20
»Ja, der Junge ist ein guter Arbeiter.«
Direktor Keaneys angsteinflößende Stimme war unheilvoll.
Wieder stand Sechsundachtzig auf dem Pfauenmuster-Teppich und starrte auf seine Füße hinunter. Vier Augenpaare beobachteten ihn: Keaney, Mutter Vincent und zwei Fremde, ein Mann und eine Frau, die er noch nie gesehen hatte.
»Kopf hoch, Junge, wenn man mit dir spricht«, bellte Keaney ihn an.
Langsam hob der Junge den Kopf und fixierte das schwere Holzkreuz, das auf dem Brusteinsatz von Mutter Vincents Ordenstracht lag. Sie saß ein paar Meter von ihm entfernt und sah hinter dem sonnengebleichten Schreibtisch Achtung gebietend aus.
Keaney saß wie immer in seinem Lehnstuhl am Kamin. Sechsundachtzig hätte vieles darum gegeben, seine Hände und Knie am Feuer aufzuwärmen. Ein Wunsch, den er unterdrückte. Der Mann im Sessel konnte so gefährlich sein wie die glühenden Kohlen, die er bewachte.
Die Fremden hatten auf dem durchgesessenen Sofa mit den abgeschabten Armlehnen Platz genommen. Er traute sich nicht, in ihre Richtung zu blicken, und fragte sich, warum er zu dieser Stunde in diesen Raum gerufen worden war. Soweit er wusste, hatte er sich seit der Sache mit der Rübe nichts mehr zuschulden kommen lassen, und das war schon eine ganze Weile her.
Mutter Vincent ergriff das Wort.
»Dies sind Amos und Constance Fairley«, erklärte sie ihm brüsk. »Mrs Fairley ist eine Schwester unseres Direktors Mr Keaney.«
Sechsundachtzig sah in die unbewegten Gesichter des Paares. Der Mann sah Keaney zum Verwechseln ähnlich. Er war blass und hager, hatte dasselbe spitze Gesicht und tote Augen. Seine hässlichen, verdreckten Hände, mit denen er seine Knie umklammerte, standen in keinem Verhältnis zu seinem restlichen Körper.
Constance Fairley war das weibliche Pendant der beiden Männer, mit ähnlichen Augen und einem griesgrämigen, starren Mund. Nur ihr Haar war anders: blond, mit grauen Strähnen und aus ihrem skelettartigen Gesicht in einen festen Knoten zurückgekämmt. Sie saß aufrecht und hielt ihre harten Hände im Schoß gefaltet.
»Farmer Doyle sagt, du bist eine gute Arbeitskraft auf dem Kartoffelacker, Sechsundachtzig. Stimmt das?« Wenn Mutter Vincent sprach, bewegte sich der steife weiße Wimpel.
»Ja, Schwester. Ich glaube schon.« Der Junge gab sein Bestes, um deutlich zu sprechen. Vielleicht sollte er für seine harte Arbeit belohnt werden.
»Meine Schwester und mein Schwager möchten dich ein paar Monate beschäftigen«, sagte Keaney. »Sie haben einen großen Hof und viele Kartoffeln, die geerntet werden müssen.«
Diese Nachricht war so bedrohlich wie eine erhobene Axt. Dem Jungen graute davor, er sah seine Zukunft zerschellen.
»Sie haben einen Sohn, Arnold, ungefähr in deinem Alter«, sagte die Nonne. Der Direktor grinste Amos Fairley an, als sie ihn erwähnte. Irgendetwas Böses ging zwischen ihnen vor. Sechsundachtzig kannte diesen Blick. Er wollte schreien.
»Ein Freund für dich, Sechsundachtzig«, begeisterte sich die Nonne.
Dann sahen sie ihn alle an. Er fixierte weiterhin das Kruzifix der Nonne oder sah aus dem Fenster an ihr vorbei. Draußen pfiff der Wind durch die Lorbeerbäume auf dem Friedhof und drinnen im Kamin tanzten die Flammen. Er sah ihre wilden Reflektionen im Fensterglas und hatte entsetzliche Angst.
»Du verlässt uns noch heute.« Mutter Vincent stand auf und die anderen folgten ihrem Beispiel. »Du brauchst nichts mitzunehmen. Diese guten Leute stellen dir ein Bett und Essen. Dein Rosenkranz ist alles, was du brauchst.« Die Nonne rauschte hinter dem Schreibtisch hervor auf ihn zu. Jetzt war er auf Augenhöhe mit der Kordel um ihre Taille und starrte auf die geflochtene Schnur. »Ich kann nur hoffen, dass er in deiner Tasche ist.«
»Ja, Schwester.« Aus der tiefen Hosentasche zog der Junge einen blauen Plastikrosenkranz hervor und hielt ihn ihr mit zitternder Hand hin.
»Gut. Dann kannst du jetzt deine Kappe aufsetzen.«
Der Junge gehorchte und Amos und Constance Fairley kamen auf ihn zu. Ihm war angst und bange, er wollte nur raus aus dem Zimmer.
»Und denk dran, Junge«, sagte Keaney, den Zeigefinger drohend erhoben, »wenn du dich schlecht benimmst, wirst du so bestraft, wie mein Schwager und meine Schwester es für richtig halten. Du bist in ihrer Obhut, also lebst du nach ihren Regeln.«
»Ja, Sir.«
Hinter dem Waisenhaus stand ein Kaltblüter vor einem orange angemalten Karren. Amos Fairley schubste den Jungen grob darauf zu. Sechsundachtzig kletterte auf die Ladefläche, auf der modriges Stroh ausgebreitet war, das nach Dung und Verwesung roch. Er tastete nach einer trockenen Stelle, auf die er sich setzen konnte.
Fairley setzte sich vorne auf die Bank und nahm die Zügel in die Hand, seine Frau kletterte neben ihn. Als sie saßen, setzte sich das Pferd in einem Halbkreis in Bewegung, als gehorchte es einem geheimen Befehl, und trabte durch das hohe Tor hinaus.
Sechsundachtzig saß mit dem Rücken zu seinen vorübergehenden Vormündern und hielt sich mit seinen kleinen Händen an der dreckverkrusteten Ladeklappe fest, als er auf dem Wagen hin- und hergeschleudert wurde. Die sinkende Sonne hatte rote und ockerfarbene Spritzer an den Himmel geworfen und überzog die vielen Fenster des Waisenhauses mit goldenem Licht. Er blickte auf das riesengroße Granitgebäude, bis es außer Sicht war. Für eine Weile war er dem Gefängnis entkommen, aber er verspürte keine Erleichterung bei dieser Aussicht. Wer mit Direktor Keaney verwandt war, zog Sturmwolken an und brachte Hunde zum Knurren.
Doch jetzt hatte er die Freiheit der Reise. Wie im klappernden Bus bot ihm der Wagen ein kleines Zwischenspiel der Freude. Er hoffte, dass sie einen weiten Weg hatten, und wartete darauf, dass die Stadt mit ihren düsteren Mauern von den hügeligen Feldern des Landes abgelöst werden würde und er die weidenden Tiere sehen könnte, die er so gerne mochte. Er wusste nicht, was ihn am Ende der Reise erwartete, aber bis dahin konnte er noch etwas träumen.