war es her, seit sie einem Mann erlaubt hatte, sie in den Armen zu halten? Jahre – so viele Jahre. Der Druck seines muskulösen Oberkörpers gegen ihre Brüste weckte Emotionen in ihr, die sie längst vergessen geglaubt hatte.
»Baruch«, sagte sie, »die Magistraten nennen so etwas Fraternisieren mit dem Feind. Und sie schätzen das gar nicht.«
»Ja, das kann ich gut verstehen.«
Langsam ließ Jeremiel Carey los und trat einen Schritt zurück. Schweigend blickten sie sich an.
»Machen Sie sich keine Gedanken wegen der verschlüsselten Daten«, murmelte Carey schließlich, während sie zugleich peinlich berührt feststellte, wie schnell ihr Atem ging. »Es hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten.«
»Irgend etwas schon.«
»Brauchen Sie mich noch?«
Jeremiel schüttelte den Kopf. »Nein. Und vielen Dank.«
Brent Bogomil wanderte in Slothens Büro auf und ab und betrachtete dabei die Holos der Sternennebel und fernen Sonnensysteme, die an der lavendelfarbenen Wand aufgereiht hingen. Durch das Fenster waren mehrere Wachschiffe zu sehen, die im Formationsflug über der Stadt kreisten. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß Abruzzi recht hatte. Wir haben die Hoyer verloren.«
Slothen krümmte nervös die Finger. »Das läßt sich kaum bestreiten. Und was erwarten Sie jetzt von mir?«
Bogomil seufzte. »Als ich ankam, habe ich bemerkt, daß die Aratus und die Leimon in den Docks Sieben-C und Acht-A liegen. Können Sie diese Schiffe entbehren?«
»Sie meinen, um Sie und die Klewe nach Tikkun zu begleiten?«
»Sicherheitshalber, ja.«
»Sind Sie sicher, daß Sie sie brauchen? Gorgons Flotte ist doch unterwegs zum lysomianischen System. Wenn Sie …«
»Wir wissen aber nicht genau, wann er dort ankommt. Und was noch schlimmer ist, wir wissen auch nicht, wann und wo die andere Hälfte der Untergrundflotte auftaucht. Es wäre gut möglich, daß ich sofortige Unterstützung brauche.«
Slothen verzog den Mund. »In Ordnung. Lassen Sie mich so bald wie möglich wissen, was dort draußen vorgeht. Aber versuchen Sie, Baruch so lange in Ruhe zu lassen, bis er sich sicher genug fühlt, um die Flüchtlinge auf Tikkun abzusetzen. Auf diese Weise erhalten wir mehr Untersuchungsobjekte, mit denen wir arbeiten können. Unsere Forschungen befinden sich in einem kritischen Stadium.« Er blätterte einen Stapel Nachrichtenfolien durch und schüttelte verärgert den Kopf. »Diese von den Gamanten verursachten Probleme müssen aufhören. Vielleicht leite ich sogar die Scipio um, als Machtdemonstration gewissermaßen. Abruzzi hat mich deswegen ja fast angefleht.«
Bogomil nickte, während seine Augen in die Ferne schweiften. Er dachte an die gewaltige Feuerkraft, die nur ein paar Tage entfernt lauerte. Schon jetzt beschäftigten sich seine Gedanken mit strategischen Überlegungen. Was sie brauchten, war ein absolut narrensicherer Plan.
Geistesabwesend erwiderte er: »Ich danke Ihnen, Magistrat.«