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Er schrubbte den Boden auf knochigen Knien und hielt die Drahtbürste mit den blau angelaufenen Händen umklammert. Er nahm sich immer vier große Platten auf einmal vor, wobei sein Körper mechanisch vor- und zurückschwang, dann wischte er den Dreck mit einem fettigen Lappen auf und wrang ihn in einem Eimer aus. Vierhundertfünfzig Fliesen gab es im Speisesaal, und er hatte nur noch hundert vor sich.
Alle fünf Minuten kroch er zum nächsten Viereck, zerrte den Eimer knirschend auf dem gesprenkelten Terrazzoboden hinter sich her, setzte die Knie auf das durchnässte Handtuch, spülte den Lappen, drückte ihn aus und schrubbte weiter – schrubbte und schrubbte, bis die grauen Flecken unter seinen entschlossenen Bewegungen weiß geworden waren, bis sein Herz raste und alles Gefühl aus seinen Armen wich.
Mutter Vincent kontrollierte ihn mit ihrer Taschenuhr, ab und an erschien sie in der geöffneten Tür und zog sich entweder befriedigt zurück oder kam wütend auf ihn zu. Er fürchtete sich vor dem Klang ihrer harten Absätze, die durch den leeren Raum knallten, als hämmere sie auf sein Herz ein.
»Das langt nicht, Sechsundachtzig! Fünf Minuten für jede Abteilung habe ich gesagt!« Ihre Worte prallten wie Gewehrkugeln von den Wänden, der Boden unter ihm begann zu wanken.
Er kniete mit erhobenem Gesicht zu ihren Füßen, die geschwollenen Hände in Büßerpose gekreuzt: Der heilige Franziskus im Angesicht der Leidgeprüften.
»Tut m... mir l... leid, Schwester«, stammelte er.
»Wie alt bist du jetzt, Sechsundachtzig?«
Er wusste nicht, wie alt er war, aber wenn er das eingestanden hätte, das wusste er genau, hätte er sich eine schallende Ohrfeige eingefangen, vielleicht nur eine, vielleicht auch viele. Das hing davon ab, wie es Mutter Vincent ging. Er dachte scharf nach. Er erinnerte sich an die Uhrzeit, als er den Speisesaal betreten hatte. Da war es sieben Uhr dreißig gewesen. Er rutschte auf dem durchnässten Lappen hin und her und sah weiter zu ihr auf, damit er weder den geprägten Ledergürtel sah, der von ihrer Taille herabbaumelte, noch den Rohrstock in ihrer Hand.
»Siebeneinhalb, Schwester.«
»Richtig«, sagte sie mit einem höhnischen Grinsen wegen der Ungenauigkeit seiner Schätzung. Vor fünf Jahren hatte sie ihn von der Türschwelle aufgehoben, aber warum sollte sie ihm sein wahres Alter ver raten? Diese Hurensöhne hatten nichts verdient.
»Siehst du die Uhr dort?« Überflüssigerweise deutete sie auf die Wand. »Sie hängt da, damit du immer genau weißt, wie spät es ist. Du gehst jetzt drei Abteilungen zurück und fängst wieder von vorne an.« Die letzten Worte stieß sie wütend hervor, wobei sie sich weit zu ihm herunterbeugte. Furcht schnürte ihm die Kehle zu. Sie starrte ihm in die Augen.
»Sag mir, warum du hier bist, Sechsundachtzig.«
»Weil ...« Er schluckte die Tränen herunter. »Weil ich böse bin und meine Mami mich nicht ha... haben wollte ... und weil sie mich hierhergebracht hat, weil ...«
Er brach verängstigt ab. Ihr starrer Blick und das aufgedunsene Gesicht ließen ihn an vermummte Gestalten im Wald denken, an den Tod und vergrabene Leichen, an Grabsteine im Dunklen.
»Hör auf damit! Sofort!« Sie schlug ihm ins Gesicht, packte ihn an der Schulter und zerrte ihn zu einer Bank an der Wand. Sofort kletterte er hinauf.
»Steh gerade!« Jetzt waren sie auf Augenhöhe. »Weißt du, warum deine Schwester nicht hier ist, Sechsundachtzig?«
Er kniff die Augen zusammen. Er wollte das Wort nicht aussprechen. Aber ein weiterer Schlag auf die Wange brachte ihn dazu.
»Ge... gestorben, Schwester.«
»Sie ist gestorben. Richtig. Sie ist gestorben.« Sie spuckte ihm das entsetzliche Wort ins Gesicht. »Deine Mutter hat euch beide in einer Einkaufstüte auf unsere Türschwelle gelegt. Da war deine Schwester schon tot. Dich haben wir gerettet.« Der Junge sah auf seine Füße herab, Tränen kullerten ihm aus den Augen. »Wären wir nicht gewesen, wärst du auch gestorben, du undankbarer, diebischer kleiner Teufel.«
Sie zerrte ihn von der Bank und schleuderte ihn auf den Boden. Er stieß gegen den Eimer, sodass das Wasser überschwappte. Nun kniete er auf allen vieren in der dreckigen Pfütze und konnte nicht aufstehen.
»Sieh dir doch an, was du getan hast!« Sie löste den Riemen von der Taille.
Er krümmte sich schreiend unter den Lederhieben zusammen, denn er glaubte, je mehr er sich anspannte, desto weniger schmerzhaft wäre es. Eine instinktive, aber nutzlose Taktik, die er schon viele Male angewandt hatte.
Dann hörte sie auf. Er hörte ihren schnellen Atem und spürte den brennenden, pochenden Schmerz. Er nahm den feuchten Lappen in die Hand und versuchte, die »Sünde«, derer er gerade für schuldig befunden worden war, zu tilgen.
»Ich bin noch nicht fertig mit dir, Sechsundachtzig.« Sie zerrte ihn auf die Füße. »Ich warte, Sechsundachtzig. Warum hat deine Mutter dich hier abgeliefert?«
»Weil sie w... wollte, d... dass ich lieb werde, Schwester?« Er bebte am ganzen Körper, als sich die Worte Bahn brachen.
»Und wenn du nicht lieb bist und deine Arbeit nicht machst, was passiert dann?« Sie sah ihn mit abgrundtiefer Verachtung an. Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn. Dann entblößte sie grinsend ihre schlechten Zähne.
»Dann wird Gott mich st... strafen, und meine Ma... Mami kommt mich nicht abholen.«
»So ist es.« Sie richtete sich auf. »Und nun sieh zu, dass du an die Arbeit gehst, sonst darfst du heute nicht ins Bett und bekommst morgen kein Frühstück.«
Sie marschierte zur Tür, doch dann blieb sie stehen. Sofort bückte er sich über die Fliesen, denn er hatte Angst, dass sie zurückkommen könnte.
»Sechsundachtzig, wechsel das Wasser, wenn es dreckig ist. Hast du gehört? Wenn du den Boden vom Eimer nicht mehr sehen kannst, musst du frisches Wasser holen. Hast du das verstanden?«
»Ja, Schwester.«
Und damit ließ sie ihn ganz allein in einem Sog von Angst und Gefahr in der freudlosen Halle zurück, mit dem Eimer, der Bürste und seinem kleinen, hämmernden Herzen.
Zwei Stunden später – die Arbeit war beendet – lag er im beengten Schlafsaal. Drei Reihen mit insgesamt sechsundneunzig Betten. Sechsundneunzig Jungen, ausgehungert nach Liebe und Nahrung, die kaum Schlaf fanden. Sechsundneunzig gnadenlos Zurückgestoßene, auf die nie eine wolkenlose Sonne scheinen würde.
Sie waren alle unter zehn, aber keiner von ihnen kannte sein Alter oder wusste, was es mit Geburtstagen und Geschenken auf sich hatte, oder dass zu Weihnachten der Weihnachtsmann kam. In all den langen Jahren im Waisenhaus hatte sie nie jemand in den Arm genommen oder angelächelt, hatten sie nicht einmal Fleisch gegessen oder Messer und Gabel benutzt. Sie wussten nicht, wie es sich anfühlte, ein warmes Bad zu nehmen oder unter Baumwolllaken zu liegen.
Ihr einziges Vergehen war, dass ihre Mütter gestorben oder zu arm gewesen waren. Oder zu ängstlich, um den Menschen vom Amt, von denen sie für unfähig gehalten wurden, ihren Mutterpflichten nachzukommen, Widerstand entgegenzusetzen. Die Kinder zahlten für die »Liebe«, die sie in die Welt gebracht hatte: Eine Liebe, die in den »heiligen« Augen ihrer »Betreuerinnen« verdorben war, weil sie zwischen niederen Kreaturen stattgefunden hatte – zwischen armen Leuten.
Sechsundachtzig lag zusammengerollt wie ein kleines Häschen in seinem winzigen Nest, die Decke über den Kopf gezogen. Rücken, Knie, Hände waren immer noch schmerzhaft verspannt. In Gedanken war er unten in der verlassenen Halle und schrubbte Fliese um Fliese. Er konnte keinen Schlaf finden.
Um ihn herum warfen sich seine Leidensgefährten stöhnend im Halbschlaf herum, die dünnen Decken hoben und senkten sich im angsterfüllten Rhythmus ihrer Träume. Der Wind pfiff durch die Fensterritzen. Er schlug die Decke zurück und spähte ängstlich darunter hervor. Irgendwo klapperte eine Tür. Konnte das die Tür des Schuppens sein, in dem die Putzsachen aufbewahrt wurden?
Alarmiert stützte er sich auf die Ellenbogen und versuchte, das Geräusch auszumachen und herauszufinden, woher es kam. Er erinnerte sich daran, den Eimer und die Bürste weggestellt zu haben, aber hatte er die Tür zugehakt? Er wusste es nicht mehr. Seine Gedanken jagten im Kreis herum und langsam nahm die Folge dieser Nachlässigkeit eine entsetzliche Gestalt an: fünfzehnmal mit dem geprägten Gürtel hintendrauf. Er musste hinuntergehen und sie verriegeln.
Er warf die Decke zurück, streckte seine wunden Beine und ließ sich auf den Boden herab. Es war den Kindern streng verboten, nach zehn Uhr die Betten zu verlassen. Aber er musste einen Verstoß begehen, um den Folgen eines anderen zu entkommen.
Die Schritte seiner bloßen Füße hallten auf dem kalten Steinboden wider, als er an den Schlafenden vorbeiging. Ein Junge wimmerte mit dünnem, klagendem Ton unter seiner Decke, als wollte er ihn zurückhalten. Aber er ging vorbei, schloss die Tür leise hinter sich und fand sich in der Dunkelheit des Flurs.
Allmählich konnte er die Treppenpfosten im ersten Licht der Dämmerung vom Fenster her ausmachen. Er wurde sich bewusst, was für ein Risiko er einging, und lief auf Zehenspitzen an den Türen der Mutter Oberin und Direktor Keaneys vorbei. Eine verräterische Diele knarzte, und er stoppte abrupt, entsetzt von der Vorstellung, gehört worden zu sein. Für einen Moment hielt er den Atem an, den Fuß über der Diele erhoben. Dann hörte er die Schuppentür schlagen, als wollte sie ihn warnen, bloß weiterzugehen. Nun wurde er schneller und sprang geräuschlos die Treppe hinunter, alle Angst hinter sich lassend. Nur voranzukommen zählte.
Draußen kämpfte er mit dem Wind gegen die sturmgepeitschte Tür. Sein Nachthemd blähte sich wie ein Dämon im Angesicht eines Exorzisten auf, dann klebte es an seinem Körper. Er war zu klein und hatte nicht genug Kraft. Mit den bloßen Füßen rutschte er auf dem nassen Gras aus, fiel auf den Bauch und blieb dort liegen. Die Feuchtigkeit kroch unter das Nachthemd, und mit der Wange an der Grasnarbe horchte er ganz weit nach unten, dorthin wo – wie ihm jeden Tag versichert wurde – die Höllenfeuer unheilbringend wüteten.
Doch er hatte keine Zeit zu verlieren. Schnell stand er wieder auf. Mit seinem ganzen Gewicht stemmte er sich mit dem schmerzenden Rücken gegen die Tür, bis sie schließlich nachgab. Er hämmerte mit seiner kleinen Faust auf den rostigen Haken und rannte sofort unendlich erleichtert zurück.
Doch oben an der Treppe angekommen, blieb er abrupt stehen. Die Tür zu Keaneys Zimmer stand offen. In der Dunkelheit konnte er ihn spüren und seinen fauligen Atem riechen. Furcht schnürte ihm die Kehle zu. Ihm war, als falle ein Vorhang. Er rief still nach der Mutter, die er nie gekannt hatte, und nach dem Gott, der ihn nie erhörte, als eine schwere Hand auf seine Schulter fiel und ihn grob in das Zimmer schubste.