22

Am Nachmittag desselben Tages wusste Lydia nicht so recht, was sie mit sich anfangen sollte. Ihre Mutter hatte sich hingelegt, um wie üblich vor dem Abendessen ein Nickerchen zu machen. Lydia wäre gerne im Schlafzimmer geblieben und hätte gelesen, aber ihre Mutter schnarchte so laut, dass das vollkommen ausgeschlossen war.

Sie konnte sich natürlich ins Wohnzimmer setzen, aber dann riskierte sie ein neuerliches Zusammentreffen mit Gladys, musste ein Glas Portwein annehmen und weitere Ratschläge über die verschiedenen Wege zum Herzen eines Mannes über sich ergehen lassen.

Nein, sie würde einfach hinausgehen und sich eine ruhige Stelle mit schönem Ausblick auf den Strand suchen, sich dort einfach nur umsehen oder in ihren Roman vertiefen. Sie schrieb ihrer Mutter einen Zettel, dass sie in einer Stunde wieder zurück wäre, und legte ihn auf ihren Nachttisch. Dann legte sie ihr schottisches Plaid zusammen und verstaute es mit dem Roman von Georgette Heyer im Korb.

Sie warf einen Blick in den Spiegel und war ausnahmsweise einmal erfreut. Die Schulferien und die Meeresluft taten ihr gut. Ihre Augen leuchteten, sie hatte eine gesunde Gesichtsfarbe. Sie hatte den Rat ihrer Tante befolgt und einen knielangen Cordrock und eine Chiffonbluse mit einem Spitzenjabot gewählt, statt des üblichen einfachen Etuikleides. Das Grün der Bluse stand ihr sehr gut. Gladys hatte recht. In Zukunft würde sie mehr in dieser Farbe kaufen.

»›Zeit, mal mit dem Leben anzufangen, Liebes.‹ Ja, vielleicht mache ich das jetzt mal«, sagte Lydia zu ihrem Spiegelbild. Ihre Mutter regte sich im Bett und sie verließ das Zimmer so schnell und so leise wie möglich.

Es war angenehm warm, wenn auch leicht bewölkt, als Lydia vor die Tür trat. Eine starke Brise blies vom Atlantik her, als sie auf der schmalen Promenade um einen großen Felsvorsprung herum am Strand entlangging.

In der Ferne schimmerte der Sand wie ein goldener Schal und zog müde Reisende und Sonnenanbeter an. Vielleicht sollte sie auch zu den Strandliebhabern hinuntergehen, die sich dort vergnügten. Aber eigentlich wollte sie nur allein sein. Als sie die nächste Ecke umrundet hatte, war sie froh, einen Platz in der Sonne zu entdecken. Dort legte sie ihr Schottenplaid aus und setzte sich. Vorsichtig zog sie das lederne Lesezeichen – das Weihnachtsgeschenk einer ehemaligen Musterschülerin, Susan Peake – zwischen den Seiten 128 und 129 hervor und begann zu lesen.

Jamie stand in dem engen Anzug und den auffälligen Schuhen vor den verzierten Toren des Ocean Sprays und fragte sich, was er wohl tun sollte. Um halb fünf war es noch zu früh, um in eine Kneipe zu gehen. Er schlenderte die Straße hinunter und wollte sehen, was im Kino lief, doch als er am Odeon ankam, hatte der Film längst angefangen. Ein großes Plakat neben der Tür verkündete, dass Der junge Frankenstein schon um halb drei begann.

Er wandte sich nach links und ging die Hauptstraße hinunter. Es bedrückte ihn etwas, als er an den Läden und Cafés vorbeikam, denn er erinnerte sich noch gut an seinen letzten Besuch mit seinem lieben Onkel. Wie glücklich er damals gewesen war! Und hier war auch Cassidys Laden mit den Süßigkeiten, in dessen Schaufenster bunte Schachteln und Bonbongläser ausgestellt waren. Er dachte wieder daran, dass Mick eine Schachtel Marlboro für sich und eine große Tüte gemischte Lakritze für ihn gekauft hatte. Er wollte seinem Onkel die Ehre erweisen und um der guten alten Zeiten willen dasselbe tun.

Der Laden war dunkel und schmal und glich eher einem Flur als einer Verkaufsfläche. Er ließ die Glocke auf dem Tresen erklingen und hörte ein Schlurfen, gefolgt von einem brüchigen »Komme ja schon!«. Er wunderte sich, sah sich überall um, konnte aber niemanden entdecken. Die Regale hinter dem Tresen waren mit Bonbonschachteln und Schokoladenriegeln zugestellt. Am Fenster waren einige so verblichen, dass nur noch der Geist einer lächelnden Schönheit oder eines Blumenstraußes zu erahnen war. Jamie wollte sich eigentlich einen Riegel Schokolade gönnen, aber als er den Zustand der Verpackung sah, änderte er seine Meinung. Die Schokolade war bestimmt geschmolzen, das war nur Geldverschwendung.

Er schlug noch einmal auf die Glocke, und auf einmal sah er zwei knotige, haarige Hände, die sich um den Tresen klammerten. Auch der Kopf eines kleinen Mannes tauchte langsam auf. Über einer Drahtbrille prangten buschige Augenbrauen und aus seinen Ohren wuchsen schlohweiße Haarbüschel. Er war so gebeugt, dass sein stoppeliges Kinn gerade eben über den Tresen lugte.

»Eine Tüte gemischte Lakritze und zwanzig Marlboro, bitte.«

»Was?« Der kleine Mann legte eine Hand hinter sein Ohr und verzog verwirrt das Gesicht.

»Eine grosse tüte gemischte Lakritze«, schrie Jamie, »und zwanzig Marlboro, bitte.«

Ihm kam es so vor, als hätte er den Großteil des Tages geschrien.

Der Ladeninhaber rieb sich das Kinn und nickte. Er schlurfte zu einer schiefen Leiter und kletterte an einem Regal hoch. Jamie sah ihm zu, wie er mit einem großen Gefäß mit Lakritze kämpfte, und erwartete fast, dass er unter dem Gewicht von der Leiter fallen würde. Doch nach einigen Umständen hatte er es schließlich geschafft und versuchte dann, sich wieder etwas aufzurichten.

Das Abwiegen und Eintüten der unterschiedlichen Sorten von Lakritze schien den alten Mann über die Maßen zu beanspruchen. Er keuchte und schnaufte und kritzelte zittrige Ziffern mit dem Bleistift in eine Kladde. Jamie fürchtete, dass der winzige Mann ohnmächtig werden und vor lauter Anstrengung, das Gewünschte zusammenzustellen, sterben würde, und dass man ihn für seinen Tod verantwortlich machen würde. Deswegen nahm er seine Süßigkeiten an sich und verließ eilends den Laden.

Drei Häuser weiter sah er die Schneekoppe und beschloss, ihr seiner Tante Violet zuliebe einen Besuch abzustatten. Er drückte die Glastür auf und ein kratzendes Klingeln ertönte. Es war äußerst seltsam, mitten in dem zu stehen, was einmal das Wohnzimmer seiner lieben Tante gewesen war. Wo der Kamin gewesen war, dröhnte jetzt eine Eismaschine und am früheren Platz der Couch stand jetzt eine Glasvitrine mit verschiedenfarbigen Eissorten. An den Wänden und auf den Tischen waren Souvenirs aller Art ausgestellt.

Jamie betrachtete die Auslagen: Kobolduhren, Schlüsselringe mit reetgedeckten Hütten, Kulis und Bleistifte aus Knüppeln, Schmuck »Für Sie und für Ihn«, Manschettenknöpfe mit irischen Kleeblättern, Connemara-Broschen, keltische Kreuze (»Silberkette gratis dazu«), Devotionalien aller Art, der Heiland am Kreuz auf einem Berg (»original irischer Torf«), verschiedene Gipsbüsten des heiligen Patrick – auf einem Feld inmitten einer Schafherde, eine Schlange mit bloßen Händen zu Boden ringend und auf einem Berg kniend, den Kopf im Gebet gesenkt. Es gab Gegenstände zum Gebrauch und Nippsachen: Körbe aus Muscheln, Engel aus Buntglas, Schals mit Aran-Muster, karierte irische Topflappen, Taschentücher aus irischem Leinen, eine Gruppe Bauernhoftiere (»Auf dem Transport beschädigt« und »Ausverkauf«) – ein rosa Schwein mit einer eingedrückten Schnauze zum halben Preis, ein Deutscher Schäferhund ohne Ohren, eine dreibeinige Kuh, ein Grüppchen Entenküken mit ihrer einbeinigen Mutter (»Das andere Bein ist hinter dem Tresen, bitte fragen Sie danach.«).

Die kleine Katie Madden zog ihrer Puppe Mindy gerade ein Ballettkostüm an, als sie die Ladenklingel hörte. Ihre Eltern hatten ihr aufgetragen, auf den Laden aufzupassen, solange sie zu Mittag aßen. Sie setzte Mindy auf der Fensterbank ab und kam ihrer Pflicht nach.

Im Laden stand ein schwarz gekleideter Mann. Er hatte eine beschädigte Ente in der Hand und betrachtete sie genau.

Jamie hörte eine Kinderstimme hinter sich. »Kommen Sie zurecht?«

Hinter ihm war ein molliges, etwa zehn Jahre altes Mädchen aufgetaucht. Sie hatte ein rosafarbenes, sommersprossiges Gesicht und betrachtete Jamie aufmerksam mit kleinen Augen hinter einer rosa Brille. Ihr flaumiges blondes Haar war zu hohen Zöpfen geflochten, die mit kleinen Fellhäschen zusammengehalten wurden. Sie hatte die Arme verschränkt, die offensichtlich vor Kurzem zu viel Sonne abbekommen hatten. Ihre Hautfarbe glich fast der ihres ärmellosen rosa Kleides.

Verlegen stellte Jamie die Ente zurück.

»Ja, ich guck mich nur ein bisschen um.«

Er las die Preisliste über ihrem Kopf durch und betrachtete die unterschiedlichen Eissorten in der Vitrine. »Welches ist denn das Beste?«

»Das Rosa ist das Beste«, sagte Katie ohne zu zögern und guckte Jamie hoffnungsvoll an.

»Ja, dann nehme ich das, bitte.«

Sie lächelte. »Im Becher oder als Waffel-Sandwich?«

Jamie kratzte sich den Kopf.

»Als Sandwich schmeckt’s viel besser.« Katie wollte gerne das große Messer benutzen, das ihr Vater ihr ausdrücklich verboten hatte. Falls jemand ein Waffel-Sandwich wollte, sollte sie ihn rufen.

Nachdem sie die verbotene Arbeit ausgeführt und den Eisblock guillo tiniert hatte, ohne sich zu schneiden, fühlte sie sich mutiger. Ihr fiel ein, dass ihre Mutter immer sagte, je länger man einen Kunden im Laden behielt, desto mehr kaufte er.

»Wollten Sie die kleine Ente eigentlich kaufen?« Sie schob ihre rosa Brille auf ihrer rosa Nase hoch und lächelte Jamie noch einmal an. »Das Beinchen hab ich hier in der Schublade.«

»Nein danke, ich hab eigentlich keine Verwendung für eine Ente.« Er sah, wie enttäuscht das Kind war. »Aber weißt du, ich nehm vielleicht die Topflappen.« Er dachte an Rose. Zur Freude des kleinen Mädchens kaufte Jamie auch noch ein Feuerzeug in einem knorrigen Holzstück und eine irische Kobolduhr für sich selbst.

Nach diesem Einkauf war Jamie so glücklich wie die kleine Katie. Er verließ den Laden mit seiner Tüte voller Geschenke und schlenderte auf der Promenade am Strand entlang, sein rosa Eissandwich leckend.

Beim Lesen war Lydia der Betrieb vor einer kleinen Holzbude etwas weiter die Küste herunter aufgefallen. Meistens gingen Frauen alleine hinein, ihre Freunde oder Partner warteten draußen. Sie fragte sich, was es damit auf sich hatte, und beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie faltete die Decke zusammen, verstaute sie mit ihrem Roman im Korb und lief den Hügel hinab.

Als sie sich der Bude näherte, wurde ihr alles klar. Ein grelles Schild versprach: Expertin Madame Calinda liest ihnen aus der Hand. Roma-Helseherin. 30 Jahre Erfarung. Bekannt aus dem Fernseen.

Das machte Lydia neugierig, denn sie hatte eigentlich gedacht, Hell sehen sei ausgestorben so wie Feuerschlucker und doppelköpfige Zwerge. Während sie noch dort vor dem Schild stand (und die Lehrerin in ihr sich über die Rechtschreibung aufregte), hörte sie drinnen etwas rumpeln. Dann steckte eine Frau ihren Kopf durch den Perlenvorhang, der über der Halbtür hing.

»Mädel, Sie woll’n ihr Schicksal vorausgesagt ham.«

Die Frau sprach mit starkem Akzent. Sie war um die sechzig und ihre ganze Erscheinung erinnerte an frühere Zeiten. Sie war stark geschminkt und trug ein groteskes hochtoupiertes Nest aus hennarotem Haar auf dem Kopf, aus dem Mundwinkel hing eine Zigarette und ihre Lippen sahen aus, als hätte sie sich von einer Dreijährigen schminken lassen.

»Mein Schicksal?« Lydia zögerte, die grelle Aufmachung der Frau stieß sie ab. »Nein, ich glaube lieber nicht.«

»Aber ich seh Grroßes für Sie vorraus, Mädel.« Sie zog an ihrer Zigarette und als sie die Asche abschnippte, klirrten ihre Armreifen. Ihre metallischen Nägel blitzten in der Sonne auf. »Ich bin nicht teuer, und wer weiß, ob Se nochmal so ’ne Chance krriegen.«

Lydia dachte an die Behauptung ihres Vaters, dass alle »Wahrsagerinnen Handlangerinnen des Teufels« seien. Und an Gladys’ Worte: »Zeit, mal mit dem Leben anzufangen, Liebes.« Mit diesen beiden Belehrungen im Hinterkopf schlüpfte sie schnell in die Bude.

Die Luft in dem winzigen Raum stank nach gebratenem Speck. Offensichtlich hatte »Madame Calinda« versucht, den Geruch mit Räucherstäbchen zu überdecken. Leider vergeblich. An den Wänden hingen dicke Samtvorhänge und schreiend bunte Tücher. Lydia setzte sich der Wahrsagerin gegenüber an den Tisch und hielt ihr die Hände über dem samtenen Tischtuch hin.

»Errst Ihre drei Kröten, Mädel, dann guck ich rein in die Hand.«

Lydia reichte ihr die Scheine, die in der Tasche ihres voluminösen Kaftans verschwanden.

»Und jetz mach ich ’n silbernes Kreuz auf Ihre Hand.«

Madame fasste sich ins tiefe Dekolleté und zog eine alte Half-Crown-Münze hervor, mit der sie ein Kreuzzeichen auf Lydias linker Handfläche machte. »Weit ist es von mir, in Ihr’m Leben zu spionier’n, Mädel, aber gibt es da ein Buhb in Ihr’m Leben?« Sie sah Lydia tief in die Augen.

»Wie bitte? Ein was?«

»Ein Buhb, ein Bursche.« Madame Calinda hatte sich so viel Kajal um die Augen aufgetragen, dass man den Eindruck gewinnen konnte, sie sei just dem Schornstein entstiegen.

»Ach so, einen Bub.« Lydia schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe keinen.«

»Tja, ganz bald, da haben Se einen. Verrstehen Se, Mädel?«

Lydia nickte.

»Tja, der Wahrheit alle Ehre. Woll’n Se vielleicht ’nen kleinen Schluck?«

»Nein, danke.« Lydia wurde rot.

»Tja, bald, da trrinken Se auch öfters was. Verrstehen Se, Mädel? Ich sehe, wie Se mit vielen zusammenstehn, vielleicht ’ne Hochzeit, und Se sind mit eim Bursche da, und der nimmt auch kräftig ein zur Brust.«

»Können Sie mir noch etwas mehr über diesen Mann sagen?«, fragte Lydia, die sich für die Sache zu erwärmen begann. »Habe ich ihn schon kennengelernt?«

»Tja, der Wahrheit alle Ehre, Mädel, aber ham Se nun gesagt, dass Se schon einen Buhb ham? Ham Se das gesagt?«

»Nein. Ich habe keinen Mann.«

»Na ja, Se ham ihn vielleicht noch nich kenngelernt, aber das heißt ja auch wiederrrum nich, dass er noch nich auf’er Bühne is. Wenn Se mich richtig verstehn, Mädel. Der spricht ganz bald mit Ihnen.«

Lydia nickte verwirrt, aber es war wohl das Beste, in diesem Stadium keine Fragen zu stellen.

»Sie sind ’ne Frau, die sich gern schön anzieht. Stimmt das wohl, Mädel?« Sie sah, wie Madame den Spitzeneinsatz ihrer Bluse betrachtete.

»Ja, ich denke schon.«

»Schöne Sachen gefall’n Ihnen, und es stört Se nich weiter, wenn Se dafür was ausgeben müssen. Stimmt das wohl, Mädel?«

»Hm ...«

»Ich sehe einen viel älteren Mann, der is nich mehr. Das is wohl Ihr Vater, Mädel?«

Lydia sah Madame erschrocken an.

»Der Wahrheit alle Ehre, und er war grrausam streng mit Se, Mädel? Stimmt doch, oder? Und ’n Mann der Kirche war er obendrrein. Und an einem dritten Tag von eim Monat, da isser gestorben.«

Madame steckte sich wieder eine Zigarette an. Lydias Herz hämmerte. Die Hellseherin hatte die knallroten Augenlider niedergeschlagen und fuhr mit der Untersuchung der Handfläche fort.

»Tja, dieser Bursche ist vielleicht ein bisschen roh, aber das Herz hat er auf dem rrichtigen Fleck, und ein gutes Herz is was Seltenes in dieser Welt. Er trinkt ganz gern ein, und lacht gern und rraucht, wie der Rest von uns, Mädel, und ihr beide kommt euch nah, ob Se das nun woll’n oder nich, denn ich kann ihn sehn, hier in der Hand, die Se mir hier zeigen, verrstehen Se mich.«

Lydia rutschte hin und her. »Tja, ich seh ’ne alte Frau, älter als Sie, und sie ist Ihn’ ganz nah, und sie muss alles leichter nehm’n, denn sie sorgt sich unterbrochen, und unterbrochen sorgen is nich gut, wenn man so’n paar Jahre auf’m Puckel hat.

Aber davon mal ab, gibt es nix, Mädel, worüber Se sich Sorgen machen müssen ... die Zukunft ist helle, wenn Se es denn so wünschen wollen. Verrstehn Se mich, Mädel? Und der Wahrheit alle Ehre, aber ich wünsch Ihnen so viel Glück und so viel Freude, wie Se verrdient ham, denn bis jetz wars nich so leicht, aber jetz wird’s leichter, denn das is, was ich in der Hand seh, die Se mir hier zeigen.

Madame Calinda drückte Lydia fest die Hand.

»Viel Glück, Mädel.«

Lydia dankte ihr und ging hinaus. Sie hatte noch nie so eine Erfahrung gemacht und war völlig durcheinander. Die grell bemalte Bude hatte sie als eine Art Mutprobe betreten – eigentlich um etwas zum Lachen zu haben –, aber sie war verwirrt und staunend wieder herausgekommen. Wie konnte Madame Calinda das mit ihren Eltern wissen? Die Wahrsagerin hatte ihr einen Spiegel vorgehalten, in den sie eigentlich gar nicht hineinsehen wollte.

Sie ging den Hügel wieder hoch, kam an dem Platz in der Sonne vorbei, den sie freigegeben hatte, aber sie wollte sich dort nicht wieder hinsetzen. Etwas war anders. Die Erfahrung mit der Wahrsagerin hatte ihre Wahrnehmung einschneidend verändert, und so gerne sie sie auch als Hochstaplerin abtun wollte, so wusste sie doch, dass ihre Worte sie auch wegen der Treffsicherheit ihrer Aussagen über ihren Vater noch lange verfolgen würden.

Auf dem Rückweg beeilte sie sich, denn sie war sicherlich länger draußen geblieben als die eine Stunde, die sie ihrer Mutter auf dem Zettel angekündigt hatte. Die Sonne kam wieder heraus, aber die Luft war kühl. Sie zog die Strickjacke enger um sich, als sie den Felsvorsprung am Meer umrundete.

Da war der merkwürdige Mann aus der Pension, er kam direkt auf sie zu. Die gelben Haremsschuhe waren einfach unverwechselbar. Er schien irgendetwas aus einer Tüte zu essen. Süßigkeiten vielleicht, und als er näher kam, sah sie, dass seine Augen gerötet waren, vielleicht vom Wind oder ... Lydia hatte den Eindruck, dass er geweint hatte und hatte großes Mitleid mit ihm. Sie lächelte ihn an und grüßte ihn.

Er sah sie an, als sähe er sie zum ersten Mal, aber er lächelte zurück.

»Kalt, nicht wahr?«, brachte Lydia heraus, und erst dann sah sie die Narbe.

»Ziemlich«, antwortete er, hielt seine Haare fest und stopfte die Tüte mit den Süßigkeiten in seine Tasche. Offensichtlich hatte sie ihn überrumpelt. Sie lächelte wieder, ging an ihm vorbei und spürte, dass er ihr hinterhersah.

Trotz ihrer Eile beunruhigte sie die alte Narbe im Gesicht des Mannes. Am Abend musste sie immer wieder darüber nachdenken, was es mit der Narbe wohl auf sich hatte.