19

Jamie hatte den Reisevorbereitungen noch keine Aufmerksamkeit geschenkt. Der Brief war geschrieben und an Miss Devine abgeschickt worden, und in Gedanken beschäftigte er sich nun mit ihrer ersten Zusammenkunft. Wenn er sich Lydia vorstellte, verwob sich das Bild seiner lang verlorenen Mutter mit dem seiner lieben Tante Alice und eine vollkommene Frau entstand, leuchtend wie ein Sonnenstrahl am Himmel. Er sah ein ebenmäßiges ovales Gesicht vor sich mit Augen so blau wie die Eier von Singdrosseln. Und ein blendendes Hollywoodlächeln.

In zwei Stunden würde Paddy ihn abholen kommen und zum Bahnhof nach Killoran bringen, wo er den Zwei-Uhr-Bus nehmen wollte. Er hatte den Tieren Futter gegeben und selbst auch etwas gegessen. Da er die Diät einhielt, hatte er das fette Frühstück gegen Tee und Toast ausgetauscht. Und jetzt, ermahnte er sich, musste er seine Sachen packen, denn das tat man so, bevor man in die Ferien fuhr. Sein letzter Urlaub lag fünfzehn Jahre zurück. Da hatte er ein paar Tage mit Onkel Mick bei dessen Schwester Violet in Portaluce verbracht, die ein wunderbares Haus mit Blick auf die Promenade gehabt hatte. Leider weilte sie auch nicht mehr unter den Lebenden und ihr Haus war zu einer Eisdiele namens Schneekoppe umfunktioniert worden.

Damals hatte Onkel Mick allerdings gewusst, was man packte. Jamie war ratlos, was er in einen Koffer oder eine Tasche packen sollte (oder was man nun auf solche Ausflüge mitnahm). Er saß mit seinem Becher Tee im Lehnsessel, rauchte eine Woodbine und fragte sich, ob er Tante Alices Koffer unter Micks Bett hervorziehen sollte. Aber wenn er es sich recht überlegte, war er etwas zu groß. Was sollte er denn überhaupt mitnehmen?

Er hatte sich am Abend zuvor in der Zinnwanne am Feuer gut abgeschrubbt. Erst nach diesen seltenen Ereignissen wechselte er die Unterwäsche – nach vierzehn Tagen oder sogar einem guten Monat. Also würde er Rose McFaddens Tasche mit der sauberen Unterwäsche eine ganze Weile nicht benötigen. Er sah auf seine Füße hinab und dachte: Vielleicht neue Socken, denn ich laufe bestimmt viel herum, wenn ich mein Rad nicht dabeihabe.

Er ging in sein Schlafzimmer auf die Suche. Irgendwo musste er noch welche haben. Schließlich kramte er aus einer Kommoden schublade ein ordentliches Paar hervor und legte es aufs Bett. Dann holte er seinen schwarzen Anzug aus dem Schrank – die einzig annehmbare Kleidung, die er hatte – und legte ihn neben die Socken. Der Anzug war von Mick, vielleicht etwas zu kurz und unter den Achseln etwas zu eng, weil sein Onkel kleiner und dünner als er gewesen war. Aber bisher hatte er ihn ja auch nur die eine Stunde am Sonntag zur Messe getragen. Zwei Tage am Meer waren vielleicht etwas anderes, dachte er jetzt. Die schwarzen Socken passten zum Anzug, aber was war mit den Schuhen? Sein bestes Paar war senfgelb; er hatte die Schuhe bei Harveys aufgrund ihrer Farbe und ihres ungewöhnlichen Stils mit sehr großem Rabatt erstanden. Die Spitzen waren gebogen und ähnelten Bananen, aber Harvey hatte darauf bestanden, dass das der neue Westernstil sei und ganz Amerika »verrückt nach ihnen« war. Jamie hatte sie damals mit der Absicht gekauft, sie schwarz zu färben, aber wie so vieles andere hatte er auch dieses Vorhaben aufgeschoben. Frei nach dem Motto: »Ach, damit beschäftige ich mich jetzt nicht, die Zeit kommt noch früh genug«. Er seufzte über diese kleine Nachlässigkeit, aber er hatte weder die Zeit noch die Schuhfarbe, um sich jetzt damit auseinanderzusetzen. Nun musste es eben so gehen. Er stellte sie aufs Bett neben die Socken und den Anzug.

Seine Hemden hingen auf drei Bügeln an der Schranktür. Das weiße sah ordentlich genug aus; und da er seit drei Wochen nicht mehr zur Messe gegangen war, war es seit der letzten Wäsche durch Rose nicht getragen worden.

Jamie sah auf seine Uhr. Zeit, sich anzuziehen. Es dauerte länger, als er gedacht hatte, er musste nach einem Gürtel und einer Krawatte suchen, zwei Dinge, die er im alltäglichen Einerlei selten benötigte.

Als er fertig war, bemerkte er, dass er schon alles am Leib trug, was er mitnehmen wollte. Warum sollte er also eine Tasche packen? Na gut, Kamm, Pomade, Rasierzeug und Ersatzsocken sollte er schon mitnehmen, vielleicht auch Zahnbürste und Zahnpasta – die er nur sonntagmorgens benutzte und die in einem angestoßenen Becher auf dem Küchen waschbecken bereitstanden.

Er wanderte im Haus umher und überlegte, ob er sonst noch etwas mitnehmen musste, da fiel sein Blick auf die beiden Bücher auf dem Tisch. Von den beiden sah Wanderer in der Wüste weniger ramponiert aus. Jedenfalls war der Rücken noch ganz, selbst wenn das Buch schon Eselsohren hatte.

Eine halbvolle Flasche Blue Adonis Aftershave fiel ihm auf dem Fenster sims auf. Sie hatte Mick gehört und stand dort bald seit einem Jahr. Jamie hatte sie eigentlich schon wegwerfen wollen, dann aber gedacht, sie könnte ihm irgendwann noch einmal gute Dienste leisten. Jetzt war er froh darüber, denn die Zeit war gekommen. Die Spinnweben auf der Flasche wischte er mit dem Innenfutter seines Jacketts weg.

Er warf diese Sachen in eine Einkaufstüte und sah sich im kaputten Spiegel der Kommode prüfend an. Er konnte sich nur von der Taille aufwärts darin sehen, aber das war vielleicht auch besser so. Angestrengt musterte er sein Spiegelbild, denn er wusste, dass irgendetwas noch nicht stimmte, bis ihm plötzlich dämmerte, dass er noch immer seine Kappe trug. Er hatte sich schon ein Sandy-Brown-Toupet aus Roses Exchange & Mart bestellt, aber leider war es nicht mehr rechtzeitig für den Kurzurlaub angekommen.

Man konnte doch schlecht eine alte Kappe zu einem guten Anzug tragen, sagte er sich. Jamie seufzte und klebte sich geübt die Haare mit der Pomade und dem Kamm an, steckte die Kappe in die Einkaufstüte und befand, dass er nun bereit sei. Keine Minute später hörte er, wie sich Paddys Morris Minor keuchend den Hügel hocharbeitete.

Jamie zeigte Paddy, welche Arbeiten es zu tun gab: Die Ayrshires mussten gefüttert und gemolken werden, das Schwein und die Hühner brauchten ihr Futter und die Eier mussten aufgesammelt werden. Shep bekam die Abfälle. Paddy kannte das alles, er war ja selbst Farmer, und so nickte er geduldig und versicherte Jamie, dass er sich um alles kümmern würde. Dann überreichte er ihm eine verkrumpelte Tüte.

»Rose hat dir ein paar ... ein paar Rosinenkekse für den Bus mitgegeben.«

»Ach, das ist aber lieb von ihr, Paddy! Bitte sag ihr vielen Dank von mir!«

Jamie warf einen kurzen Blick in die Tüte. Tränen stiegen ihm in die Augen, wenn er an Rose dachte und an all die Hilfe, die sie ihm gegeben hatte. Er schätzte die Bedeutung dieser von Herzen kommenden Geste; und auch wenn es nur eine winzige Tüte mit Keksen war, wie er sich sagte, berührte es ihn sehr. Jemand dachte an ihn, jemand sorgte sich um ihn. Diese kleine freundliche Aufmerksamkeit bedeutete ihm so viel, weil in seiner frühen Kindheit niemand je freundlich zu ihm gewesen war.

»Die Zeit läuft, Jamie«, platzte Paddy in seine Gedanken. »Ich denke, wir sollten vielleicht ... vielleicht langsam ...«

»Losfahren?«

»Ja, genau, losfahren ... vielleicht sollten wir langsam losfahren.«

»Ja, warum auch nicht.« Jamie beugte sich herab, um Shep zu streicheln, der seinen Herrn fragend ansah. »Sei brav, guter Hund.«

»Ach, wir können den kleinen Shep doch mitnehmen.« Paddy kratzte sich am Ohr und rieb sich am Kinn. Er spürte, wie traurig Jamie auf einmal war. »Er kommt ja auch nicht ... kommt ja auch nicht ...«

»So oft raus?«

»Ja, ja, genau, so oft raus.«

So ließen sie Shep auf den Rücksitz des Minors springen und fuhren los. Jamies Haus wurde im Rückspiegel immer kleiner, als sie im ersten Gang den Berg hinunterfuhren.

Das Beste, was man über Paddys Fahrstil sagen konnte, war, dass er sprunghaft war, was zum einen Teil an seinen schlechten Augen und an seiner geringen Fahrpraxis lag – er fuhr immer nur die zwei Kilometer vom und zum Ort und konnte auch nur einparken, wenn der Parkplatz so groß wie ein Gerstenfeld war – und zum anderen Teil daran, dass er sich nie in seinem Leben einer Fahrprüfung unterzogen hatte. Deswegen pflegte er eine einseitige Beziehung zu seinem Auto: Er wusste ungefähr, wie man damit fuhr, aber nicht, wie man es wartete. Er füllte so gut wie nie Wasser und Öl nach, von Bremsflüssigkeit und Kühlwasser ganz zu schweigen.

Paddys Autos ähnelten deswegen früher oder später alle verwundeten Kriegern, die sich wacker ans Leben klammerten: die Reifen blank wie ein Babypopo, die Stoßstangen verbeult von misslungenen Parkmanövern, Seitenspiegel und Wischblätter als ewiges Provisorium mit Paketband festgeklebt. Wenn Paddy wieder einmal mit einem rundumerneuerten Fahrzeug vom Parkplatz von J & B O’Lynchys »Fast So Gut Wie Neu«-Gebrauchtwagenhandel fuhr, wusste der Händler schon, dass das Ende des Autos nicht mehr fern war. Im Hof der McFaddens gab es einen Gottesacker voller Wracks. Paddy konnte sich noch so sehr am Kopf kratzen, jedes einzelne dieser Fahrzeuge war mit einem plötzlichen Knall zum Stillstand gekommen. Auch wenn er auf »Teufel komm raus« keinen Grund dafür finden konnte.

Der Minor, in dem die drei jetzt fuhren, war Paddys fünfter in drei Jahren. Das Auto ruckte und zuckte mit lauten Motorgeräuschen die holprige Landstraße entlang, nur vom aufgrund Paddys sprunghafter Schaltweise knirschenden Getriebe unterbrochen. Als sie sich Killoran näherten, nahm Paddy unklugerweise eine Abkürzung über die sogenannte Pothole Lane, die nach den Schlaglöchern benannt worden war, die seit ihrem Bau zur Zeit der normannischen Invasion im Jahr 1169 entstanden waren. Auf diesem letzten Abschnitt konnten die Männer sich nicht mehr unterhalten und der Hund drehte völlig durch. Sie wurden so durchgeschüttelt, dass sie kaum noch Luft bekamen, und ihre Kommentare zu den Schlaglöchern – »Himmelherrgott nochmal!« oder »Das war vielleicht ein fettes ...« – wurden von den gequälten Zuckungen des Motors übertönt.

Als sie schließlich den Busbahnhof erreichten, hatte sich Shep hechelnd mit heraushängender Zunge und angelegten Ohren auf dem Rücksitz ergeben. Fahrer und Passagier waren sprachlos, Jamie hielt sich an der Tüte mit den Rosinenkeksen fest, von denen die meisten gewiss zerkrümelt waren. Paddy schwor sich, diese fiese Abkürzung nie wieder zu nehmen.

Lydia Devine entspannte sich im vornehmen Wohnzimmer des Ocean Spray und blätterte müßig eine alte Ausgabe der Woman’s Own durch, die sie im Zeitschriftenständer ihrer Tante gefunden hatte. Es war ein wunderbarer, ruhiger Nachmittag und sie fühlte sich sehr wohl in dem eleganten Zimmer mit der fantastischen Aussicht auf den unendlichen Himmel, den Strand und das Meer.

Es war der vierte Tag ihrer Ferien, drei lagen noch vor ihr, und als sie es sich im Samtsessel bequem machte, dachte sie darüber nach, dass sich ihr kurzentschlossener Urlaub nach dem holprigen Start doch erfreulich anließ. Seit der kleinen Auseinandersetzung der Schwestern über Pfarrer Perseus Cuthbert und die Frage ihres Taufnamens war ihr Umgang eigent lich relativ ruhig und problemlos.

Lydia wusste, dass sie für das ausgleichende Moment sorgte, denn sie hatte Elizabeth und Gladys durch diplomatische Manöver so viel wie möglich voneinander ferngehalten. Sie ging mit ihrer Mutter spazieren, wenn Gladys zu tun hatte, und führte lange Gespräche mit ihrer Tante, wenn ihre Mutter schlief. Auf diese Art und Weise erfüllte sie ihre Funktion als pflichtbewusste Tochter und aufmerksame Nichte – und diente beiden als Blitzableiter.

Sie hatte auch darauf bestanden, dass sie ihre Hauptmahlzeiten im Esszimmer zusammen mit den anderen Gästen einnahmen. Auf diese Weise konnte ihre Tante sich als Eigentümerin und Gastgeberin aufspielen, eine Rolle, in der sie wie eine vollendete Schauspielerin aufging, und bei der ihre Schwester und Nichte höchstens Nebenrollen an einem Tisch in der Ecke spielten und so gut wie vergessen waren. Diese Situation schien allen zu gefallen: Gladys sprühte vor Charme, Elizabeth machte ihre zynischen Kommentare darüber und Lydia erfreute sich ohne unliebsame Überraschungen an ihren Mahlzeiten.

Lydia lächelte, als sie die Zeitschrift durchblätterte. Wenn ich eine Schwester gehabt hätte, fragte sie sich, hätte ich mich mit ihr dann wohl auch so viel gestritten wie die beiden? Vielleicht bleiben wir zu einem gewissen Grad immer die Kinder, die wir einmal gewesen sind. Ein wesentlicher Teil unseres Ichs scheint sich immer an die Wutanfälle im Laufställchen und auf dem Schulhof zu erinnern.

Bald würde Tante Gladys mit ihr einen Aperitif vor dem Essen trinken wollen, während Elizabeth vor dem Essen immer noch etwas schlief. Ihr war aufgefallen, dass ihre Mutter weniger aß und mehr schlief als zu Hause; Lydia wusste nicht, ob das eine Strategie war, ihrer Schwester aus dem Weg zu gehen, oder ob die Seeluft dafür verantwortlich war. In jedem Fall tat Elizabeth die Ruhe gut, und das war alles, worauf es ankam.

Die Tür öffnete sich, und das riss Lydia aus ihren Gedanken. Gladys trat majestätisch in einem engen kaffeebraunen Zweiteiler aus Satin ein.

»Nun, kleine Lily, Zeit für unsere kleinen Drinks, bevor es hier rundgeht.«

Bevor ihre Nichte darauf antworten konnte, war sie bereits beim stilvollen Cocktailschrank und goss ihnen beiden großzügig Cockburns Portwein in zwei Bleikristallgläser ein. Lydia nahm ihres zögernd entgegen.

»Gladys, du weißt doch, dass ich nichts trinke.«

»Unsinn.« Die Tante ließ sich vorsichtig auf dem griechischen Sofa nieder. »Zeit, mal mit dem Leben anzufangen, Liebes.« Sie hob ihr Glas. »Zum Wohl. Dies ist auf meine kleine Nichte, die sich einen Mann sucht und sich mit ihm niederlässt.«

»Da hab ich doch kaum noch eine Chance, Gladys«, sagte Lydia, nippte am Port und schüttelte sich.

»Papperlapapp! Du sendest einfach nicht die richtigen Signale aus. Männer wollen wissen, ob eine Frau zu haben ist.«

»Ja, aber ich bin nicht wie du, Gladys.« Lydia sah sich das tiefe Dekolleté mit dem Brokatsaum an, die Knie in den Seidenstrümpfen und dachte, Gladys sähe aus, als wollte sie ins Bett oder ins Freudenhaus. »Ich bin einfach nicht extrovertiert.«

Lydia setzte das Glas auf dem Couchtisch ab und fragte sich, wie sie das Thema loswerden konnte, ohne ihre Gastgeberin zu verletzen. Bei diesen Unterhaltungen mit Gladys fühlte sie sich immer unwohl, denn sie drehten sich unweigerlich um Männer, über die Lydia so wenig wusste.

»Soll ich offen sein, Liebes? Du musst wie ein Taxi werden.«

»Ein was?«

»Ein Taxi, Liebes. Wie kannst du erkennen, ob ein Taxi frei ist?«

»Ähm ... das Licht ist an?«

»Genau! Du musst den Männern zeigen, dass dein Licht an ist. Dass du zu haben bist.«

»Und wie mache ich das?« Lydia versuchte, interessiert zu klingen. Sie wusste, dass sie ihrer Tante nach dem Mund reden musste.

»Na, ich verrate dir ein kleines Geheimnis ...« Gladys machte eine Pause und nahm sich eine Zigarette aus einem Elfenbeinkästchen auf dem Couchtisch. Dann drückte sie auf die Wangen eines mit Halbedelsteinen überzogenen Cheruben. Zu Lydias Erstaunen schoss eine Flamme aus dem Scheitel seines silbergelockten Kopfes. Sie wartete, bis ihre Tante die Zigarette angeraucht hatte, und fragte sich, was so wichtig sein konnte, dass es eines solchen nikotinimprägnierten Vorgeplänkels bedurfte.

»Wie lässt du einen Mann wissen, dass du zu haben bist? Ganz einfach, Liebes: Du trägst den Rock kürzer und das Dekolleté tiefer.« Gladys ließ den Rauch aus den Nasenflügeln entweichen. »Mit anderen Worten, liebe Lily, du solltest etwas kreativer mit deinem Aussehen umgehen. Dieses blaue Etuikleid ist gar nichts für deine Figur. Ich weiß ja, dass du keinen großen Busen hast, also ist ein tiefer Ausschnitt wahrscheinlich nicht das Beste für dich.« Sie zog heftig an ihrer Zigarette. »Ich könnte mir eine gesmokte Bluse für dich vorstellen, denn sie täuscht eine volle Brust vor.« Sie legte eine Hand auf ihren eigenen ausladenden Busen, als wollte sie ihre Worte unterstreichen, und schlürfte wieder an ihrem Portwein.

»Mit der flachen Brust kommst du nach deiner Mutter«, fuhr sie fort und übersah Lydias missbilligendes Stirnrunzeln unbekümmert. »Und frag mich nicht warum, aber die meisten Männer werden zuerst vom oberen Teil der Anatomie einer Frau angezogen. Wahrscheinlich hat es was mit Babys und mütterlicher Bindung zu tun oder was auch immer. Was ich sagen wollte: Zeig ihnen, was sie irgendwann bekommen, und wenn sie es dann tatsächlich bekommen, sind sie so geblendet von deinem Geist, dass deine Brust – oder vielmehr das Fehlen deiner Brust – gar keine Rolle mehr spielt.«

Lydia spürte, wie ihre Wangen unter dem Puder vom Portwein und durch die Offenheit ihrer Tante zu glühen begannen. Sie versuchte, das Thema zu wechseln.

»Was gibt es denn heute Abend zu essen?« Sie bemühte sich, so locker und beiläufig wie möglich zu klingen.

Gladys machte ein Gesicht. »Na ja, es gibt Würstchen in Yorkshirepudding und danach gefüllte Äpfel oder Rosinendessert«, gab sie schnell zurück und nahm ihren Drink zur Hand, verärgert, dass Lydia sie unterbrochen hatte. »Also, wo war ich? Ja, beim Busen. Aber damit war ich fertig, oder? Das andere sind Beine. Lily, du hast sehr schöne Beine. In der Hinsicht kommst du nach mir. Und es gibt nichts, was Männern besser gefällt als ein schönes Fußgelenk.« Sie hob ihr rechtes Bein und betrachtete ihren Fuß selbstvergessen und bewundernd, während sie ihn in der Luft kreisen ließ.

»Also kannst du es dir leisten, die Röcke viel kürzer zu tragen«, fuhr sie fort. »Nicht zu kurz. Gerade bis übers Knie, wie meine.« Damit stand sie auf und führte vor, was sie meinte.

»Ja, ich weiß schon, was du meinst«, sagte Lydia schwach.

Aber als Gladys sich wieder setzen wollte, bemerkte sie etwas vor dem Fenster. Sie drückte sofort die Zigarette aus.

»O mein Gott, was für ein komischer kleiner Mann drückt sich da an meinem Tor herum.« Sie spähte noch aufmerksamer hinaus. »Hoffentlich hat er nicht vor hereinzukommen.«

Lydia konnte schemenhaft eine Gestalt am Tor wahrnehmen und fragte sich, warum Gladys sich so aufregte. Die fischte schnell eine Puder dose aus ihrer Handtasche und kontrollierte ihr Gesicht. Jeder Mann, auch wenn er heruntergekommen oder von niedriger Herkunft war, verdiente es, sie in ihrem besten Zustand zu sehen.

»O mein Gott, er kommt hierher!« Sie ließ die Puderdose zuschnappen und ging mit schnellen Schritten zur Tür. »Entschuldige mich, meine Liebe, ich muss nur eben diesen Bauern loswerden.«

Und war fort.

Lydia war perplex. Durch das Fenster sah sie einen Mann unbestimmbaren Alters den Gang hochschlurfen.

Er steckte in einem deutlich zu kurzen Anzug. Seine gelben Schuhe erinnerten an Haremslatschen und passten nicht zu seinem übrigen Aufzug. Seine Haare – oder das, was davon übrig war – wurden von der steifen Meeresbrise zerzaust und er hielt eine Hand auf dem Kopf, um zu retten, was zu retten war. In der anderen Hand hielt er eine Einkaufstüte, die nach Lydias Vermutungen seine Toilettenutensilien enthielt. Ein Fremder, dachte sie, auf der Suche nach einem Bett und einem Dach über dem Kopf. Sie hatte Mitleid mit dem armen Mann, auch deswegen, was er jetzt sicherlich gleich zu erdulden hatte.

Gladys hatte sich bereits in der Lobby hinter dem Rezeptionstresen aus Marmor in Position gebracht. Einen Köcher scharfer Ausreden hielt sie bereit, die sie in schneller Folge auf den Eindringling in ihr Paradies abschießen würde. Sie sah Jamie scharf an, als er den weiten Weg über den großen Orientteppich mit den osmanischen Farben von ineinander verwobenen Rot- und Goldtönen zurücklegte. Ganz offensichtlich überwältigte ihn die Pracht ihres Hauses, denn er wäre um ein Haar in einen Glastisch gerannt.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Die Eigentümerin hatte den ersten Pfeil schussbereit in den Bogen gespannt.

»Guten Tag, Mrs Milkman, nehme ich an.« Jamie stellte die Plastiktüte auf der schimmernden Oberfläche ab. Gladys zuckte zusammen und schloss kurz die Augen.

»Mill-man. Mill-man. Und wer sind Sie?« Sie starrte ihn an und entdeckte in Jamies Brusttasche etwas, was sehr wie Heu aussah. Ganz offen sichtlich ein Farmer, dachte sie, und einer, der daran glaubte, seine ganze verdammte Wiese mitbringen zu können. Sie blähte die Nasenflügel und versuchte, Dung und andere unerfreuliche Gerüche wahrzunehmen. Zu ihrer Überraschung konnte sie keine bemerken.

»James Kevin Barry Michael McCloone.« Er spreizte die Hände auf dem Tresen und sah bewundernd zum Stuck der Decke hoch. »Gott, was für ein unglaublich großartiges Haus!«

»Vielen Dank, Mr McCloone. Haben Sie reserviert?«

Gladys hob eine Augenbraue, als ihr erster Pfeil sein Ziel erreichte.

»Entschuldigung. Was für ein Ding?« Jamie sah verwirrt aus.

»Haben Sie gebucht, Mr McCloone?« Sie lehnte sich vor und tat, als prüfe sie das Gästebuch. Dabei war sie sich voll bewusst, dass sie dem Farmer einen freigebigen Blick auf ihr Dekolleté gewährte. Jamie starrte verwundert darauf. Gladys sah hoch.

»O nein, ich habe nichts gebucht. Da heute Montag ist, habe ich gedacht, ich komme einfach so vorbei.«

»Tja, es tut mir leid, Sie in diesem Fall enttäuschen zu müssen, aber dieses Haus ist das ganze Jahr über sehr gut besucht, vor allem in dieser Saison.« Gladys knallte das Buch zu und sah Jamie an, als er unter ihrem Faustschlag in die Knie ging. »Ich kann Ihnen aber O’Neills an der Ecke empfehlen. Deren Preise kommen dem, was Sie sich wahrscheinlich vorstellen, auch näher.«

»Ach, das ist aber schade.« Jamie griff nach der Plastiktüte und wandte sich zum Gehen.

Gladys legte den Kopf mit vorgetäuschtem Mitgefühl zur Seite. »Es tut mir auch wirklich sehr leid.«

»Das ist schade«, wiederholte Jamie, »denn ein sehr angesehener Mann hat mir das Ocean Spray empfohlen. Hat mir gesagt, ich sollte hier für ein paar Tage herkommen, wegen meinem Rücken.«

»Aha. Und wer könnte dieser Herr sein, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich ihn kenne?«

»Dr. Brewster aus Tailorstown. Großartiger Arzt. Wir können uns keinen Besseren vorstellen, wirklich nicht.«

Sofort setzte Gladys ihr Neonlächeln auf. »Aber warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Wenn Humphrey – ich meine Dr. Brewster – uns empfohlen hat, dann ist das etwas ganz anderes.«

»Wie bitte?« Jamie zog sich am rechten Ohr und strich sich mit der Hand übers Haar, nur um sicherzugehen, dass es ordentlich lag.

Gladys lehnte sich verführerisch über das Gästebuch.

»In dem Fall müssen wir doch etwas für Sie finden, Mr äh ...«

»McCloone.«

»Mr McCloone. Natürlich.« Sie fuhr mit einem rot lackierten Fingernagel die Reservierungsliste hinab, machte eine Pause und sah dann hoch.

»Oh, Sie haben wirklich Glück, Mr McCloone! Ich sehe gerade, dass doch noch ein Einzelzimmer frei ist. Wie lange wollen Sie bleiben?«

»Nur zwei Nächte. Ich würde ja gerne drei oder vier bleiben, aber mit der Farm und allem ...«

»Sicherlich, Mr McCloone.« Gladys überlegte sich gerade, wie viel teurer sie das Zimmer machen konnte, und kam zu dem Schluss: wahrscheinlich nicht sehr viel. »Wenn Sie bitte hier unterschreiben würden.« Sie bot ihm den goldenen Parker an. »Das wären dann zehn Pfund und zweiundfünfzig Pence.«

Jamie sah sie verschreckt an. Gladys lächelte ihn mit großen Augen an.

»In Ordnung«, sagte er mit einem Anflug von Resignation und nahm den Stift entgegen.

»Im Voraus«, sagte sie zu Jamies kahler Kopfhaut. Er zuckte ganz leicht bei dieser Nachricht zusammen, bevor er damit fortfuhr, seinen Namen umständlich auszuschreiben.