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Sechsundachtzig saß auf einer Holzbank vor Mutter Vincents Büro und wartete darauf, hineingerufen zu werden. Das adoptionswillige Paar wollte sich mit fünf Jungen unterhalten. Der Junge, der der Tür am nächsten saß, war bereits drinnen gewesen. Der Platz neben ihm war frei. Gleich würde sich Vierundachtzig, mit dem man gerade sprach, dort wieder niederlassen. Dann käme Sechsundachtzig an die Reihe.

Sie saßen still nebeneinander und sahen zum Fenster hinaus, die bloßen Füße auf dem kalten Steinfußboden. Niemand traute sich, etwas zu sagen, denn Bartley, der verrückte Busfahrer, passte auf sie auf. Eine böse Spannung lag in der Luft, als er vor ihnen im Flur auf und ab stampfte, im geflüsterten Zwiegespräch mit seinen Dämonen, die Hände hinter dem Rücken zu Fäusten geballt. Ab und an trat er gegen die Bank – es frustrierte ihn, dass ihm die stummen, wie Statuen dasitzenden Jungen keinen Grund gaben, sie zu schlagen.

Alle vier starrten aus dem Fenster auf den fallenden Schnee. In ihren verschlossenen Gemütern tobten quälende Gedanken. Würde sich das Paar im Büro der Mutter Oberin als gut oder schlecht herausstellen? Würden sie aus dieser Hölle erlöst werden oder würden sie sie nur gegen eine andere eintauschen, die von zwei Erwachsenen statt von vielen beherrscht wurde? Worum sollten sie beten: dass man sie mitnahm oder hierließ? War es denn wirklich möglich, dass einer von ihnen endlich das Paradies eines richtigen Heims fand? Ein warmes Heim mit freundlichen Menschen, die einen anlächelten und beruhigend mit einem sprachen?

Ihre Zweifel schwebten in einer Wolke zu ihren Köpfen, so dunkel und schwer wie der Himmel hinter den Fenstern. Jeder Junge hatte seine eigene Art, mit dem fertigzuwerden, was vor ihm lag.

Einundneunzig, der Älteste, starrte mit leeren Blicken und blankem Gesicht auf die wirbelnden Schneeflocken. Er erwartete nichts mehr, er stellte sich nichts mehr vor. Zu oft hatte er auf dieser Bank gesessen und sich Sachen ausgemalt. Zu oft hatte er bittere Enttäuschungen erlebt; seine Hoffnungen und Träume hatten sich zerschlagen wie Knochentrümmer auf einem gespenstischen Friedhof.

Der Junge neben Sechsundachtzig stellte sich vor, dass die Frau im Büro der Nonne seine verlorene ältere Schwester war, über die er so oft sprach und die endlich gekommen war, um ihn mit nach Hause zu nehmen.

Neunundachtzig, der bereits drinnen gewesen war, quälte sich mit der Gewissheit, dass er heute nicht der Glückliche sein würde. Sie hatten ihn nicht lange genug drinnen behalten und viel zu wenig Interesse an ihm bezeugt. Jetzt saß er da, kaute auf seiner Lippe und versuchte, den Flaschengeist wieder einzufangen, von dem er sich dummerweise die Erfüllung seiner Wünsche erhofft hatte.

Sechsundachtzig wollte so sehr daran glauben, dass diese Leute gute Leute waren und ihre Wahl auf ihn fallen würde. Immer wenn er nervös war, wie jetzt, versuchte er sich zu beruhigen, indem er sich das Haus seiner Träume ausmalte. Aus Plakaten und zerfledderten Bilderbüchern, die er in Schwester Veronicas Klassenzimmer gesehen hatte, hatte er sich das Bild eines glücklichen Heims zusammengesetzt, eines, das ihm das Paar im Büro der Nonne vielleicht geben wollte.

Er sah ein weiß gekalktes, reetgedecktes Haus am Ende eines gewundenen Pfades. Vor dem Haus lag eine Veranda mit einer grünen, halbhohen Tür und zu beiden Seiten Fenster mit roten Vorhängen. Aus einem schwarzen Schornstein an einer Seite des Daches wand sich Rauch in einen blauen Himmel. Um die Tür rankten sich rosa Rosen und aufder Schwelle lag ein schwarzer Hund – schwarz, damit er zum Schornstein passte.

Jetzt war Sechsundachtzig gedanklich bei dem Teil des Bildes, das er am meisten liebte: bei den Tieren im Hof. Erst sah er drei orangerote Hennen mit roten Kämmen und gepunkteten Federn. Hinter dem Trog und der grün gestrichenen Pumpe ...

Plötzlich wurde die Tür der Mutter Oberin geöffnet und seine Fantasie kam zu einem abrupten Ende. Vierundachtzig stand vor ihm und sagte, er sei jetzt an der Reihe. Bevor Sechsundachtzig reagieren konnte, hatte Bartley ihn schon an der Schulter gepackt und durch die geöffnete Tür geschleudert.

»Hier ist Sechsundachtzig«, sagte Mutter Vincent zu dem Paar. Sie saßen zur Linken ihres Schreibtischs. Er fand, dass sie in dem spartanischen Zimmer vollkommen fehl am Platz wirkten.

»Setz dich, Junge.«

Er kletterte auf den Holzstuhl, auf dem er schon am Vortag gesessen hatte. Er war so hoch, dass seine Füße kaum den Boden berührten. Er versuchte, die Fremden nicht anzusehen, aber er hatte sofort gespürt, dass sie nicht wie die Fairleys waren.

»Wie geht’s dir denn?«

Der Mann hatte ihn zuerst angesprochen. Sechsundachtzig war gezwungen, ihn anzusehen.

»Sehr gut, vielen Dank, Sir.«

Der Mann und die Frau lächelten. Sie lächelten vorbehaltlos und ehrlich, und das erstaunte ihn. Die einzige Erwachsene, die ihn je angelächelt hatte, war Mrs Doyle am Rande des Kartoffelackers gewesen. Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Deswegen konzentrierte er sich auf die wirbelnden Schneeflocken hinter dem Fenster, die jetzt zwischen der schwarzen Schulter der Nonne und der geblümten Schulter der Frau niedergingen – zwischen der Dunkelheit und dem Licht.

»Dies sind Mr und Mrs Michael McCloone, Sechsundachtzig. Wenn sie dich mögen, nehmen sie dich an Sohnes Stelle an. Was sagst du dazu?«

Trotz der einschüchternden Gegenwart von Mutter Vincent nahm er allen Mut zusammen und sah von der Frau zu dem Mann, dann wieder zur Frau. Er traute seinen Augen kaum, er meinte, sein Verstand halte ihn zum Narren. Denn er glaubte, seine Mutter zu sehen. Sie trug dasselbe geblümte Kleid, das er sich immer vorgestellt hatte: blaue Vergissmeinnicht auf weißem Grund. Ihr langes gewelltes Haar umspielte ein schönes Gesicht mit blauen Augen, einem lächelnden Mund und ebenmäßigen weißen Zähnen. Sie trug Schuhe mit hohen Absätzen und in ihren spitzenbesetzten Handschuhen hielt sie eine passende Handtasche.

»Ich wäre unheimlich gerne ihr Sohn, Schwester!« Er sah die Frau flehentlich an und fragte sich dabei, wie er seine Bereitschaft und Ernsthaftigkeit am besten ausdrücken konnte. Über das kalte Zimmer hinweg sah er ihr in die Augen und sprach ein stummes Stoßgebet: Bitte, lieber Gott, lass sie mich von hier wegbringen!

»Welche Farmarbeiten kannst du denn besonders gut, Junge?«, fragte ihn der Mann ernst, aber freundlich.

»Ich mag alle Arbeiten, Sir. Ich ernte gerne Kartoffeln und binde gerne Heu, aber am allerliebsten mag ich Tiere, Sir.«

»Und was für Tiere hast du schon versorgt?«, fragte ihn die Frau lächelnd.

Da ließ der Junge vor Scham den Kopf sinken. »Keine, leider, aber im Kopf schon! Da habe ich Schafe und Kühe und Hühner versorgt.«

»Was für ein Blödsinn, Sechsundachtzig«, fuhr ihn Mutter Vincent an, bevor sie sich an das Paar wandte. »Sie müssen ihn entschuldigen. Er ist ziemlich einfach gestrickt, fürchte ich.«

»Oh, da bin ich aber anderer Ansicht, Schwester«, sagte Mrs McCloone. »Ich finde, seine Antwort zeigt, wie viel Vorstellungskraft er besitzt.«

Wie herrlich, wie beruhigend, wie wunderbar war die Stimme dieser schönen Frau. Sechsundachtzig war so dankbar, dass er den Kopf hob und der Frau ein »Dankeschön« zuflüsterte, der Frau, von der er sich so verzweifelt wünschte, dass sie seine Mutter werden würde.

Mutter Vincent warf ihm einen vernichtenden Blick zu, seine uncharakteristische Höflichkeit machte sie stutzig.

»In der Tat.« Sie behielt ihn im Auge. »Und Mr McCloone, was meinen Sie dazu?« Offensichtlich erwartete die Nonne eine nüchternere Antwort von dem Mann.

»Oh, ich stimme Alice zu. Diesem Jungen würde unsere Farm gefallen. Wir haben vier Schweine, zehn Schafe, acht Kühe, eine Katze und einen Hund. Wie findest du das, Sechsundachtzig? Meinst du, du kämst damit klar?«

Der Mann strahlte vor Stolz, als er sein Vieh aufzählte. Er sah längst nicht so gut aus wie die Frau, aber seine wachen braunen Augen und sein schmales Gesicht sandten echte Herzenswärme aus.

»Ich muss Sie dennoch warnen. Der Junge hat sich einige Vergehen zuschulden kommen lassen, seit er bei uns ist«, sagte die Nonne mürrisch. »Es wäre unehrlich von mir, wenn ich Ihnen den Eindruck vermitteln würde, er sei so etwas wie ein Heiliger.«

Sie öffnete den Folianten. Sechsundachtzig war überzeugt, dass jetzt alles verloren war. Er brachte es nicht über sich, das Paar anzusehen, sondern starrte mit Tränen in den Augen aus dem Fenster. Stille senkte sich auf sie herab, qualvoll wie angehaltener Atem. Er versuchte, das belastende Rascheln zu überhören, als die Nonne geschäftig in den Seiten blätterte.

Vom Flur her war Bartleys Stampfen zu hören. Hinter dem Fenster fielen feine Schneeflocken auf das trostlose Waisenhaus. Und drinnen überkam ihn eine Traurigkeit wie der Schnee: feucht, schwer, unausweichlich.

Eine dicke Träne rann ihm die Wange herab, als sich seine Welt verdunkelte. Er starrte auf seine abgearbeiteten Hände und seine schwarzen Füße und wartete geduldig darauf, dass all seine Sünden ans Tageslicht kamen.

Einmal mehr sah er sich nach der verbotenen Rübe im Sack greifen, spürte den reißenden Husten, der die Feierlichkeit der Morgenandacht gestört hatte, hörte den Porzellanteller auf dem Küchenboden der Fairleys zerschellen und wachte wieder im durchnässten Bett mit schmerzenden, blutverschmierten Gliedern auf. Er durchlebte die Schmerzenjeder einzelnen Strafe für jedes einzelne dieser Vergehen: die Ruten, die auf ihn niedergingen, die Gürtel, die ihn auspeitschten, die Hände, die ihn grob in dunkle Räume hinter verriegelte Türen schubsten.

Und dann durchbrach eine warme, freundliche Frauenstimme diese qualvollen Erinnerungen und warf ihm einen Rettungsanker zu.

»Oh, das ist wirklich nicht nötig, Schwester. Wir wollen gar nicht wissen, was der Junge auf dem Kerbholz hat. Die Vergangenheit ist vergangen, nicht wahr, und wir lassen uns alle mal was zuschulden kommen, vor allem wenn wir klein sind.«

Jedes einzelne dieser seidenweichen Worte wurde mit ruhiger Gewissheit vorgetragen. Er klammerte sich daran.

Bevor die Nonne antworten konnte, öffnete die Frau ihre Handtasche und kam mit einem weißen Taschentuch auf Sechsundachtzig zu, das mit silbernen und grünen Kleeblättern gesäumt war. An diese Kleeblätter würde er sich ein Leben lang erinnern.

»Aber, aber, nun wein doch nicht, mein Kleiner.« Als sie sich mit leicht raschelndem Kleid über ihn beugte, nahm er ihren Geruch wahr und sandte noch ein Stoßgebet zum Himmel: dass er für immer in der Nähe dieser überwältigenden Schönheit bleiben durfte.

Schnell trocknete er sich die Tränen und wollte ihr das Taschentuch zurückgeben.

»Vielen Dank!«

»Bitte behalt es, mein Kleiner.«

Und damit beugte sie sich noch etwas näher zu ihm herab und flüsterte ihm etwas zu, was nur für seine Ohren bestimmt war. Etwas, was er in seinem ganzen Leben nie vergessen sollte.

»Ich nehme es morgen wieder an mich, mein Liebling, wenn wir in deinem neuen Heim sind.«