15

Lydia las den Brief von Frank McPrunty noch einmal in der relativen Ungestörtheit ihres Schlafzimmers durch. Mit dem Rücken lehnte sie an der geschlossenen Tür, nur für alle Fälle. In zwei Stunden sollte sie sich mit ihm treffen und bis dahin wollte sie sich seine persönlichen Umstände noch einmal vor Augen führen.

Als Lehrerin näherte sich Lydia den meisten Dingen des Lebens mit einem analytischen Verstand. Frank McPrunty war ein Projekt, sein Brief eine Klassenarbeit. Sie musste ihn noch einmal gründlich durchsehen, bevor sie entscheiden konnte, ob er durchgefallen war oder bestanden hatte.

Liebe Miss Devine,

ich habe mich außerordentlich gefreut, Ihren liebenswürdigen Brief zu erhalten, und fühle mich zutiefst geehrt, dass Sie sich für meine Wenigkeit interessieren. Ich hoffe, dass meine Antworten auf Ihre Fragen Ihren Erwartungen entsprechen.

Ich bin einundsechzig Jahre alt, doch man sagt mir, ich würde zehn Jahre jünger aussehen. Dieses jugendliche Aussehen bewahre ich durch das disziplinierte Einhalten einer Diät und Bewegung. Ich versuche mich gesund zu ernähren und gehe viel mit meinem Hund Snoop spazieren, wie ich Ihnen wohl schon geschrieben habe.

Nein, ich war noch nie verheiratet. Auch wenn es nicht daran gelegen hat, dass mir die Gelegenheiten gefehlt hätten. Im Nachhinein wird mir deutlich, dass ich wahrscheinlich zu vorsichtig und zu schwer zufriedenzustellen gewesen bin. Wenn wir jung sind, meinen wir, alle Zeit der Welt zu haben, dabei haben wir nur sehr wenig, wie ich jetzt zu meinen Ungunsten feststellen muss.

Sie haben mich gefragt, wonach ich in einer Frau suche, und ich werde ehrlich sein. Vor allem brauche ich Gesellschaft. Ich könnte in Hinblick auf diese äußerst wichtige Frage noch mehr schreiben, doch bin ich der Ansicht, dass man solche Dinge besser unter vier Augen bespricht. Worte stehen manchmal auf einer blendend weißen Seite so unpersönlich und herzlos da.

Zu diesem Zweck, Miss Devine, und bitte entschuldigen Sie meinen Vorstoß, halte ich es für angeraten, dass wir uns kennenlernen sollten. Ich werde zwischen vier und fünf Uhr nachmittags am Donnerstag, dem 7. August, im Chestnut Inn Hotel auf der Landstraße nach Killoran sein und Sie in der Lounge erwarten.

Ich trage dann einen dunkelblauen Blazer, eine graue Hose und eine rote Krawatte. Auf dem Tisch liegt meine Rolleiflex. Meine Kamera ist teuer und wird sonst hauptsächlich von professionellen Photografen benutzt [Lydia schnalzte mit der Zunge, weil der Eisenwarenhändler uneinheitlich mit f und ph schrieb], sodass ich sie für ein zuverlässiges Zeichen für sie halte. Jedenfalls wenn an dem Tag kein Empfang und keine Hochzeit stattfindet, was natürlich störend wäre. Doch glaube ich kaum, dass ein Hochzeitsphotograf seine Ausrüstung vor sich auf den Tisch legt. Deswegen nehme ich an, dass meine Kamera ein gutes Zeichen ist.

Ich hoffe sehr, dass Sie sich zum Kommen entschließen. Ich werde bis deutlich nach fünf Uhr im Hotel bleiben, falls Sie sich aus irgendeinem Grund verspäten sollten. Ich freue mich außerordentlich darauf, Sie kennenzulernen.

In freudiger Erwartung verbleibe ich mit freundlichen
Grüßen,
Frank Xaver McPrunty

Lydia faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder in ihre Handtasche, zufrieden zu wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Sie hatte sich dafür entschieden, Mr McPrunty zuerst zu antworten, weil er ihr von den beiden, die infrage kamen, etwas interessanter erschienen war und mehr zu ihrem eigenen intellektuellen Niveau zu passen schien. Mr McCloone, den Farmer, behielt sie erst mal in der Hinterhand, falls sich Frank als ungeeignet erweisen sollte.

Sie warf einen letzten Blick auf ihr Spiegelbild und freute sich über ihre elegante Silhouette. Das rosa Kleid mit der hohen Taille, dem schwingenden Rock und dem Schmetterlingskragen war eine gute Wahl: Sie wirkte darin auf eine unauffällige Weise attraktiv.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie Daphne in zwanzig Minuten an der Bücherei abholen konnte. Ihre Freundin hatte sich bereit erklärt, sie zur moralischen Unterstützung zu begleiten.

»Natürlich komme ich mit, meine Liebe!«, hatte Daphne ihr versichert. »Sonst könnte dich der mysteriöse Fremde noch entführen und ich würde dich nie mehr wiedersehen.«

Bei dem Gedanken musste Lydia lächeln. Sie legte sich eine weiße Strickjacke über die Schultern, nahm ihre Tasche, hob ein Bibliotheksbuch auf und verließ das Zimmer. Das Buch diente der Tarnung ihres Vorhabens.

»Ich gehe eben noch mal bei Daphne in der Bibliothek vorbei, Mutter.« Lydia versuchte, so fröhlich und natürlich zu klingen wie möglich. »Soll ich Bücher für dich auswechseln?«

Elizabeth Devine saß im Wohnzimmer mit dem Stickrahmen auf dem Schoß. Eine Tasse Tee stand bereit und im Fernseher rollte eine stumme Fanny Craddock gerade Teig aus. Sie sah Fanny weiter zu und ignorierte Lydia.

»Die Stimme kann ich nicht aushalten! Hört sich an, als würde sie auf Kies kauen. Und warum muss sie überhaupt so viel reden? Wir sehen doch, was sie tut. Wir sind doch nicht schwachsinnig.«

Lydia wartete, bis ihre Mutter fertig war, dann versuchte sie es noch mal.

»Mutter, soll ich Bücher für dich austauschen?« Sie hielt ihr Buch von Victoria Holt in die Luft.

»Und ihr Ehemann ist ein kompletter Idiot. Sieh ihn dir nur mal an!« Johnny Craddock kam gerade mit einer Kastenform und einem Holzlöffel ins Bild.

»Warum zieht er sich so an, wenn er backt? Mit Blazer und Krawatte? Man sollte meinen, er wäre beim Pferderennen. Wo sind deren Schürzen denn bloß?«

Lydia sah Johnnys Blazer und Krawatte als Omen des unmittelbar bevorstehenden Ereignisses. Sie erinnerte sich an Frank McPruntys Beschreibung der Aufmachung, in der er zu erscheinen gedachte: dunkel blauer Blazer, graue Hose, rote Krawatte. Als sie Johnny Craddocks kahlen Kopf und das Monokel im Auge betrachtete, erschrak sie. Dann bringe ich es lieber so schnell wie möglich hinter mich, dachte sie.

»Mutter ...«

»Ja, ja, die Bücher. Mit der Cookson bin ich noch nicht durch, aber das andere Geschmier kannst du zurückbringen.« Sie deutete auf das Buch auf der Fensterbank. »Jean Plaidy kommt mir nicht noch mal ins Haus! Da hat eine Frau ihr Oberteil vor einem Mann ausgezogen. So einen Schund habe ich noch nie gelesen. Und sag dieser Freundin von dir, sie soll es unter Verschluss halten oder lieber gleich in den Müll schmeißen, wo es hingehört.«

Lydia nahm das Stück »Pornografie« an sich, beugte sich hinab und küsste ihre Mutter zum Abschied, während der Abspann von Fanny Craddock lief.

»Warum hast du so viel Parfüm aufgetragen?«, wollte Mrs Devine augen blicklich wissen. Sie musterte Lydia von Kopf bis Fuß. »Außerdem trägst du deine Sonntagsschuhe.«

»Mutter, ich gehe aus.« Lydia sah, wie sich in den Augen ihrer Mutter der allzu bekannte Funke des Misstrauens entzündete. »In die Bibliothek.«

»Du führst irgendwas im Schilde. Warum hast du so viel Parfüm aufgetragen, wenn du doch nur deine Freundin besuchst?« Elizabeth strich über die Wange ihrer Tochter. »Und du hast das Puder viel zu dick aufgetragen. Irgendwo gibt es einen Mann. Ich kann ihn fast riechen.«

»Mutter«, begann Lydia mittlerweile sehr ungeduldig, »ich habe das Parfüm für mich aufgetragen, hörst du? Das Puder, die Schuhe – alles nur für mich.« Sie klopfte sich mehrmals gegen den Brustkorb, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Für mich! Nicht für Daphne, nicht für irgendeinen Mann oder irgendeine andere Frau. Nur für mich, verstehst du?«

Schweigen. Elizabeth war bereit einzusehen, dass Lydia ihr gut zurück gegeben hatte, aber trotzdem musste sie noch einen vergifteten Pfeil abschießen, als Lydia sich zum Gehen anschickte.

»Was du sagst, du siehst aus wie eine Dirne, und wenn dein Vater noch hier wäre, hätte er dir verboten, so vor die Tür zu gehen.«

»Bis in zwei Stunden. Ich lasse mir auch noch die Haare machen.«

Das rief Lydia schon über die Schulter, als sie auf dem kürzesten Weg zur Haustür schoss. Den Friseurtermin hatte sie sich ausgedacht; sie wusste, dass ihre Mutter protestieren würde, weil sie nicht früher über etwas so Wichtiges informiert worden war. Friseurtermine waren Elizabeths Domäne.

Und so sicher wie das Amen in der Kirche hörte sie noch den ersten Teil des Einwands ihrer Mutter.

»Du hast nie etwas von einem ...«

Aber Lydia war schon draußen; die Freiheit rief.

Der Parkplatz am Chestnut Inn Hotel war fast leer, als Lydia und Daphne einbogen. Sie zählten nur fünf Autos.

»Wie es aussieht, müssen wir uns mit keiner Hochzeit abfinden«, sagte Lydia, stellte den Motor ab und sah in den Rückspiegel. »Ein Segen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn hier Scharen von Leuten herum laufen würden.«

»Was für ein wunderbarer Ort«, sagte Daphne und sah an der weißen georgianischen Fassade hoch. »Bist du schon einmal hier gewesen? Gott, sieht ziemlich feudal aus. Dieser Frank scheint einen reichlich teuren Geschmack zu haben, das muss man ihm lassen.«

Aber Lydia hörte ihr kaum zu. Als sie über die gepflegten Rasenflächen und Hecken hinwegsah, überdachte sie ihr Vorhaben. Auf jeden Fall würde sich ihr das, was jetzt kam, für immer einprägen.

»Was?«, fragte sie geistesabwesend. Daphne war immer noch am Schwärmen. »Schon ziemlich großartig, findest du nicht?«

»Bist du nervös?« Daphne drückte den Arm ihrer Freundin. »Was für eine dumme Frage. Natürlich bist du nervös. Ich wärs auch.«

»Oh, mir geht’s gut, aber ...« Sie zögerte. »Was, wenn er sich als Ungeheuer rausstellt, Daphne?«

»Ach, wie kommst du denn darauf? Kann ich seinen Brief noch mal sehen?«

Lydia gab ihn Daphne wortlos hinüber. Sie war in Gedanken woanders. Sie starrte die schweren Zederntüren mit den eingelegten Glasscheiben an und versuchte sich darauf zu konzentrieren, was sie vorhatte. War sie denn verrückt geworden?

In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie etwas Unbesonnenes getan. Von früh auf hatte ihr Vater ihr Pflicht- und Verantwortungsgefühl eingeimpft. Jedes Vorhaben musste genauestens geplant, von allen Seiten abgeklopft und mit der größten Umsicht eingeschätzt werden. Auf diese Art und Weise kam fast immer das heraus, was man sich vorgestellt hatte. Und das Leben hielt keine unangenehmen Überraschungen für einen bereit. Enttäuschungen waren das Ergebnis nachlässigen Denkens und einer unvorsichtigen Haltung. Und Glück? Nach dem Dafürhalten ihres Vaters gab es so einen Zustand überhaupt nicht. Die Prüfungen des Lebens mussten mit Frömmigkeit und seelischer Kraft ertragen werden. Und die Belohnung war die Verheißung ewigen Lebens.

Lydia wehrte sich gegen die Vorstellung, dass Reverend Perseus Cuthbert gerade auf sie herniedersah – wenn gewiss wäre, dass er es tun könnte. Lebte er noch, würde er ihr höchstwahrscheinlich eine Predigt über die Schwächen des Fleisches und die Gefahren unüberlegter Abenteuer halten. Dann rief sie sich aber zur Vernunft: Er lebte doch nicht mehr. Er war tot – und sie war frei.

»Mir kommt er nicht wie ein Ungeheuer vor«, sagte Daphne und unterbrach ihre Gedanken. Sie faltete den Brief zusammen. »Er scheint doch ein sehr netter Gentleman zu sein.«

»Was?« Um ein Haar hätte Lydia ihrer Freundin das Wort ins Gesicht geschrien, denn einen Moment lang war sie so verwirrt, dass sie geglaubt hatte, Daphne spräche über ihren Vater. Doch die sah sie nur komisch an.

»Oh, Frank. Ja natürlich. Gut. Gehen wir rein?«

»Besser wärs. Je länger wir hier sitzen, desto mehr Sorgen machst du dir, das führt doch zu nichts.«

»Sehe ich gut aus?« Lydia klappte ihr Max-Factor-Puder auf und prüfte ihr Aussehen.

»Du siehst sehr schön aus«, log Daphne. Dabei hatte ihre Freundin viel zu viel Puder aufgetragen. Sie sah aus, als habe man sie mit einer Tüte Mehl überstäubt. »Und Rosa steht dir wirklich gut.«

Lydia steckte die Puderdose weg und schloss die Handtasche. »Danke, Daphne. Was würde ich nur ohne dich tun?«

Daphne setzte ein entschlossenes Lächeln auf. Sie stiegen aus dem Auto und gingen zielstrebig auf den Hoteleingang zu.

Ein Messingpfeil wies ihnen den Weg über weich gepolsterte Stufen aus der Hotelhalle zum Ort des Rendezvous. Sie gingen hinab und standen vor den Türen zur Lounge. Lydia nahm Daphne beim Arm.

»Warte mal«, flüsterte sie. »Vielleicht kann ich ihn schon von hier aus erkennen.«

Sie öffnete die Buntglastüren einen Spalt weit und spähte hinein, um den Saal nach dem Mann mit der Kamera abzusuchen.

An einem Tisch saß ein Paar bei Drinks – eine Frau mit einer kunstvollen Bienenkorbfrisur und ein Mann, der vielleicht halb so alt wie sie war –, an einem anderen Tisch eine junge Familie bei einem verspäteten Mittagessen. An der Bar starrte ein Jugendlicher unbewegt hoch in ein Fußballspiel auf einem über der Bar hängenden Fernsehgerät.

Wo war er bloß? Vielleicht war er noch nicht da? Sie wollte gerade hineingehen, da fiel ihr Auge auf eine einsame Gestalt am Fenster, die erwartungsvoll herausspähte.

Ihr sank das Herz.

Die Kamera und das Glas mit Fanta vor ihm bestärkten sie in ihren schlimmsten Befürchtungen. Er war klein und völlig kahl, und aus einem Hemd mit einer extravaganten, maulbeerroten Krawatte schälte sich ein Schildkrötenhals heraus. Hätte sie jetzt noch Zweifel gehabt, dann hätten sein dunkelblauer Blazer mit den überdimensionalen Schulterpolstern und den vielen Messingknöpfen sowie seine graue Hose – die er so genau in seinem Brief beschrieben hatte – seine Identität geklärt. Mr McPrunty stand ihr unsäglich lebendig vor Augen.

Einundsechzig? Er sah eher wie einundachtzig aus. In einem kurzen, herzzerreißenden Moment nahm sie die ganze Szene in sich auf. Sie wollte fliehen.

Daphne, die ihre Enttäuschung spürte, zupfte sie am Arm.

»Was ist denn los, Lydia? Siehst du ihn?«

Lydia konnte nicht sprechen, sie deutete nur auf die Gestalt am Fenster.

»Ist er das?«, fragte Daphne. »Bist du sicher?«

»Ja, ich bin mir ganz sicher«, flüsterte Lydia verzweifelt. »Natürlich bin ich mir sicher. Er hat mir die Kamera beschrieben und die liegt dort, außerdem trägt er genau die Sachen, die er in seinem Brief aufgezählt hat.« Sie schlug die Hand vor den Mund. »Oh, mein Gott, ich kann nicht zu ihm gehen, Daphne! Das ist ein alter Rentner. Er könnte mein Großvater sein.«

»Ach, Lydia, komm mal mit mir zur Toilette. Dann können wir darüber reden. Du kannst ihn doch nicht einfach da sitzen lassen. Das wäre nicht recht.«

Sie zupfte Lydia am Arm. Die Toilette war nur ein paar Meter die Hotel halle herunter. Daphne lehnte sich von innen gegen die Tür.

»Sei doch vernünftig, du musst raus und ihn kennenlernen. Das gehört sich so. Es wäre sehr unhöflich, ihn nach all dem fallen zu lassen.«

Sie standen in der Toilette aus falschem Marmor unter Neonlicht. Lydia konnte sich nicht entscheiden. Sie ging zum Spiegel, schlug die Hände vor das Gesicht und sah dann hoch in den Rauchglasspiegel.

»Na klar, und von ihm ist es nicht unhöflich, mich anzulügen, dass er einundsechzig ist, wenn er aussieht wie Methusalem. Mein Gott«, fragte sie den Spiegel, »wie bin ich denn hier reingeraten?«

Daphne versuchte, sie zu trösten. »Sieh doch mal, Lydia, es ist doch nur ein erstes Treffen. So schlimm kann das doch nicht sein.« Sie sprach zum Spiegelbild ihrer Freundin. »Aussehen«, sagte sie, »ist doch nicht alles.« Lydia warf Daphne einen wütenden Blick im Spiegel zu und da verstand Daphne, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

»Um Himmels willen, Daphne! Würdest du dich mit dem sehen lassen?« Sie drehte sich um und sah Daphne direkt an. »Und sei bloß ehrlich.«

»Tja ...«

»Komm, sei ehrlich ...«

»Na ja, ich würde ihm schon eine Chance geben und mit ihm reden ...«

»Aber würdest du ihn auch mit zu Heathers Hochzeit nehmen? Du erinnerst dich, das ist der ganze Sinn der Übung.«

»Na ja, um ehrlich zu sein ...« Sie zögerte. »Du willst die Wahrheit und nichts als die Wahrheit?«

»So wahr mir Gott helfe.«

»Ich würde mich nicht tot mit ihm erwischen lassen.«

Sie brachen in hysterisches Gelächter aus. Als sie sich erholt hatten, machte Daphne einen Vorschlag.

»Komm, wir verschwinden«, sagte sie. »Wir trinken einen Tee im Copper Kettle.«

»Super Idee.«

Sie wischten sich die Lachtränen ab und überprüften ihr Make-up im Spiegel. Daphne hielt Lydia die innere Tür auf.

»Nach dir, meine Liebe.«

»Danke dir, meine Vasallin.«

Lydia öffnete die äußere Tür – und blieb wie angewurzelt stehen. Dort, unmittelbar vor der Toilette, stand ein kahler kleiner Mann mit einer gewaltigen Kamera über dem Zweireiher, die anklagend auf sie gerichtet war, auf dem karierten Axminster-Teppich. Frank Xavier McPrunty.

Lydia erschrak. Daphne stolperte in sie hinein und hätte Lydia fast in ihn hineingeschubst.

Er erhob einen knotigen Zeigefinger.

»Sie sind nicht zufällig ...«

»Himmel, nein!«, platzte Lydia heraus und wich zurück in die Damentoilette, Daphne an der Hand hinter sich herziehend. Die Tür schloss sich hinter ihnen.

Sie schmissen sich gegen die Waschbecken. Daphne hatte einen Lachanfall, Lydia stand unter Schock.

»Sch...«

Sie schüttelte Daphne an der Schulter. Sie hörten, wie sich die äußere Tür öffnete.

»Oh, mein Gott, er kommt! Schnell!«

Sie rannten zu den Kabinen. Aber es war die Frau mit der Bienenkorb-Frisur – die eine Hälfte des trinkenden Paares, die sie vorher gesehen hatte –, inzwischen mit glänzenden Augen und einem unsteten Blick. Lydia bemerkte, dass sich mehrere Strähnen aus dem Bienenkorb gelöst hatten.

»Iss eine von Ihnen Lyd-irgendwas-Day-vine, sind Sie das?«, fragte sie.

Lydia starrte sie an. »Warum, wer will das wissen?«

»Da draußen iss ’n Mann, der fragt nach Ihnen. Sagt, er heißt Xaver Mick-Brontee.« Sie deutete mit dem Daumen in Richtung Lobby und stolperte wie ein neugeborenes Kalb in die Kabine, wobei sie sich am Türpfosten festhalten musste.

Lydia wollte etwas sagen, aber Daphne hielt den Zeigefinger vor die Lippen und blickte Richtung Kabine.

»Warte«, sagte sie tonlos und tat, als müsse sie sich die Hände waschen. Ihre Freundin folgte ihrem Beispiel.

Nach einem tiefen Seufzer und dem Rauschen der Klospülung kam Miss Bienenkorb heraus. Sie wackelte zur Tür und schien gar nicht wahrzunehmen, dass sie nicht alleine war.

»Gott, hast du das gesehen? Sie hat sich noch nicht mal die Hände gewaschen.«

»Hör mal, Lydia, es gibt nur einen Weg hier raus. Daphne ging zum Schiebefenster und begann es hochzudrücken.

»Was, bist du verrückt geworden? Das kommt überhaupt nicht infrage!«

»Tja entweder dies, das wäre Möglichkeit eins. Oder wir warten hier noch ewig ab und hoffen, dass er irgendwann geht. Das ist Möglichkeit zwei.« Lydia wollte protestieren, aber Daphne ignorierte sie. »Oder die dritte Möglichkeit.« Ihrer Stimme war das Gewicht des Fensterflügels anzuhören, aber ein paar Augenblicke später hatte sie ihn hochgeschoben. Stolz drehte sie sich um. »Gut, also los.«

»Und die dritte Möglichkeit?«, fragte Lydia erwartungsvoll.

»Ach so, die dritte ist die: Du gehst raus und stellst dich Mr McPrunty vor. Und dann wird er dir sehr ausführlich alles über sein Leben und seine gewaltige Kamera erklären.« Sie sah ihre Freundin herausfordernd an. Lydia machte einen Satz zum Fenster, um so viel Würde bemüht, wie unter den Umständen aufzubringen war, und kletterte hinaus.