32

Lydia hatte Schwierigkeiten, sich in den engen Gassen von Derry zurechtzufinden. Sie war noch nie in einer Stadt Auto gefahren und bog ein paarmal falsch ab, bevor sie das Ziel ihrer Reise erreichte.

Das Altersheim Mount Carmel war ein düsteres, dreigeschossiges, efeubewachsenes Gebäude an einem Hang, zu dem eine lange Kiesauffahrt führte. Üppige grüne Sträucher und Rhododendren schirmten das Haus von dem Parkplatz ab, auf den Lydia nun einbog.

Sie parkte unter den ausladenden schattigen Ästen einer Kastanie und stellte den Motor ab. Der Nachmittag war ungewöhnlich heiß. Obwohl es Mitte September war, machte der Sommer noch keine Anstalten, sich zu verabschieden. Ich sollte jetzt in der Schule sein, dachte sie, und sofort verspürte sie einen Stich des Bedauerns wegen des anderen Lebens, das sie einmal geführt hatte; ein Leben, das mit dem Tod ihrer Mutter geendet und seit dem Brief mit ganz anderen Vorzeichen wieder begonnen hatte.

Sie holte den Büttenumschlag aus ihrer Tasche hervor und drehte und wendete ihn hin und her, als sei dieser gewöhnliche Umschlag mit der maschinengeschriebenen Adresse aus der Geisterwelt erschienen. Der Brief war ihre Verbindung mit dem finsteren Gebäude vor ihr. Bald würde sie erfahren, was für eine Wahrheit hinter diesen Wänden auf sie wartete. Sie wusste nicht, ob sie all dem gewachsen war. Zu viele Fakten hatten sich vor ihr aufgetürmt wie ein Strohfeuer von Absurditäten, das in Stichflammen aufgehen konnte, wenn noch mehr Öl ins Feuer gegossen werden würde.

Überflüssigerweise las sie den Brief noch einmal durch – sie kannte den Inhalt ja fast auswendig –, aber sie war so erzogen worden, dass das unter den gegebenen Umständen das Richtige war. Sie saß vor dem »Ort ihrer Geburt« und fühlte sich wie eine Büßerin vor dem Hochaltar, und der Brief in ihren Händen war der unbestreitbare Beweis, dass sie in ihrem Leben schon einmal an diesem Ort gewesen war.

Elwood House
River Road
Killoran

Meine geliebte Lydia,

ich hoffe inständig, dass diese Worte, wenn Du sie endlich zu lesen bekommst, Dich nicht allzu sehr verletzen werden, auch wenn ich weiß, dass Dich das, was ich zu offenbaren habe, wie ein schwerer Schock treffen wird. Ich werde in Frieden bei Deinem lieben Vater liegen, wenn Du diesen Brief bekommst, und ich schreibe ihn schweren Herzens. Bitte trauere nicht zu sehr um mich. Wenn ich gestorben bin, wirst Du endlich frei sein und kannst so leben, wie Du es Dir vorstellst. Also nimm es von der guten Seite und breite Deine Flügel aus. Dein Vater und ich haben immer nur Dein Bestes gewollt, bitte vergiss das nicht. Und wir haben uns gegenseitig versprochen, dass Du die wahren Umstände Deiner Geburt erst nach unserem Tod erfahren sollst.

Geliebte Lydia, wir haben Dich am 5. Dezember 1934 adoptiert, als Du erst ein paar Wochen alt warst.

Ihre Mutter würde nie erfahren, wie sehr sie diese Worte verletzt hatten. Lydia sah von dem Brief auf und versuchte, die unvermeidlichen Tränen zu stoppen. Das düstere Gebäude schien sich über sie lustig zu machen. Verzweifelt wischte sie sich die Tränen aus den Augen und drehte das Blatt um. Es gab keinen Trost und so las sie weiter. Das feuchte Taschentuch lag schon bereit.

Bitte weine nicht zu sehr, wenn Du dies liest. Dein Vater und ich konnten keine Kinder bekommen und ich habe mir so sehr ein kleines Mädchen gewünscht. Du warst ein kleiner Engel, den man ausgesetzt hatte, und wir haben dich gerettet.

Ach tatsächlich, dachte Lydia, die jetzt richtig ärgerlich war. Wie oft hatte man ihr erzählt, dass ihre Eltern sich nur aus einem einzigen Grund näher gekommen waren, nämlich um sie in die Welt zu setzen?

Ich wollte kein Kind aus der Nähe adoptieren, deswegen sind wir nach Londonderry ins Waisenhaus der heiligen Agnes zu den Barmherzigen Schwestern gefahren. Ich glaube, heute ist es ein Altersheim für den Klerus. Ich war katholisch, bevor ich Deinen Vater geheiratet habe, und deswegen habe ich mich als katholisch ausgegeben und es nicht für eine schwere Täuschung der Nonnen gehalten. Denn Du musst wissen, liebste Lydia, wie sehr ich mich nach Dir gesehnt habe. Das musst Du verstehen. Was spielt es da schon für eine Rolle, welcher Religion wir angehören? Wir lieben und ehren doch alle ein und denselben Gott.

Wie viele Lügen hatte ihre Mutter ihr denn noch erzählt? Es kam ihr so vor, als sei ihr ganzes Leben auf ihnen aufgebaut.

Oh, Du warst so ein schönes Baby, Lydia. Wir haben uns alle beide aus dem Stand in Dich verliebt.

Du hattest so schöne kastanienbraune Löckchen und süße rosa Bäckchen und Du hast die ganze Zeit gelächelt, nie geweint. Ich war so stolz auf Dich. Wir hätten uns keine perfektere perfektere Tochter wünschen können.

Lydia tupfte sich die Augen trocken. Das Wort »perfektere« war durchgestrichen und noch einmal geschrieben worden. Also vielleicht doch nicht so perfekt? Sie fand den Fehler aufschlussreich.

Es tut mir leid, dass ich Dir nichts über Deine richtige Mutter erzählen kann. Die Nonnen haben nur gesagt, Du seist abgelegt worden, aber sie sind nicht weiter darauf eingegangen. Sie hat Dich mit Nichts zurückgelassen, Lydia. Wir haben Dir einen Namen gegeben und einen Platz in der Welt. Wir haben Dir eine Chance gegeben, also ärgere Dich bitte nicht allzu sehr über uns. Es war alles nur zu Deinem Besten getan.

Mein Liebes, weil wir Dich so sehr lieben, fanden wir es nur gerecht, dass Du nach unserem Tod die Gelegenheit erhältst, Deine wirkliche Mutter zu finden, falls Du das möchtest. Ich habe Dir alles gesagt, was Du wissen musst. Falls es irgendwo noch Unterlagen über sie gibt, so wäre das wahrscheinlich in dem oben genannten Ort in Londonderry.

Aber grabe nicht zu tief nach Antworten, liebe Lydia. Wenn sie sich Dir nicht offenbaren, lass die Dinge, wie sie sind. Manchmal ist es besser, wenn man nicht versucht, der Vergangenheit ihre Geheimnisse zu entreißen.

Ich hoffe, Du wirst ein glückliches Leben führen, mein Liebes. Bewahr uns in Deinem Herzen und sei immer freundlich. Ich hätte mir gewünscht, dass ich Dir zum Ende meines Lebens eine bessere Freundin hätte sein können.

Für immer die Deine, mein Liebes,

Deine Dich liebende Mutter

Elizabeth.

Sie steckte den Brief in den Umschlag und wappnete sich. Sie wollte stark sein. Vor einer Woche war sie in Mr Browns Büro in Tränen ausgebrochen, und es kam ihr vor, als habe sie seitdem nicht mehr mit dem Weinen aufgehört.

Sie öffnete ihre Puderdose und versuchte zu retten, was zu retten war. Wenn das mit ihrem Leben doch auch so leicht ginge! All die Straßen, die sie seit der Kindheit genommen hatte, waren mit einem Mal zu Einbahnstraßen geworden. Sie stand am Scheideweg – ohne Wegweiser in die richtige Richtung. Sie hatte keinen Vater und keine Mutter mehr. Sie war eine Waise, ein Niemand. Jetzt verstand sie, was Tante Gladys gemeint hatte. Wieder sah sie die glänzenden Lippen die Worte ausspucken, die sie so verwirrt hatten.

Du hast ja keine Ahnung! Die Wahrheit ist immer kompliziert. Jetzt, wo du alleine bist, musst du dich der harten Wahrheit stellen.

Ja, in der Tat: Lydia hatte nichts geahnt. Und Gladys hatte alles gewusst. Bei dieser Erinnerung knirschte Lydia mit den Zähnen und beschloss, dass sie ihre sogenannte Tante sehr lange nicht wiedersehen würde.

Sie sah das Altersheim vor sich auf dem Hügel an und meinte, lieber sterben zu wollen, als durch die Unheil kündenden Türen zu gehen. Welche Tatsachen hatte dieses Gebäude denn noch zu verbergen, die sie nicht bereits kannte?

Am besten, sie brachte es jetzt hinter sich.

Mit diesem Entschluss stieg sie widerstrebend aus dem Auto und schritt langsam die Kiesvorfahrt hinunter. Die Schönheit dieses Nachmittags stand so sehr im Widerstreit mit dem Aufruhr in ihrem Inneren. Gottes Schöpfung zeigte sich von ihrer schönsten Seite: die Tellerhortensien, die Hecken mit dem Limonenduft, das sonnenbeschienene Gras; und überall das Glissando des süßen Gesangs der Amsel – wie um sie zu beruhigen. Dieser Frieden, diese Harmonie um sie herum – und doch eine Welt entfernt.

Am Tor klingelte sie viermal hintereinander, aber sie bekam keine Antwort. Sie wollte gerade wieder gehen, da wurde die Tür von einem sehr großen Mönch geöffnet. Er trug ein braunes Habit, in der Taille durch eine braune Hanfkordel gehalten. Er war jung, aber wegen seines rasierten Kopfes und der freudlosen Augen machte er den Eindruck eines viel älteren Mannes. Seine Füße steckten in leichten Sandalen.

»Ich bin Lydia Devine. Ich möchte mit Vater Finian sprechen.«

Der Gesichtsausdruck des Mönchs blieb unbewegt, was sie etwas aus der Fassung brachte. Vielleicht hatte er ein Schweigegelübde abgelegt; sein Gesicht sah aus, als habe er harte Jahre der Disziplin und Kasteiung hinter sich – und als bereue er das aus irgendeinem Grund.

»Er erwartet mich«, fügte sie hinzu.

Er nickte und trat zur Seite, um sie einzulassen.

Das Vestibül war überraschend hell mit cremefarbenen Wänden und einem schwarzweiß gemusterten Fußboden, das einzig Dunkle war eine schwere, mit Schnitzereien verzierte Anrichte, die auf Hochglanz poliert war und einer meterhohen Gipsfigur der Heiligen Jungfrau als Altar diente.

Der Mönch verschwand in einem dunklen Flur und Lydia setzte sich. Es war sehr still, sie hörte nur die knarzenden Dielen unter seinen Schritten. Dann wurde eine Tür geöffnet und schnell wieder geschlossen. Nun saß sie ganz allein in der Stille der enormen Empfangshalle.

»Miss Devine, es freut mich, Sie kennenzulernen.«

Der junge Priester reichte ihr die Hand. »Schön, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben. Es kann ja nicht leicht für Sie gewesen sein.«

Vater Finian hätte sich mit seinem schnellen Lächeln und seiner sorglosen Art kaum mehr von dem freudlosen Mönch unterscheiden können. Er ging ihr durch mehrere Flure und über eine Treppe voran. Sie folgte ihm langsam und nahm alles mit einer fast kriminologischen Aufmerksamkeit wahr. Dies hier, das war einmal mein Zuhause. Dieses graue, trübselige Gefängnis mit den Betonböden, der abgeblätterten Farbe, den vergitterten Fenstern. Hier gab es nichts, woran sich das Auge erfreuen konnte. Als sie den Kopf der Treppe erreicht hatte, war sie einer Ohnmacht nahe.

»Gott sei Dank, dass ich von hier weggebracht wurde.«

»Wie bitte? Geht es Ihnen gut?«, fragte der Priester sie.

»Ja, vielen Dank ...« Sie hielt an, die Hand am Geländer, und starrte auf ihre weißen Fingerknöchel herab. »Ja ... mir ... geht ... es gut.« Das letzte Wort – dünn, hohl, ohne Bedeutung – fiel in die widerhallende Tiefe des Treppenhauses. Als sie dort hinuntersah, fragte sie sich, wann sie je wieder die ganze Bedeutung dieser einen freundlichen Silbe am eigenen Leib erfahren würde. Gut.

»Mir geht es gut«, sagte sie wieder und nahm all ihren Mut zusammen.

Vater Finian spürte ihre Traurigkeit. Er hatte diesen Gesichtsausdruck schon oft gesehen.

»Wir nutzen diesen Teil des Gebäudes nicht mehr. Er dient nur noch zu Lagerzwecken.«

Seine Absätze hämmerten auf dem Steinboden, als er durch den Flur voraneilte; auf einmal war er sehr resolut. Dann hielt er an, ging durch die Schlüssel an seinem Bund und öffnete eine Tür.

»Wir sind da.« Er wartete auf sie.

Sie ging langsam auf das Büro zu, das früher Mutter Vincent gehört hatte. Eine zerschrammte Bank stand davor und aus irgendeinem Grund hatte sie das Bedürfnis, sich dort kurz auszuruhen – vielleicht aus Respekt vor all den Kindern, die auf ihr gesessen hatten. Denn sie spürte instinktiv, dass jedes Kind, das in diesem Gebäude gelebt hatte, gequält worden war.

Dann betraten sie ein großes Büro, ein muffiges, trübes Zimmer, in das keine Nachmittagssonne schien. Er führte sie zu einem kahlen Sofa, über das jemand in dem vergeblichen Versuch, es etwas freundlicher zu machen, eine Decke geworfen hatte. Zwischen dem Schreibtisch des Priesters und dem Sofa lag ein fadenscheiniger Teppich mit verblichenen Pfauen und Kolibris. Sie fragte sich, wie viele Dekaden er da wohl schon lag und wie viele Füße in all den vielen Jahren über ihn gegangen waren.

Vater Finian konnte ihre Gedanken lesen. Seit das Gebäude des berüchtigten Waisenhauses 1968 in den Besitz seines Ordens übergegangen war, hatte er sich mit so vielen Lydias auseinandersetzen müssen. Leute, die ihrem Leben auf den Grund gehen und verstehen wollten, warum ihre Mütter sie zur Welt gebracht hatten, nur um sie zu verlassen.

»Bitte entschuldigen Sie, wie es hier aussieht«, sagte er, »aber als das Waisenhaus geschlossen wurde, haben wir hier alles mehr oder weniger so gelassen, wie es war. Natürlich auch die Aktenschränke mit all den Dokumenten. Dieser Raum ist eine Art Vergangenheitsspeicher, wenn Sie so wollen. Wir halten es für das Beste, alle Spuren zu bewahren, damit wir Menschen wie Ihnen helfen können, die ihre Suche nach Antworten hierherführt.«

Lydia nickte langsam. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Auf jeden Fall wollte sie nicht weinen.

»Mein herzliches Beileid zum Tode Ihrer Frau Mutter. Es ist schwer genug, jemanden zu verlieren, der einem so nahegestanden hat, ohne etwas entdecken zu müssen, was so lange verborgen gehalten wurde.«

»Vielen Dank, Vater.«

Ein Strauß blauer Lobelien war im Kamin verwelkt. Wahrscheinlich verströmten sie den faulig beißenden Geruch im Raum. Neben dem Kamin stand eine klauenfüßige Anrichte aus schwerem Sargholz mit einem blinden Spiegel und einer wurmzerfressenen Ablage. Lydia kam es vor, als sei alles im Zimmer tot. Es schnürte ihr die Luft ab und verschlug ihr die Sprache; die Bedeutung dessen, was vor ihr lag, schüchterte sie vollkommen ein.

Sie sah zum Fenster hinaus, um etwas Abstand zu diesem Alptraum zu bekommen, doch auf einem Hügel in einiger Entfernung erblickte sie nur mit Flechten überwachsene Grabsteine. Viele waren umgefallen, weil sie dort so lange in Habachtstellung ausgeharrt hatten. Nein, von dort konnte sie sich keine Erleichterung erhoffen. Sie drehte sich wieder zu dem jungen Priester um.

»Vielleicht hilft es Ihnen, wenn ich mir den Brief Ihrer Mutter einmal ansehe«, sagte er, kam um den Schreibtisch herum und setze sich neben sie aufs Sofa.

»Ja«, brachte sie hervor. »Vielen Dank.«

Sie beobachtete, wie seine Lippen die Worte ihrer verstorbenen Mutter formten, und fragte sich, warum so ein gut aussehender junger Mann sich zu einem abgeschiedenen Ort wie diesem verurteilt hatte.

»Hm, der fünfte Dezember neunzehnhundertvierunddreißig. Lassen Sie mich mal nachsehen.«

Die Aktenschränke standen an der hinteren Wand. Sie zählte elf. Vater Finian öffnete die Schublade eines mittleren. Er zog eine Akte heraus und ging damit zum Schreibtisch.

Nachdem er sie einige Minuten durchgeblättert hatte, sagte er: »Es tut mir sehr leid, aber ich kann Ihnen den Namen Ihrer Mutter nicht nennen.«

Der Priester hatte weise beschlossen, Lydia die Einzelheiten zu ersparen. Diese Entscheidung hatte er schon einige Male getroffen. Er entnahm den Akten, dass sie am vierten November 1934 in Zeitungspapier eingewickelt in einer Einkaufstüte auf den Stufen des Waisenhauses der heiligen Agnes bei den Barmherzigen Schwestern abgelegt worden war. Und einen Monat später von Perseus Cuthbert Devine und seiner Frau Elizabeth adoptiert worden war.

»Das macht nichts, Vater«, sagte Lydia und überraschte ihn mit ihrem Gleichmut. »Ich habe eigentlich nichts anderes erwartet, aber ich musste ganz sicher gehen.«

Vater Finian sah traurig auf die Akte herab.

»Gibt es sonst noch irgendetwas?«, fragte Lydia. Es gelang ihr, ruhig zu sprechen. Plötzlich wollte sie alles nur noch hinter sich bringen und nie mehr wiederkommen. Also hieß es, jetzt oder nie.

»Etwas Handschriftliches von ihr. Oder irgendetwas anderes?«

»Hier ist noch ein Umschlag.« Er war nicht zugeklebt. Er fischte einen Zeitungsartikel daraus hervor.

»Nur noch dies.« Er reichte ihn ihr, aber vermied es, ihren verstörten Blick aufzufangen. Lydias Hände zitterten, als sie das kleine gelbe Überbleibsel überflog. Es stammte aus dem Vindicator vom 3. November 1934.

»Was ... was ... hat das zu bedeuten?«

Sie zwang sich zu dieser Frage, auch wenn ihre Stimme nicht ihr zu gehören schien. Vater Finians düsterer Gesichtsausdruck sagte ihr alles. Sie sah ihn fragend an. Wartete. Aber er gab keine Antwort. Dann musste sie doch weinen und er verschwamm vor ihren Augen. Stille hatte sich auf sie gesenkt, eine Stille, in der er nichts erklären und sie sich dem kaum Verständlichen stellen musste.

»Ich war ... war ich ... ich war ...« Sie hielt die Zeitung zitternd hoch. »Ich war ... hierin eingewickelt?«

Und als sie diese Worte aussprach, löste sich etwas in ihrem Herzen und fiel hinab, ein Teil von ihr, von dem sie immer gewusst hatte, dass er da war, aber mit dem sie sich nie hatte beschäftigen wollen – das verlassene Kind in ihrem Inneren. Das Kind, das seinen Schatten auf die Frau warf, die sie sein wollte. Auf einmal bekam die Abkoppelung und Isolation von ihren »Eltern«, die sie immer gespürt hatte, eine Bedeutung. Sie war in die Welt gekommen, nur um in Zeitungspapier gewickelt wie Abfall weggeworfen zu werden. Wie konnte ihre richtige Mutter, die sie geboren hatte, so etwas tun? Aus Lydias Verzweiflung wurde Ärger und sie wischte die Tränen fort.

»Geben Sie ihr keine Schuld«, sagte Vater Finian tröstend. »Sie hat das getan, von dem sie damals glaubte, es wäre das Beste für Sie. Wir kennen die Umstände nicht, in denen sie gelebt hat.«

»Ja ... ich weiß.«

Doch schon als sie diese Worte aussprach, wusste Lydia, dass sie eigentlich gar nichts wusste.

Sie sah den jungen Mann direkt an, sie wünschte sich so sehr, dass er ihre Bedürfnisse verstand, aber sein trauriges Gesicht bestätigte ihr, was sie geahnt hatte, seit sie den Brief gelesen hatte. Niemand konnte ihr helfen. Sie war die Geisel der unerfindlichen Entscheidung, die eine junge Mutter vor langer Zeit getroffen hatte. Als sie dort in diesem muffigen Zimmer mit dem verblassten Teppich und den verwelkten Blumen saß, kam sie zu dem Schluss, dass nichts und niemand sie von dieser Gewissheit erlösen konnte, von dieser gespenstischen, verwirrenden, unverständlichen Gewissheit.

Der Priester blätterte jetzt in einem Folianten. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Eine lange Pause folgte, die sie nicht durchbrechen wollte. Dann erhob sie sich. Sie wusste ja, dass es hoffnungslos war.

Aber der Priester achtete nicht auf sie. Mit gerunzelten Brauen sah er sich eine Seite mit Zahlenkolonnen an.

»Ich denke, Sie sollten sich setzen, Miss Devine.«

Sie tat, wie ihr geheißen wurde.

»Als Sie hier angekommen sind, haben Ihnen die Nonnen eine Nummer gegeben. Sie waren Nummer fünfundachtzig-W. W für weiblich. Aber direkt neben Ihrer Nummer steht noch eine andere.

»Und?« Lydias Puls beschleunigte sich. »Was bedeutet das, Vater?«

»Es bedeutet, dass Ihre Mutter zwei Kinder vor der Tür abgelegt hat. Es bedeutet, dass das Kind mit der Nummer sechsundachtzig-M ihr Bruder war.«