28

Jamie fand in der Nacht vor seinem Treffen mit Miss Devine nicht in den Schlaf. Er lag lange und ruhelos wach und versuchte sich auszumalen, wie es werden würde, was er sagen und tun würde. Er stellte sich Lydia immer noch als den Inbegriff weiblicher Schönheit vor und hoffte, eine so anmutige und kultivierte Frau würde ihn annehmbar finden.

Wenigstens konnte er sich zugutehalten, dass er in den letzten Wochen alles nur irgend Mögliche getan hatte, um an sich zu arbeiten. Er hatte abgenommen, sich vollkommen neu ausstaffiert und sich sogar ein Toupet bestellt. Vom Aussehen her musste jetzt eigentlich alles stimmen, aber was seine Persönlichkeit anging – das war natürlich eine andere Sache.

Als Rose ihm geraten hatte, einfach er selbst zu sein, konnte er sich kaum vorstellen, was sie damit gemeint hatte. Wer war er denn überhaupt? Jamie wusste es nicht. Er hatte sich selbst nie zu ergründen versucht oder sich selbst als wertvoll angesehen. Seine freudlose Kindheit hatte ihm die Zuversicht, den Glauben, das Urvertrauen und all das geraubt, was ein Mann brauchte, um ein klares, unverstelltes Bild von sich zu bekommen. Als Kind hatte er so viel Unerfreuliches erduldet und als Erwachsener wollte er niemanden kränken. Er bewegte sich auf gebeugten Knien durchs Leben, umschiffte die Pfützen, zog den Kopf ein und tat alles, um anderen zu gefallen. Der einundvierzigjährige Mann fühlte sich nur imstande, das früh erduldete Leid durch kleine Siege zu rächen: Süßes zu essen, wenn ihm danach war, das Kaminfeuer brennen zu lassen, wenn die Sonne schien, die Haustür Tag und Nacht geöffnet zu lassen.

Lydia zu gewinnen, wäre jedoch der größte Sieg. Eine Freundin könnte aus dem hoffnungslos einsamen Refrain seines Lebens ein hoch aufsteigendes Lied machen.

Gegen ein Uhr hatte er die Arbeiten auf der Farm abgeschlossen und zog sich zur »Ankleidezeremonie« ins Haus zurück. Um zwei Uhr würden Paddy und Rose ihn für die halbstündige Fahrt ins Royal Neptune Hotel abholen. Doch zuerst musste er sich waschen.

Es widerstrebte ihm, die Zinnwanne am Feuer zu füllen. Zu viele Umstände, außerdem war es ja nur ein erstes Treffen und es war ja auch nicht so, dass ... dass ... Er konnte sich die sexuelle Nebenbedeutung, die dieser Gedanke mit sich brachte, nicht einmal annähernd vorstellen. Nach seinen frühen Erfahrungen waren Männer und Frauen für ihn auf wenige Merkmale zusammengeschrumpft. Die meisten Männer waren nach Jamies Dafürhalten perverse Raubtiere. Und wenn sie nicht in schwarze Roben gehüllt waren und ihrer eigenen Version von Christus dienten, konnten Frauen im Leben eines Mannes durchaus nützliche Ergänzungen in Haushaltsangelegenheiten sein. Das langte ihm, denn alles, was darüber hinausging, war etwas Unerreichbares und Gestaltloses, was er sich nicht vorzustellen vermochte und worauf er sich nicht einlassen konnte.

Deswegen ging er ohne lange zu zögern ins Schlafzimmer, zog sich aus und erlaubte einem feuchten Waschlappen einen kurzen Flirt mit seinen intimeren Stellen. Dann fischte er aus Roses Tasche einen sauberen Satz Unterwäsche hervor.

Nun wandte er sich der Krönung seiner Garderobe zu – dem Haarteil – denn es war bestimmt am besten, es vor dem Ankleiden auf dem Kopf zu befestigen.

Er las die Anleitung durch. Als er sich klar machte, dass er die Haare abschneiden musste, die er sich sonst quer über den kahlen Kopf kämmte, wurde er unruhig. Sehr drastisch, dachte Jamie. Er hing an diesen kostbaren Strähnen und fragte sich, ob er wirklich den Großteil seiner echten Haare für das Tragen eines Toupets opfern sollte.

Er sah sich im kaputten Spiegel an, drehte und wendete den Kopf, nahm das Adolfo-Toupet mit »besonderer Klebkraft« und legte es sich auf den Kopf.

Hm.

Es gab keinen Zweifel: Aus bestimmten Blickwinkeln sah es aus wie ein Kuhfladen. Doch er erstickte seine Zweifel, indem er sich daran erinnerte, wie viel er dafür ausgegeben hatte. Es wäre eine schreckliche Vergeudung, es jetzt liegenzulassen. Und wenn er den Kleber erst aufgetragen hatte, würde es sicherlich so aussehen wie die Haare, mit denen er geboren worden war.

Er kämpfte zwanzig Minuten mit Rasiermesser, Schere, Klebstreifen und einer Tube Industriekleber auf Acrylbasis. Der blieb an allen Sachen im Umkreis von einem Meter haften, doch irgendwann hatte Jamie sein Toupet befestigt. Er hob den Kopf und begutachtete das Ergebnis seiner Bemühungen.

»Großer Gott!«, rief er aus, die Augen vor Schreck geweitet. Er hatte versehentlich die Anleitungsbroschüre mit angeklebt.

Ein Teil davon stand wie eine Dachtraufe über seiner Stirn ab. »Kaufen Sie noch heute den Kopfhautbalsam und den Porenfüller. Garantierte Wirkung«, las er in grellroter Spiegelschrift.

Jamie zog an der Broschüre, aber sofort schossen ihm Tränen in die Augen und er fürchtete, sich zu skalpieren, so fest haftete der Kleber. Nicht einmal ein ukrainischer Gewichtheber hätte sich mit ihm messen können. Deswegen machte er sich daran, das Papier abzuschneiden. Papier konfetti segelte auf die Frisierkommode hinab, als er versuchte, das störende Heftchen, nicht aber das Toupet, wegzuschneiden.

Schließlich war es geschafft. Er sah vielleicht nicht unbedingt gut aus, war aber auf jeden Fall vorzeigbar – und das war gut genug. Wahrscheinlich standen die Haare des Toupets etwas zu sehr ab, und er versuchte, sie mit den Händen am Kopf zu glätten. Doch nichts tat sich. Dann schmierte er sich eine großzügige Portion Pomade darauf, die es für eine Minute zu zähmen schien, bevor es sich trotzig wieder aufstellte. Sein Schopf sah aus wie der eines Goldspechts, der seine Krone aufstellt, um sein Weibchen zu beeindrucken. Wenn man es genau bedachte, sollte das Toupet ja genau dieselbe Wirkung erzielen.

Jamie seufzte. Vielleicht war noch mehr Papier darunter, oder sein Kopf hatte so eine Form – und wenn Gott seinen Kopf so gemacht hatte, dann konnte man wenig dagegen tun, denn dann war er, wie er war und damit basta.

Sein neues Haar war also an Ort und Stelle. Jetzt konnte er sich auf seine Kleidung konzentrieren. Erst das sonnengelbe Hemd, dann der Anzug, gefolgt von der roten Paisleykrawatte. Schließlich schlüpfte er in die schimmernden Halbschuhe. Nun fühlte sich Jamie schon viel besser. Der Anzug streichelte ihn auf unbekannte Art. Er fühlte sich wichtig. Er konnte sich in dem kaputten Spiegel nicht ganz sehen, aber er stellte sich vor, er sähe wie ein Versicherungsvertreter aus. Notfalls würde er auch als Anwalt durchgehen.

Ihm blieb noch etwas Zeit, und so setze er sich, um eine zu rauchen. Er wurde langsam nervös. Plötzlich wurde ihm klar, dass er Miss Devine in zwei Stunden treffen würde. Jetzt saß er nicht mehr in seinem ramponierten Sessel, sondern wurde im Schulhof gehänselt. Was, wenn sie dich nicht mag? Was, wenn dir nichts zu sagen einfällt? Was, wenn du dich zum Affen machst? Denn das wird bestimmt passieren, das weißt du doch, oder?

Jamie brauchte einen Drink, um sich zu stabilisieren, aber es war nichts im Haus. Er sah die Valiumflasche auf dem Regal stehen. Seit vierzehn Tagen hatte er keine mehr genommen. Und jetzt konnte er keine nehmen, weil er mit Miss Devine wahrscheinlich etwas trinken würde – und ganz bestimmt nicht in ihrer Gegenwart einschlafen wollte. Das letzte Mal, als er Alkohol und Valium gemischt hatte, war vor einer nervenaufreibenden Beichte gewesen. Gerade als er ein paar lässliche Sünden vor der eigentlichen großen beichten wollte, fiel er gegen den Schirm und verschwand aus Vater Brannigans Sichtfeld. Er kam erst wieder zu sich, als der Priester ihm die Letzte Ölung verabreichen wollte, da er dachte, er habe einen Herzinfarkt erlitten.

Jamie wurde immer aufgeregter. Er zündete sich noch eine Zigarette an. Und dann dachte er: Ich nehme das Valium doch nur, um die Einsamkeit auszuhalten, weil Mick nicht hier ist. Aber jetzt treffe ich mich mit Miss Devine und brauche keine mehr. Sofort ging es ihm besser. Und in dem Moment hörte er das Keuchen und Stottern des Minor und sah Rose und Paddy den Hügel hinter dem Haus hochkommen.

Lydia und Daphne betraten die plüschige Lobby des Royal Neptune Hotels und gingen auf die Lounge zu. Neben der Eingangstür stand ein Schild mit Bekanntmachungen in goldenen Lettern. Lydia blieb stehen.

»Hoffentlich wird hier heute keine Hochzeit gefeiert.«

»Sieht nicht danach aus.« Daphne setzte die Brille auf. »,Sechzehn Uhr: Monatstreffen des Killycock-Amateurkünstler- und Glamour-Fotografenklubs – Lounge’. Glück gehabt, hört sich nicht nach einer Hochzeit an.«

»Ich weiß nicht, das kommt mir irgendwie so bekannt vor«, sagte Lydia nachdenklich. »Das liegt an dem Namen Killycock, den kenne ich von irgendwoher.«

Daphne sah auf die Uhr. »Es ist fast Viertel nach drei. Soll ich mich noch zu dir setzen, bis er kommt, oder ...«

»Nein, lieber nicht. Du kannst dir doch hier noch etwas die Beine vertreten.«

Daphne nahm sie in den Arm. »Viel Glück!«, sagte sie warmherzig. »Es wird schon gutgehen. Sieh nicht so sorgenvoll drein.«

Lydia wählte einen Tisch am Fenster und las in ihrer Times. Sie konnte sich nicht so recht für dieses Treffen erwärmen; seit dem Schlaganfall ihrer Mutter sah sie es eher als eine Pflicht an denn als zwischenmenschliche Begegnung, die sie sich gewünscht hatte.

In der Lounge war nicht viel los. Die Überreste des Mittagsbüfetts wurden gerade abgeräumt und sie war froh, dass sich die letzten Mittagsgäste zum Gehen anschickten.

Um Punkt halb vier sah sie von ihrer Zeitung auf. Ein Trio, zwei Männer und eine Frau, kamen gerade durch die Doppeltüren herein. Sie wusste sofort, dass einer von ihnen Mr McCloone war, denn er trug eine zusammengerollte Zeitung unter dem Arm, die sie für den Mid-Ulster Vindicator hielt.

Die Drei standen noch eine Weile plaudernd da und Lydia konnte sie gut beobachten, ohne zu auffällig zu ihnen hinüberzusehen – jedenfalls hoffte sie das. Aber dann starrten sie plötzlich alle drei in ihre Richtung und sie vertiefte sich wieder in ihre Zeitung. Ihre Annahme war richtig gewesen; Mr McCloone war gekommen.

Als sie den Blick hob, kam der Mann mit der Zeitung auf sie zu. Sie atmete tief durch. Er trug einen braunen Anzug und ein gelbes Hemd und kam ihr schrecklich bekannt vor.

»Sie, äh, Sie ... sind nicht zufällig Miss ... eine Miss ... eine Miss Lydeea Devine, oder?«

Sie stand auf. »Doch, die bin ich. Ich heiße übrigens Lydia. Sie müssen Mr McCloone sein.«

»Jawohl ... ich meine ja, genau, das stimmt. James Kevin Barry Michael McCloone. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Devine.«

Lydia fiel auf, dass er furchtbar nervös war. Er hielt ihre Hand in seiner verschwitzen fest und schüttelte sie heftig auf und ab. Als er sie schließlich losließ, fasste er sich an den Kopf, als wolle er eine Kappe abnehmen, zerrte aber nur an seinen Haaren. Sein bestürzter Blick entging ihr nicht, als er die Hand schnell hinter dem Rücken versteckte und dazu auch noch rot wurde.

»Freut mich auch, Sie kennenzulernen, James«, sagte sie mit einem breiten Lächeln. Sie wollte, dass er sich entspannte. »Wollen Sie sich nicht setzen?«

Der Farmer ließ sich umständlich auf einen Stuhl sinken, nachdem er seinen Mid-Ulster Vindicator auf den Tisch gelegt hatte. Als die Zeitung sich entrollte, konnte man erfahren, dass Killoran Partnerstadt von Adra an der spanischen Südküste wurde, und dass eine ziemlich große Abordnung von Ratsherren zu einer ersten Reise dorthin unterwegs war. Neben der Zeitung stand eine braune Papiertüte und Lydia fragte sich, wie sie das Gespräch in Gang bringen sollte.

Jamie rieb sich das Ohr und starrte aus dem Fenster. Die Luft um ihn knisterte vor Spannung. Lydia hatte Mitleid mit ihm und beschloss, dass Alkohol die Situation entspannen konnte.

»James, was möchten Sie trinken?«

»O nein, Miss Devine.«

»Bitte nennen Sie mich Lydia.«

»Ach so, Lydeea, bitte, es tut mir leid ... ich meine, bitte, ich kümmere mich darum.«

Aber Lydia hatte dem Kellner schon gewunken und nach kurzem Zögern hatte sich der Herr für einen doppelten Whiskey entschieden und die Dame für einen süßen Sherry.

Als der junge Kellner ihre Bestellung aufnahm, fiel Lydia auf, dass es in der Lounge viel wärmer geworden war.

»Sie haben doch wohl nicht etwa die Heizung angestellt? Bei diesem Wetter?«, fragte sie ihn.

»Nein, Miss. Die Klimaanlage ist nur kaputt, ich glaube, eine Krähe ist ins Gebläse geflogen. Aber sie wird gerade repariert.« Er riss einen Zettel von seinem Block und steckte ihn unter den Aschenbecher.

Lydia wandte sich wieder Mr McCloone zu. Nun fiel ihr die tiefe Narbe unter seinem rechten Auge auf.

Und sie erkannte den lauten Gast aus dem Ocean Spray wieder. Auch die Gewohnheit, sich das rechte Ohr zu reiben, kannte sie bereits, ebenso wie die Handbewegung, mit der er den Sitz seiner Haare kontrollierte. Aber er hatte sich irgendwie verändert, seine Haare sahen auf jeden Fall anders aus und er war viel besser gekleidet. Außerdem hatte er ganz schön abgenommen.

»Haben wir uns nicht irgendwo schon einmal gesehen?«, fragte sie ihn.

»Nein, das glaube ich nicht«, log Jamie und fummelte an einer Ecke der Zeitung herum.

Dabei erinnerte er sich nur allzu gut an sie – wie hätte er ihre Begegnung auf der Promenade vergessen können?

Sie stand ihm noch klar vor dem inneren Auge, wie sie mit ihrer Spitzenbluse, einem grünen Rock und einem Korb über dem Arm an ihm vorbeigegangen war. Aber vor allem ihr großzügiges Lächeln, mit dem sie ihn angesprochen hatte. Er hatte sich am Strand entlang treiben lassen, Lakritze gegessen und über die verlorenen Tage seiner Kindheit geweint, als diese Fremde ihn erkannte und mit ihrem Lächeln in die Gegenwart zurückbrachte.

O ja, und wie er sich an Lydia erinnerte. Von dem Tag an hatte er oft an die geheimnisvolle Frau auf dem Fußgängerpfad gedacht. Er konnte einfach nicht glauben, dass er ihr jetzt gegenübersaß.

»Und wie geht’s auf der Farm?«

Die Frage überraschte Jamie. Er versuchte sich daran zu erinnern, was er in seinen Briefen geschrieben hatte.

»Eigentlich ganz gut. Es gibt ein bisschen Heu zu machen und dann ist da noch ... dann gibt es noch ...« Er war so überspannt wie Judas beim Letzten Abendmahl und hoffte inständig, der Drink würde bald kommen. »Dann gibt es noch ...«

»Die Tiere?«

»Jawohl, ich meine ja, die Tiere, aber um die muss man sich täglich kümmern.«

Als er Miss Lydia Devine nun endlich gegenübersaß, übermannte ihn die Schüchternheit und er war trotz seiner einundvierzig Jahre entsetzlich befangen. Er wusste nicht, wie er sich daraus befreien konnte, was er sie fragen sollte. Dann fiel ihm ein, dass sie Lehrerin war.

»Und wie ... wie geht’s in der Schule?«, platzte er heraus.

»Ich habe Ferien. Sommerferien.« Wie viel sollte sie diesem Fremden von sich erzählen, fragte sie sich.

»Jawohl, stimmt. Ich meine, ja. Stimmt.« Jamie sah sich betreten um und war froh, als er den Kellner die Drinks bringen sah.

»Aber wenn ich in der Schule bin, gefällt es mir.« Lydia versuchte, entspannt zu klingen. »Trotzdem sind Ferien gut. Wir brauchen alle Zeit für uns selbst.«

Jamie hatte einen Zehn-Pfund-Schein aus seinem Portemonnaie hervorgekramt, aber er war so übereifrig, dass dieser zu Boden flatterte. Als er wieder auftauchte, war sein Gesicht von der Peinlichkeit und der Hitze deutlich gerötet. In der Hand hielt er den Geldschein.

»Wo ist denn der ...?«

»Ach, machen Sie sich keine Sorgen, James. Ich habe es schon geregelt.«

Als er protestieren wollte, hielt sie ihr Glas hoch und hörte sich etwas sagen, von dem sie wusste, dass sie es wahrscheinlich nicht sagen sollte. Aber in diesem Augenblick hätte sie alles getan, nur damit James sich wohlfühlte.

»Auf Ihr Wohl, James. Auf Sie und mich.«

James war freudig erregt. Miss Devine konnte nicht ahnen, wie ihre Worte auf ihn wirken würden. Es konnte doch nur heißen, dass sie ihn trotz seiner vielen Mängel akzeptierte, und er konnte kaum glauben, dass er sie richtig verstanden hatte. Die einzigen beiden Frauen, die sich je etwas aus ihm gemacht hatten, waren seine Tante Alice und Rose McFadden.

Aber diese Fremde war irgendwie anders. Sie wusste fast nichts über ihn, nur das Wenige, was er in seinen zwei Briefen von sich preisgegeben hatte. Er hätte sich am liebsten vor ihr verbeugt.

Stattdessen hob er sein Glas und erwiderte ihr Lächeln.

»Ja, auf mich und Sie«, sagte er. »Ich meinte: auf Sie und mich, Lydeea.«

Er trank einen ordentlichen Schluck Whiskey.

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche, Lydeea?«

»Nein, überhaupt nicht. Bitte, rauchen Sie nur.«

Sie versuchte, sich ein Herz zu fassen und ihm zu sagen, wie ihre Umstände sich verändert hatten, doch sie wartete noch auf den richtigen Moment. Es wäre taktlos, ihm die schlechte Nachricht zu überbringen und zu gehen. Und Lydia wusste den Mut zu würdigen, den es Mr James Kevin Barry Michael McCloone gekostet haben musste, die Strecke von seinem Hof in Duntybutt zu diesem Tisch im Royal Neptune in Lisballymoe zurückzulegen.

Sie würde einfach das Beste daraus machen müssen.

Nach einigen Schlucken Whiskey und ein paar Zigarettenzügen ging es Jamie besser. Wenn es auch immer noch entsetzlich heiß war und er jetzt richtig ins Schwitzen kam. Gerne hätte er die Krawatte gelockert, aber das hielt er für unhöflich.

»Und, leben Ihre Eltern noch?«, fragte Lydia.

Sie bemerkte, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte. Er sah auf den Tisch hinunter.

»Nein«, antwortete er. »Leider. Sie leben nicht mehr, weil sie tot sind.«

»Ich verstehe«, sagte sie und versuchte, nicht zu lächeln. »Das tut mir leid.«

»Was ich sagen wollte, ist ...«

»Es ist schon in Ordnung, James, ich weiß, was Sie sagen wollten.«

Sie erwartete, dass er ihr dieselbe Frage stellte, und ging in Gedanken noch einmal die Erklärung über ihre Mutter durch, doch merkwürdigerweise erkundigte er sich gar nicht danach. James fragte etwas ganz anderes.

»Ich nehme an, Sie fahren Auto, Lydeea?«

»Ja, das stimmt. Und Sie?« Sie fragte sich, wohin diese Frage führen sollte.

»Nein, Auto nicht ... nur Trecker.«

»Stimmt ja, das haben Sie mir ja in einem Ihrer Briefe geschrieben.« Sie sah, wie angeregt sich das Paar, das ihn begleitet hatte, unterhielt.

»Deswegen haben Ihre Freunde Sie auch hergebracht.«

»Jawohl, so wars. Das sind Rose und Paddy McFadden, meine Nachbarn. Paddy fährt mich gerne in der Gegend herum, macht er wirklich gern.« Der Whiskey löste Jamies Vokale und flachte die Konsonanten ab.

Es folgte ein weiteres peinliches Schweigen. Jamie versuchte, Lydia nicht allzu oft anzusehen. Sie war doch viel zu schön und verfeinert und intelligent, als dass sie irgendetwas mit einem wie ihm zu tun hätte haben wollen. Er wollte einen guten Eindruck bei ihr hinterlassen, sich dabei aber auch nicht zum Narren machen. Das fiel ihm sehr schwer, denn er hatte überhaupt keine Erfahrung mit Ersterem und viel zu viel mit Letzerem. Ihm war entsetzlich unbehaglich zumute und außerdem viel zu heiß.

»Was ist es denn für eins?« Jamie gab sein Bestes und traute sich, Lydia anzusehen, als er die Frage stellte.

»Wie bitte, was?«

»Ihr Auto ... ich meinte ... die Sorte. Äh, nein ... die ... die Marke.«

»Oh, Entschuldigung, James, ich hatte den Faden verloren. Muss an dem Sherry liegen.« Sie wünschte sich, sie würden die Klimaanlage in Gang setzen. Es war drückend heiß. »Ach, nur ein kleines, ein Fiat 850.«

»Ein gutes kleines Auto.«

Jamie stürzte seinen Whiskey herunter und zündete sich noch eine Zigarette an. Er zog daran, doch dann bemerkte er überrascht, dass die erste noch qualmend im Aschenbecher lag. Er drückte sie sofort aus und wollte sich gerade wieder über den Kopf streichen, überlegte es sich dann aber doch anders. Stattdessen starrte er seine Hand an, als sei sie eine gefährliche Waffe.

In der Zwischenzeit hatte Lydia den Kellner herangewunken. James McCloone sandte merkwürdige Signale aus und sie hatte den Eindruck, dass ihm noch etwas mehr Alkohol helfen könnte, ruhiger zu werden, und deswegen bestellte sie nach.

»Ich habe die Fahrprüfung nie gemacht, hatte irgendwie keine Zeit«, sagte Jamie. Er starrte noch immer auf seine Hand. Ab und an warf er einen Blick zu seinen Freunden hinüber. »Aber Paddy hilft mir da wirklich immer wieder gerne aus.«

In einiger Entfernung hatten Mr und Mrs Paddy McFadden es sich bequem gemacht und tranken Malt Whiskey und Orangensaft. Paddy nickte ununterbrochen wie ein Wackeldackel und paffte dabei, während Rose – die schon Hochzeitsglocken und das Getrappel kleiner Füße hörte – ihm ihre Kommentare zu den Entwicklungen am Tisch der einsamen Herzen zuflüsterte.

»Gott, was für ein schönes Paar, findest du nich, Paddy?«

»Jawohl, das stimmt allerdings.«

»Weißte, es is, als wären sie füreinander gemacht, denn sie haben genau dieselben Nasen. Siehst du das, Paddy?«

»Gott, nun, wo du’s sagst und ich sie so richtig ansehe, seh ich genau, was du meinst.«

Lydia lächelte Rose und Paddy an und Rose belohnte sie mit einem winzigen Windsor-Winken.

»Jawohl, Paddy hilft mir damit gerne aus«, wiederholte Jamie, »und Sie ... Sie kochen gerne, Lydeea?«

Lydia wusste nicht genau, wie sich Autofahren und Kochen in Jamies Kopf miteinander verbanden, aber sie versicherte ihm, dass sie sehr gerne kochte.

»Ich habe Ihnen nämlich solche Kekse mitgebracht, von denen ich Ihnen geschrieben habe.« Er schob ihr die verkrumpelte Tüte hinüber. »Die Rosinenkekse.«

»Oh, das ist aber wirklich aufmerksam, James!«

»Sieh doch mal, Paddy, jetzt hat er ihr die Rosinenkekse zugeschoben.«

»Ja, hab ich gesehen, Rose. Ich bestell vielleicht noch einen, möchtest du auch noch einen Orangensaft?«

»Sieh doch nur, Jamie muss über sie sprechen, denn Lydia guckt in die Tüte.« Rose klammerte sich aufgeregt an Paddys Arm.

»Siehst du’s, Paddy? Gott, ich hoffe bloß, dass sie ihn jetzt nich fragt, wie er die gemacht hat, denn das sag ich dir, Jamie hat bestimmt alles vergessen, was ich ihm erzählt hab.«

»Bestimmt«, stimmte Paddy ihr zu, der jetzt wirklich noch einen Drink bestellen wollte. »Willst du nun einen Orangensaft oder nich?« Paddy klimperte mit dem Kleingeld in der Hosentasche.

Rose beobachtete Jamie und Lydia, ihr Gesicht glühte vor Freude und Einverständnis. Auf einmal fand sie, dass sie einen Grund zum Feiern hatte, denn sie war es gewesen, die sich das alles ausgedacht hatte, dieses gesegnete Treffen und Jamies Verwandlung von einem einsamen Junggesellen zum potenziellen Ehemann.

»Rose ...«

»Nein, Paddy, ich sag dir, was ich haben will.« Sie wischte sich mit einem bestickten Taschentuch die Stirn ab. »Zur Feierlichkeit des Tages nehm ich so’n Herveys Bristle Cream Sherry, jawohl.«

Geheimnis gelüftet, dachte Lydia. Sie schloss die Tüte und lächelte ihn an. Merkwürdige Schweißkügelchen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. »Wirklich vielen Dank. Haben Sie sie selbst gemacht?«

»Jawohl«, log Jamie.

»Wirklich!«

Jamie, dem Lydias Lob und der Alkohol zu Kopf gestiegen waren, dachte, er könne sie noch mehr beeindrucken, wenn er ihr erklärte, wie er sie gebacken hatte.

»Ach, die sind ganz leicht zu machen, ehrlich. Man wirft etwas Mehl auf die Arbeitsfläche und rührt ein bisschen und dann ... und ...« Er versuchte sich daran zu erinnern, wie Rose es ihm vorgemacht hatte. »Dann haust du ein paar Eier rein und rührst wieder weiter. Und dann musst du ... ja, dann musst du ...« Jamie sah zu Rose hinüber, von der er sich Inspiration erhoffte. Er bekam aber nur ein weiteres königliches Winken. Lydia ermutigte ihn nickend.

»Na ja, und dann ... ach so, ja klar, dann schmeißt du noch ein paar von den kleinen Braunen da rein, wie heißen die noch ...«

»Sultaninen?«

»Genau die! Und dann rührt man weiter und dann sind sie soweit, dass man sie in den Ofen knallt, und das wars.« Jamie nahm noch einen Schluck Whiskey. Er war mit sich zufrieden, denn er fand, wenn er so aggressive Verben wie »werfen«, »hauen«, »schmeißen« und »knallen« benutzte, würde sie ihn bestimmt für einen Experten der kulinarischen Künste halten.

»Wie interessant!« Lydia lächelte, während sie sich fragte, wo der Zucker, das Salz und vor allem die unabdingbare Margarine geblieben waren.

In dem Moment tat sich etwas an der Tür. Eine Gruppe Herren jenseits des mittleren Alters hatte die Lounge betreten. Sie kämpften ausnahmslos mit unterschiedlichen Stadien von Haarausfall und hatten diesen Verlust mit Backen- und Schnurrbärten und mit Koteletten zu kompensieren versucht. Sie trugen Sportjacketts und Krawatten, und Lydia sah konsterniert, dass sie alle eine Kamera dabeihatten. Ihr fiel wieder die Ankündigung in der Lobby ein. Heute hielt der Fotoclub hier seine Tagung ab – der Kameraclub von Killycock, bei dem der grässliche F.X. McPrunty Mitglied war. Sie sah schnell weg, ihr Herz hämmerte. Gebe Gott, dass er nicht dabei war!

Jamie bemerkte, dass Lydia Angst hatte, aber er konnte sich keinen Reim darauf machen. Er sah die Herren genauer an, entdeckte aber nichts Außergewöhnliches an ihnen.

»Ach, das ist doch nur ein Haufen Foto... Fotografen. Die werden schon keine Fotos von uns machen, bestimmt nicht.«

Lydia lächelte und versuchte ruhig zu bleiben. Jetzt schwitzte sie auch. Sollte sie zur Toilette sprinten? Als sie wieder zu ihnen herüberblickte, war sie überrascht, eine vollbusige junge Frau unter ihnen zu sehen, die einen Minirock und Lackstiefel trug. Die Herren summten um sie herum wie Motten ums Licht.

Das also ist mit dem Glamourfotoclub gemeint, dachte Lydia.

Als sie später auf die nun folgenden Ereignisse zurückblickte, konnte sie sich nur selbst die Schuld geben. Die junge Frau warf ihre blonden Haare herum und flirtete, und plötzlich wurde Lydia gewahr, dass einer der Herren sie direkt ansah. Sie traute sich nicht, noch einmal hinzusehen, denn ihre Ängste waren nur allzu begründet. Sie wandte sich Jamie wieder zu.

»Gott, wie heiß das hier ist, nicht?«

»Es ist ganz schön warm, das stimmt.«

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich das Fenster öffne?«

»Oh, bitte lassen Sie mich das machen, Lydeea.«

Beim Aufstehen warf er fast ihre Drinks um, dann mühte er sich ungeschickt mit dem Fenster ab, aber es war hoffnungslos.

»Ich glaube, es is beim Streichen zugekleistert worden. Das Mistdings bewegt sich nicht einen Millimeter!«

Er nahm wieder Platz. »Oder es ist eins von diesen Neuen, die sich nicht mehr öffnen lassen, damit man nicht rausspringen kann.«

»Ja, das könnte natürlich sein«, sagte Lydia, dabei fand sie es unwahrscheinlich, dass irgendjemand zu diesem Zweck aus einem Erdgeschossfenster springen würde, außer vielleicht ein lebensmüder Zwerg. Sie lächelte und warf noch einen verstohlenen Blick auf die Gruppe.

Es war schon zu spät für eine Flucht. Zu spät für den Sprint, zu spät, sich zu verstecken, denn vor ihren Augen spielte sich das ab, wovor sie am meisten Angst gehabt hatte. Frank Xavier McPrunty kam auf sie zugestapft: der kleine kahle Kopf mit einem wutverzerrten Schildkrötengesicht, die auffällige maulbeerrote Krawatte, die auf- und abhüpfende Kamera vor dem Blazerbauch – es war kein Zweifel möglich. Er blieb an ihrem Tisch stehen, sah von Lydia zu Jamie und wieder zu ihr zurück.

»Ich habe mir doch gleich gedacht, dass Sie das waren«, meckerte er sie mit seiner dünnen Stimme an. »Ich muss schon sagen, dass Sie sich erdreisten und hier mit einem anderen Mann Ihre Kapriolen drehen. Sie sollten sich was schämen!«

Jamie sah von ihm zu Lydia, die gerade beschlossen hatte, dass es das Beste sei, einfach alles zu leugnen. Vom Sherry angefeuert, warf sie McPrunty einen vernichtenden Blick zu.

»Ich weiß nicht, wer Sie sind«, sagte sie in ihrer besten Lehrerinnenstimme, »aber mein Freund und ich trinken hier in aller Ruhe einen Drink und wir würden es sehr begrüßen, wenn Sie uns in Ruhe ließen.«

»Sie sind mir die Richtige, von Freundschaft zu sprechen!«

Seine Kehllappen schwabbelten wütend über der roten Krawatte. So leicht würde sie den nicht loswerden. Aber Jamie war schon aufgestanden, mit erhitztem Gesicht und durchgehendem Temperament. Er ergriff die Gelegenheit, sich zum Herrn der Lage zu machen.

»Sie haben doch gehört, was meine Freundin gesagt hat, oder etwa nich?«, rief er. »Wenn Sie nich sofort gehn, hau ich Ihnen eine rein, da können Se sich aber drauf verlassen.«

Die Drohung schien zu wirken. McPrunty trat einen Schritt zurück.

»Ach, jetzt reden Sie noch so!«, warnte er Jamie. »Aber sie wird Sie auch noch zum Narren halten!«

Und damit drehte er sich auf dem Absatz um und marschierte zurück zu seiner Gruppe an der Bar.

»Kannten Sie diesen neugierigen ollen Bastard denn wirklich?« Jamie sah McPrunty hinterher. Dann dämmerte ihm, dass das vielleicht nicht die allerbeste Wortwahl gewesen war. »Ich bitte um Entschuldigung, Lydeea, ich wollte nur sagen ...«

Aber er unterbrach sich, denn Miss Devine lachte aus vollem Hals. Jamie ließ sich anstecken, er konnte gar nicht anders. Der komische kleine Mann mit der Kamera hatte das Eis zwischen ihnen gebrochen.

»Oh, guck doch mal, Paddy, sie scheinen sich riesig gut zu verstehen«, sagte Rose und stupste Paddy an, der fast weggenickt wäre; der Whiskey, die gedämpfte Atmosphäre und Roses leiernde Analyse der romantischen Entwicklungen hatten auf ihn eine einschläfernde Wirkung. »Was wollte der winzige Mann denn von ihnen? Wollte der ihnen den Wasserkrug wegnehmen, weil sie sich so gut verstehen? Paddy, hörst du mir überhaupt zu?«

»Vielleicht hatte er das vor«, sagte Paddy und kam langsam wieder zu sich wie ein dösender Hund, der aus seinem Mittagsschlaf gerissen wird. »Jamie sieht so richtig gut aus in dem Anzug ... torfbraun, glaub ich, so hat Mr Harvey die Farbe genannt.«

»Na, ich würd das eher für saucenbraun halten. Und guck doch nur mal, wie ihm das Tuppett wie angegossen passt. Weißte, Paddy, ich finde ja, du solltest dir auch so eins besorgen, denn du wirst auch langsam ziemlich kahl.«

Am Tisch der einsamen Herzen unterhielten sich der Farmer und die Lehrerin jetzt freier, es ging um ihre Berufe – der eine erzählte vom Bauernhof, die andere aus dem Klassenzimmer. Die Temperatur in der Lounge war mittlerweile tropisch. Jamie sprach über seine Tiere und das Akkordeon und Lydia über ihre Bücher und die Musik.

Nach und nach entspannte sich Jamie, der Alkohol und die schwüle Atmosphäre hatten die Ecken und Kanten seines ängstlichen Ichs gerundet. Er konnte gar nicht fassen, wie wohl er sich in der Gesellschaft dieser Frau fühlte, und deswegen verschob er das dringende Bedürfnis, die Toilette aufzusuchen. Aber nach einer Stunde musste er sich doch entschuldigen, denn er musste sich nicht nur erleichtern, es kribbelte ihm auch immer stärker auf der Kopfhaut.

In der Herrentoilette sah er prüfend in den Spiegel und wollte sich die Schweißtropfen von der Stirn wischen. Aber er hatte sich getäuscht.

Es waren Klebstoffkügelchen – vom Toupet.

Er war überrascht, aber nicht besonders beunruhigt. Er ließ sich Wasser über die Finger laufen und ein paar Minuten später waren alle klebrigen Spuren des Haftmittels verschwunden. Er lächelte sich im Spiegel zu und freute sich, dass alles so gut lief.

Dann ging er in eine Kabine, um Wasser zu lassen, den Blick fest auf die Toilettenschüssel gerichtet. Beim Pinkeln fiel er in eine uralte Gewohnheit zurück: Er suchte immer nach dem Schriftzug auf den Schüsseln: Shanks Patent «Unix” Washdown; Royal Doulton «Simplicitas” ... Er kannte ein halbes Dutzend Hersteller auswendig, es schienen immer irgendwie dieselben zu sein. Dann dachte er daran, was für ein Glück er gehabt hatte, endlich auf diese wunderbare Dame gestoßen zu sein, und ließ sich in einen Tagtraum gleiten.

Er sah sich in einem weißen Anzug an Lydias Arm einen sonnendurchfluteten Gang hinuntergehen, während die Orgelmusik anschwoll, als sie sich dem Altar näherten und auf den prunkvollen Kissen niederknieten. Er sah sich selbst, wie er ihr einen Ehering auf den Finger schob und seine Braut küsste. Und dann setzte die Musik wieder ein.

Die Toilettentür wurde geöffnet und brachte Jamie in die Gegenwart zurück. Er beeilte sich fertig zu werden – doch der Reißverschluss ließ sich partout nicht hochziehen. Dann fiel ihm Mr Harveys Rat ein: Die Reißverschlüsse sind etwas spröde, wenn sie neu sind, aber Sie müssen sie mit einem kräftigen Ruck hochziehen, dann klappt das schon. Jamie beugte sich vor, zog den Bauch ein, kniff die Augen zusammen und zog miteiner heftigen Bewegung am Reißverschluss. Das wars: Der Hosenstall war wieder zu.

Doch mit dem Ruck, mit dem er den Reißverschluss hochgezogen hatte, hatte sich etwas anderes gelöst.

Er war irgendwie erleichtert, und sein Kopf fühlte sich erfrischend kühl an. Als er die Spülung herunterdrückte, nahm er aus dem Augenwinkel etwas Merkwürdiges in der Toilettenschüssel wahr. Er ging in die Knie, damit er es besser sehen konnte.

»Jesus, Maria und Josef!«

Er griff sich an die Kopfhaut – da war nur noch eine klebrige Glatze.

»Jesus, Maria und Josef!«, rief er wieder und zog das tropfnasse, uringetränkte Haarteil aus der Schüssel. Die Tragweite dieser Katastrophe schlug ihn wie ein nasses Handtuch ins Gesicht.

»Jamie, bist du da drinnen?«, rief ihn jemand aus der Nachbarkabine.

Jamie hielt die Luft an. Was, wenn das der kahle kleine Bastard mit der Kamera war? Ach Unsinn, der kannte seinen Namen doch gar nicht.

»Ja, ich bin’s«, sagte er zögerlich. »Wer ist da?«

»Paddy!«

»Himmelherrgott nochmal, Paddy!«

Die beiden Kabinentüren wurden gleichzeitig entriegelt. Paddy starrte seinen Freund an und versuchte aus dem entmutigten Jamie schlau zu werden, der aussah, als wäre er mit dem Kopf voran auf einen Basteltisch im Kindergarten gefallen. Seine Kopfhaut war voller Klebstreifen und Klebstoffkleckser. Und worauf er sich absolut keinen Reim machen konnte: Warum liefen die wirren Worte Klebfähigkeit variiert je nach in roten Lettern über seinen kahlen Kopf?

»Ach du lieber Gott, wie ist denn das passiert, Jamie?«, fragte Paddy überflüssigerweise, denn er kannte die Antwort schon. Jamie hielt das Toupet in der Hand. Urin tropfte auf die Fliesen herunter.

»Jesus Christus, Paddy, damit hätte ich nie und nimmer gerechnet!« Er sah niedergedrückt auf das Haarteil. »Ich dachte, es ist ganz fest auf dem Kopf. Zuhause hab ich dran gezogen, nur um ganz sicher zu gehen, und es hat sich nich einen Millimeter bewegt.«

Doch während er das sagte, fielen ihm die Warnungen in der kleinen Gebrauchsanleitung ein, die er nur kurz überflogen hatte. Jetzt, wo es zu spät war, standen ihm die Zeilen wieder vor Augen: Übermäßiges Schwitzen kann zu einer Verkürzung der Klebfähigkeit führen. Benutzen sie keine Pomaden oder Lotionen auf diesem Produkt.

»Na, dann waschen wir’s mal aus«, sagte Paddy, »und hauen’s dir wieder auf den Skalp.« Er tätschelte Jamies Glatze. »Das klebt ja noch schön, das müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn es nich nochmal hält.«

»Aber es is nass!«, jammerte Jamie. »Was soll ich ihr denn sagen, wenn sie mich mit einem klatschnassen Kopf ankommen sieht?«

»Ach, überlass das einfach mir, Jamie.« Paddy nahm das Haarteil und wusch es mit Seife aus. »Du könntest sagen, du hast einen kurzen Spaziergang gemacht und es hat geregnet.« Paddy dachte nach, dazu hatte er nur selten Gelegenheit.

»Aber Paddy, die Sonne brennt vom Himmel. Ich kann ja schlecht behaupten, dass es in der Toilette geregnet hat.«

Jamie starrte in den Spiegel, er war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Er sah so untröstlich aus, als sei er auf dem Weg zum Galgen.

»Mann, das ist doch das Allerletzte!«, rief er. »Wir kamen grad so unheimlich gut zurecht und jetzt is alles für die Katz.« Paddy nickte mitfühlend und trocknete das Toupet mit einem Handtuch. Er hielt es ans Licht und war zufrieden.

»Hier, bitte sehr, Jamie, versuch es mal aufzusetzen.«

Jamie legte es wieder auf den Kopf. Aber das Einweichen in Urin zeitigte seine Wirkung und außerdem hatte Paddy die Seife nicht richtig ausgespült. Das Haarteil ähnelte jetzt einer Wasserratte, die durch einen Stromschlag zu Tode gekommen war.

»Sieht richtig gut aus«, bemerkte Paddy, obwohl ihm klar war, wie weit er sich damit von der Wahrheit entfernte. »Jetzt kannst du wieder zurückgehen. Ich und Rose warten so lange, wie du möchtest, Jamie.«

Verdrießlich musterte Jamie sein Spiegelbild. Vielleicht hatte Paddy ja recht, dachte er, als er den Kopf hin und her wandte. Zur Not ging es durch. Aber nur zur Not.

»Ach, es sieht doch grauenhaft aus!«, sagte er zum Spiegel.

»Überhaupt nich«, sagte Paddy sanft. Es sieht ein bisschen nass aus, Jamie, aber bei der Hitze trocknet es doch ganz schnell.«

»Na, vielleicht haste recht.« Jamie sah noch einmal in den Spiegel. »Und sonst, wie seh ich aus?«

»Du siehst toll aus. Ich und Rose haben grad gesagt, du hast noch nie so gut ausgesehen.« Er klopfte Jamie auf den Rücken. »Und dass du und Miss Devine, dass ihr gut ausseht zusammen. Wirklich ein hübsches Mädchen. Weißte, Rose hat gesagt, ihr seht aus, als wärt ihr füreinander gemacht, denn ihr habt beide dieselbe Nase.«

»Hat Rose das gesagt?«

»Ja, hat sie. Und jetzt solltest du zuerst rausgehen, Jamie, denn es könnt ein bisschen komisch aussehen, wenn wir zusammen rausgehen. Wir waren ganz schön lang hier drinnen, und wir wollen ja nich, dass die Leute reden.«

Jamie nickte.

»Du willst die Lady doch nich mehr warten lassen.«

»Nee, da haste völlig recht, Paddy.«

Jamie schickte sich an zu gehen, warf einen letzten Blick in den Spiegel und knöpfte das Jackett zu, doch dann machte er den Fehler, auf seine Schuhe hinabzusehen. Mit der unglückseligen Folge, dass sich das Toupet verabschiedete. Es fiel auf eine seiner schimmernden braunen Schuhe und sah ganz wie ein Nagetier aus.

»Himmelherrgott nochmal! Das wars! Ich geh nich mehr zu ihr. Das Drecksteil hält einfach nich!«

Paddy bückte sich und hob es auf.

»Ach, komm schon, Jamie«, sagte er wieder sanft, »versuch’s doch einfach noch mal. Du könntest doch den Kopf ganz stillhalten und nich hochoder runtersehn, dann hält es doch bestimmt.«

»Nee, Paddy, das will ich nich riskieren.«

»Bist du ... bist du dir ganz sicher, Jamie?«

»Ich lass mich eher an die Wand stellen und erschießen, als dass mir das Dings da vor ihren Augen vom Kopp fällt: So wahr Gott mir Atem eingepustet hat.«

Paddy kratzte sich unschlüssig am Kopf. »Oh, hört sich so an, als bist du dir sicher genug.« Davon würde sich Jamie nicht mehr abbringen lassen. Er hatte sich entschieden.

Die Männer standen unschlüssig herum, bis Paddy eine Idee hatte.

»Weißte was, Jamie. Ich frag Rose, was wir machen sollen.«

Jamies Gesicht hellte sich auf.

»Genau, das isses, Paddy. Rose weiß bestimmt, wie’s jetzt weitergeht. Warum sind wir da bloß nich eher drauf gekommen?«

Paddy verließ die Toilette. Jamie stopfte das Toupet in die Tasche, setzte sich auf eine der Toilettenschüsseln und wartete ab, welche Lösung Rose bei all ihrer Lebensklugheit für sein riesiges Problem parat hatte.

Lydia sah auf die Uhr. James war schon vor rund zwanzig Minuten zur Toilette gegangen und langsam kam ihr das merkwürdig vor. Die Fotografen hatten sich in einem abgetrennten Bereich mit Sandwiches niedergelassen. Immer wenn Lydia in ihre Richtung sah, funkelte McPrunty sie hinter seiner Gleitsichtbrille drohend an. Sie tat, als lese sie die Times.

Was konnte James um Himmels willen denn nur zugestoßen sein? Sie würde seine Freunde ansprechen und den Mann bitten, nach ihm zu sehen.

Sie legte die Zeitung zusammen und stand auf, da entdeckte sie, dass seine Freunde auch verschwunden waren.

»Hallo, Miss Devine!« Sie schreckte zusammen, doch als sie sich umwandte, sah sie sich einer Frau mit ausgestreckter Hand gegenüber. »Ich bin Jamies, ich meine James’ Freundin. Rose McFadden mein Name.«

Lydia erinnerte sich. »Oh, Rose! Nett, Sie kennenzulernen. Ist etwas passiert? Geht es James gut?«

»Nein, also, Miss Devine ...«

»Bitte nennen Sie mich Lydia.« Sie sah sie bang an. »Bitte setzen Sie sich doch.«

»Vielen Dank, Lydeea. Danke der Aufforderung.«

Rose machte es sich auf Jamies Stuhl bequem, die Handtasche setzte sie auf den Knien ab.

Sie hatte sich zu dieser besonderen Gelegenheit sorgfältig angezogen. Lydia konnte es nicht ahnen, aber Rose hatte das Polyesterkleid mit kundiger Hand eigens schräg geschnitten und ihre Zopfmusterjacke – bei der sie ihr Geschick im Anfertigen von Häschenbommeln und im Patentstrick herausstellen konnte – hatte 1972 den ersten Preis des Dunty butt Women’s Institute beim kreativen Weihnachtswettbewerb in der Kategorie Damenstricksachen gewonnen. Sie hatte sich eine neue Dauerwelle im Curl-Up-’n’Dye-Salon machen lassen und nun standen ihr Myria den winzig kleiner zimtfarbener Löckchen vom Kopf ab. Außerdem hatte sie sich mit Almond Surprise von Yardley frisch eingepudert. Am Handgelenk klimperten dreiundzwanzig Glücksbringer, von denen jeder Einzelne für ein weiteres, erfolgreich überstandenes Ehejahr stand.

»Sie müssen sich keine Sorgen machen, Lydeea«, sagte sie freundlich. »James hat ein kleines Problem auf der Herrentoilette und er braucht eine Weile. Falls Sie verstehen, was ich meine.«

»Nein, eigentlich nicht, Rose. Ist ihm übel?« Lydia richtete sich auf. »Ich habe Erfahrung mit Erster Hilfe. Vielleicht könnte ich ihm helfen?«

Darauf war Rose nicht vorbereitet. Sie hatte Jamie nur versprochen, dass sie »sich um alles kümmern« würde. Sie hatte ihm versichert, dass es die beste Strategie sei, Lydia zu erzählen, er sei krank geworden, aber jetzt sah sie, dass Miss Devine sich richtige Sorgen machte und genau wissen wollte, was los war. Rose musste sich schnell etwas ausdenken und das war etwas, woran sie, genau wie ihr Ehemann, gar nicht gewöhnt war. Deswegen sagte sie das Erstbeste, was ihr in den Kopf kam.

»Tja, wissen Sie, Lydeea, Gott segne und schütze uns, aber so schlimm isses auch wieder nich. Er hat einfach nur ein Problem.« Sie sah auf ihren Schoß herab. »Da unten.«

Lydia starrte sie immer noch verwundert an.

»Ein Herrenproblem«, führte Rose flüsternd aus. »Manchmal braucht er eine oder sogar zwei Stunden.«

Lydia wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Da Rose das Schweigen unterbrechen wollte, beging sie die Todsünde aller unerfahrenen Lügner: Sie breitete einen großen Teppich anekdotischer »Fakten« aus, damit ihre Lüge plausibler erschien.

»Is ’ne Familienkrankheit, Lydeea. Sein Onkel war genauso, und Sie kennen ja das Sprichwort ›Der Apfel fällt nicht weit vom Mann‹. Also meine Mutter, Gott sei ihrer Seele gnädig, war da ganz anders: In der einen Woche klappte alles, in der nächsten ging gar nichts mehr. Wahrscheinlich die Nerven. Sie hatte eine nervöse Depposition oder wie man das nennt. Keine große Esserin, pickte sich hier mal was raus, da mal was, so Rosinen ausm Kuchen, mehr die Art. Und wenn man nich richtig isst, das ist gar nich gut für einen, und James – Gott hilf uns – war auf Diät wegen, weil er Sie doch treffen wollte.«

Rose lehnte sich zurück, erleichtert, dass sie die peinliche Nachricht überbracht hatte.

»Es tut mir sehr leid, Rose.«

»Und glauben Sie mir, wie leid es James erst mal tut, dass er ausgerechnet jetzt nich herauskommen kann.« Sie lehnte sich wieder vor und umklammerte ihre Handtasche, als wollte sie eine Erscheinung der Jungfrau Maria bekanntgeben. »Er hat volle Verständigkeit, dass Sie nich so lange warten können, weswegen er mir aufgetragen hat, dass ich Sie mal fragen sollte – aber nur, wenns Ihnen nichts ausmacht, natürlich – könnten Sie ihm vielleicht unter Umständen wohl Ihre Telefonnummer geben, das is, wenn Sie eine haben, weil er gesagt hat, er will Sie gerne wiedersehen, denn Sie sind eine echte Dame, und das kann ich mit meinen eigenen Augen beweisen, Lydeea.«

Lydia lächelte und griff nach ihrer Handtasche. Dann schrieb sie ihre Nummer auf und riss die Seite aus ihrem Kalender. Rose faltete sie zusammen und steckte sie ein.

»Wirklich vielen Dank, Lydeea. James wird ganz erleichtert sein, dass Sie sein winzig kleines Problemchen verstanden haben.«

Sie stand auf und ergriff Lydias Hand. »Und ich hoffe, James und Sie lernen sich noch besser kennen«, sagte sie, »denn er is ein guter Bursche mit einem freundlichen Herz, und welche von seiner Sorte gibt es heutzutage nich mehr viel. Gott, seit Sie ihm geschrieben haben, ist er so stolz wie ein Hahn auf dem Misthaufen.«

»Das freut mich, Rose. Vielen Dank, dass Sie mir alles erklärt haben. Hoffentlich sehen wir uns bald einmal wieder.«

Rose eilte in Richtung Toiletten, um die gute Nachricht zu überbringen. Lydia suchte ihre Sachen zusammen – genau in dem Moment, in dem Daphne die Lounge betrat. Daphne runzelte die Stirn, als sie den leeren Stuhl Lydia gegenüber bemerkte.

»Wo ist ...?«

Lydia nahm sie beim Ellenbogen und lenkte sie auf den Ausgang zu.

»Ich erklär’s dir im Auto.«

»Ist es denn nicht gut gegangen?«

»Ja und nein. Es war ...«

Lydia unterbrach sich. Jemand hatte ihr auf die Schulter geklopft. Als sie sich umdrehte, stockte ihr der Atem.

»So, Miss Devine«, sagte ein kleiner glatzköpfiger Mann, »jetzt wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn man im Stich gelassen wird! Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, tut auch ihr ihnen gleicherweise. Lukas 6, Vers 31. Ich persönlich bin Christ – und das ist mehr, als man von manchen anderen hier im Saal sagen kann!«

Frank Xavier McPrunty zupfte seine Krawatte zurecht, schob die Brille hoch und marschierte triumphierend hinaus in den Sonnenschein. Die beiden Damen sahen ihm verblüfft hinterher.