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Wie die meisten Menschen hasste auch Lydia Krankenhäuser, hatte aber zu ihrem Glück noch nie in einem gelegen. Sie hatte auch nur selten Besuche in Krankenhäusern abstatten müssen. Und nun hatte sie den Eindruck, dass sie für dieses Glück zahlen musste, als handele es sich um eine Art wohlverdienter Strafe.

Ihr Vater war im Schlaf gestorben und sie hatte erst spät im Leben erfahren, was Trauer war, allerdings ohne das schreckliche Vorspiel miterleben zu müssen, das dem Tod alter Menschen oft vorausgeht.

In den vergangenen vier Tagen hatte ihre Welt aus den gebohnerten Fluren und desinfizierten Stationen des städtischen Krankenhauses bestanden, aus Krankenschwestern in gestärkten Uniformen und Ärzten mit ernsten Gesichtern. Eine Welt hoffender und gequälter Kreaturen, die eine Zeitlang an diesem furchterregenden Ort ausharren mussten, um dann entweder wieder in ihr Leben entlassen oder ins unvorstellbare Jenseits geschickt zu werden.

Auf ihrem Weg durch die neonbeleuchteten Korridore lauerte kalt und hart wie die Wintersonne der Tod und sie bemühte sich auszublenden, was sie sah und hörte: schnelle Schritte auf dem Linoleum, Vorhänge, die hastig vor ein Bett gezogen wurden, Weinen und Wehklagen an den Betten Verstorbener, die Schicksale von Menschen, die für immer verändert wurden, weil einer von ihnen ausgelöscht war.

Vier Tage nach dem Schlaganfall war ihre Mutter außer Lebensgefahr. Man hatte sie von der Intensivstation in ein privates Zimmer im geriatrischen Flügel verlegt.

Doch für Lydia war ihre Mutter in dem Bett fast wie eine Fremde: Dort lag reglos eine stumme Frau, die sie ansah, aber nicht erkannte. Lydia saß lange am Bett ihrer Mutter, hielt ihre Hand und hoffte auf eine Reaktion, aber sie bekam keine. Seit dem Schlaganfall war Elizabeths rechte Seite gelähmt, außerdem konnte sie nicht mehr schlucken und musste intravenös ernährt werden. Sie lebte in der abgeschiedenen Welt, in der Lydia sie an dem schicksalsträchtigen Morgen vorgefunden hatte. Mit dem einzigen Unterschied, dass ihre Mutter die Augen geöffnet und so viel Kraft aufgebracht hatte, dass sie weiterleben konnte.

So wachte Lydia am Bett ihrer Mutter. Nachmittags kam sie für drei Stunden und abends ebenfalls. Während ihrer Besuche kam ab und an eine Krankenschwester herein und tauschte eine Infusionsflasche aus, kontrollierte das rhythmische Diagramm auf dem Bildschirm des EKGs oder den Puls der Patientin. Jedes Mal sah Lydia den Krankenschwestern aufmerksam zu und hoffte darauf, dass eine Besserung eingetreten war, aber das war nie der Fall. Das Personal versicherte ihr lediglich lächelnd, dass die Patientin »stabil« sei.

Nach einer Woche machte sie sich auf die Suche nach der Oberschwester. Schwester Milligan war eine gestandene Frau in den Fünfzigern, deren Auftreten so klinisch und starr war wie ihre Uniform. Nach ihrem knappen Bericht über den Zustand ihrer Mutter machte sich Lydia keine Hoffnung auf eine Besserung.

»Ihre Mutter ist sechsundsiebzig, Miss Devine. Eine vollkommene Erholung von einem schweren Schlaganfall wie diesem ist in ihrem Alter sehr unwahrscheinlich.« Ihr geschäftsmäßiges Lächeln sagte alles.

»Was wir für sie tun können, ist, es ihr bequem zu machen. Und beten.«

»Sie ist stabil, Daphne. Und das scheint das Beste zu sein, was man erhoffen kann.«

Lydia stand mit dem Hörer im Flur des stillen Hauses und versuchte, mit der Einsamkeit dieser unvorstellbaren Situation zurechtzukommen.

Daphne konnte die Angst und Resignation in ihrer Stimme hören.

»Ach, sie kommt schon durch«, sagte Daphne. »Ich weiß es genau. Deine Mutter ist stark wie ein Ochse.«

»Nein, sie wird nie mehr so werden wie früher.« Lydia merkte, wie ihr Gleichmut sie verließ und ihre Worte außer Kontrolle gerieten.

Es war das erste Mal, seit sie erwachsen waren, dass Daphne ihre Freundin weinen gehört hatte. »Hör zu, ich komme zu dir und wir gehen aus«, sagte sie. »Das wird dich auf andere Gedanken bringen. Gib mir zehn Minuten.«

Bevor Lydia protestieren konnte, hatte Daphne schon aufgelegt.

»Ich weiß ja, dass du keinen Alkohol magst«, sagte Daphne und hielt eine Flasche hoch, »aber ich bestehe darauf, dass du ein Glas Sherry mit mir trinkst. Es wird dich beruhigen, ich verspreche es dir, es ist die Medizin der Götter.«

Sie lächelte ihre Freundin an, damit gar nicht erst bedrückte Stimmung aufkam. »Holst du uns Gläser?«

Sie gingen ins Wohnzimmer mit den chintzbezogenen Möbeln, in dem alles an Elizabeth erinnerte. Ihre Handarbeiten waren überall: der bestickte Pfauenschirm vorm Feuer, die gehäkelten Sofaschoner, die Spitzendeckchen auf dem Glastisch. Lydia traten die Tränen in die Augen, als sie all diese Zeugnisse einer glücklicheren Zeit ansah, in der ihre Mutter noch gute Augen und gewandte Finger gehabt hatte. Die ihr in einer einzigen Nacht grausam gestohlen worden waren.

Lydia trank den Sherry und hörte zu, wie Daphne von Bekannten ihrer eigenen Mutter berichtete, die in etwa gleich alt waren und Schlaganfall erlitten hatten. Alle hatten sich wieder vollständig erholt und diese Nachricht heiterte sie auf. Für den Moment war die düstere Prognose der Oberschwester vergessen.

»Ach, was ich dich fragen wollte«, sagte Daphne. »Hast du etwas von Mr McCloone gehört?«

»Ach du meine Güte! Den hatte ich ja total vergessen!«

»Das ist ja verständlich. Leider hattest du wichtigere Dinge, um die du dich kümmern musstest.«

Lydia stand auf. »Sein Brief liegt irgendwo in der Küche. Ich hole ihn.«

Sie überflog ihn schon beim Hereinkommen.

»Oje! Es ist schon übermorgen!« Sie reichte Lydia den Brief. »Was soll ich nur machen?«

»Na, hingehen, natürlich.«

»Nein, das kommt gar nicht infrage. Es wäre meiner Mutter gegenüber nicht richtig, so wie es ihr geht.«

Sie ließ sich ins Sofa sinken und dachte daran, wie sorglos sie gewesen war, als sie Frank Xavier McPrunty getroffen – oder eben nicht getroffen – hatte, und wie schnell sich seitdem alles verändert hatte, so schnell und dramatisch wie ein Pantomimenbühnenbild.

Daphne, die die Gedanken ihrer Freundin zu lesen schien, goss ihr noch ein Glas Sherry ein, obwohl Lydia protestierte.

»Ach komm schon. Da ist doch fast kein Alkohol drin.« Sie wandte sich wieder Mr McCloones Brief zu.

Farmhaus
Duntybutt
Tailorstown

Liebe Miss Devine,

ich freue mich, Ihnen sagen zu können, dass ich Sie am Donnerstag, den 14. August um halb vier sehr gerne kennenlernen möchte.

Wahrscheinlich sollte ich Ihnen mitteilen, wie ich aussehe, denn es wäre ja schrecklich, wenn wir uns nach all dieser Zeit verpassen würden.

Ich bin etwa einen Meter einundsiebzig groß und von schlanker Gestalt, und wahrscheinlich sehe ich so alt aus, wie ich bin, denn über so etwas würde ich nicht lügen, denn die Lüge könnte man mir ja gleich am Gesicht ablesen, also hätte sie gar keinen Sinn.

Ich trage einen torfbraunen Anzug. Wenn ich vor Ihnen ankomme, setze ich mich an einen Tisch und warte dort auf Sie mit einem Radler vor mir, aber sollte ich mich aus irgendeinem Grund verspäten, trage ich eine zusammengerollte Ausgabe des Mid-Ulster Vindicator unter dem rechten Arm, so als Zeichen.

Ich freue mich wirklich sehr darauf, Sie kennenzulernen, Miss Devine, und zähle jetzt schon die Tage, denn ich glaube wir haben viele Gemeinsamkeiten und werden uns unheimlich gut verstehen.

Mit freundlichen Grüßen
James Kevin Barry Michael McCloone

»Oje«, sagte Daphne, »du musst dich mit ihm treffen. Es wäre schrecklich, wenn du ihn versetzt.« Sie griff nach ihrem Sherryglas.

»Aber Daphne, wie sieht das denn aus, wenn ich hinter Männern herlaufe, während es meiner Mutter so schlecht geht?«

»Lydia, deine Mutter ist stabil. Und das Treffen wird nicht länger als eine halbe Stunde dauern. Danach kannst du sie ja immer noch im Krankenhaus besuchen. Und glaub mir: Niemand würde dich je bezichtigen, hinter Männern herzulaufen, das ist eine völlig falsche Sicht auf die Dinge.« Daphne schluckte den Rest Sherry herunter und setzte das Glas energisch ab.

»Aber ich ...«

»Nein, bitte lass mich ausreden. Der arme Mann sagt doch, dass er die Tage zählt, also kannst du dich wenigstens mit ihm treffen und ihm sagen, was mit deiner Mutter ist, und dass jetzt alles anders ist. Sag ihm, dass du eigentlich nur jemanden gesucht hast, der dich zur Hochzeit einer Freundin begleitet, und dass du wegen der Krankheit deiner Mutter jetzt gar nicht hingehen kannst.«

»Aber ...«

»Kein aber. Du schuldest Mr McCloone wenigstens eine Erklärung, und das wäre mehr, als du dem armen alten Frank Xavier McPrunty gegeben hast.« Daphne verzog das Gesicht zu einem gespielten Tadel, und Lydia musste gegen ihren Willen lächeln.

»Wahrscheinlich hast du recht. Es hört sich jedenfalls so an.«

Daphne grinste. »Natürlich habe ich recht. Und nun hol deinen Mantel. Ich lade dich zum Essen ein.« Sie hob die Hand. »Und ich dulde keinen Widerspruch.«

»Ich kann nichts essen, Daphne.«

»Aber, aber, natürlich kannst du etwas essen, und wenn du wirklich nichts willst, dann guckst du mir eben beim Essen zu.«

Offensichtlich konnte sie hier nicht mehr anders herauskommen, als mitzugehen.