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Jamie McCloone richtete sich benommen in seinem Bett auf; ihm war heiß und er konnte sich wegen seiner Kreuzschmerzen kaum bewegen.

Früh am Morgen gab er nicht gerade einen eleganten Anblick ab, vor allem nicht nach einer berauschten Nacht, die er in verbitterter Schlaflosigkeit verbracht hatte; eine Nacht, in der er sich hin- und hergeworfen, geweint, Jesus und seine Mutter, überhaupt alle Frauen – vor allem aber Nonnen – verflucht und allen Kindern unter zehneinhalb Monaten die Pest an den Hals gewünscht hatte. So alt war er gewesen, als seine Mutter ihn eines kalten Novembermorgens im Jahr 1934 in der Einkaufstüte einer Curleys-Filiale auf den Steinstufen des Waisenhauses der heiligen Agnes bei den Barmherzigen Schwestern in der Stadt Derry abgesetzt hatte.

Von dem Tag an fürchtete er sich davor, in der Dunkelheit eines riesigen Beutels aufzuwachen und von einer Frauenhand auf den nackten Po geschlagen zu werden. Er hatte Angst vor dem Klirren von Schlüsseln und Rosenkränzen und davor, in Waschräumen eingeschlossen zu werden, dünnen Haferschleim aus Schüsseln und Lebertran von Löffeln eingeflößt zu bekommen. All diese Ereignisse hatten sich über die Jahre in die Windungen seines Gehirns eingeschrieben. Die Verletzungen, die ihm zugefügt worden waren, konnte er nicht mehr vergessen. Menschen konnte er nur noch mit Misstrauen und Veränderungen nur noch mit Unruhe begegnen. Er war gezwungen, ein unbedeutendes Leben zu leben, voll unerfüllter Träume und verlorener Hoffnungen, ohne Freude, ohne Bedeutung, ohne Liebe.

Jamie gähnte, strich sich über die stoppeligen Wangen und rieb sich am rechten Ohr. Es ragte etwas höher hinaus als das andere, wodurch man den Eindruck hatte, er würde ständig von einer überirdischen Hand himmelwärts gezogen. Wegen dieser kleinen Fehlbildung war er schon in der Schule schikaniert und auf der Straße komisch angesehen worden. Andere Jungen träumten von Spielzeugeisenbahnen und Cowboygewehren, Jamie hätte einfach gerne zwei normale Ohren gehabt.

Von der Bettkante starrte er auf seine ungeschlachten Füße hinunter und fragte sich, wozu sie ihm eigentlich einundvierzig Jahre lang gedient hatten. Doch schon im nächsten Moment brauchte er sie, um die Erinnerung an die Schlampe, die seine Mutter gewesen sein musste, brutal in Grund und Boden zu stampfen, obwohl Jamie eigentlich kein gewalttätiger Mann war. An diesem Morgen saß er länger als sonst da und stierte einfach nur vor sich hin – vielleicht war sein Kater schlimmer als sonst. Er fand Gefallen daran, sich seine Rache auszumalen, während draußen die Vögel zwitscherten, der Hahn krähte, der Hund bellte, die Kühe muhten, weil sie hungrig waren, und der Tagesanbruch einen rötlichen Sonnenstrahl durchs Fenster warf.

Als die Uhr im Flur sieben schlug, schreckte er aus seinen Träumereien hoch, stand vorsichtig auf und zog sich an.

Erst das rotkarierte Hemd. Dann die Armeehose, die er über seinen dicken Bauch zog und überflüssigerweise mit braunen Hosenträgern sicherte, die er sich nun überstreifte und mit einem zufriedenen Grunzen zurückfedern ließ. Schließlich seine vom Matsch des letzten Winters verkrusteten Gummistiefel.

In der Küche ließ er Wasser in den eingedellten Kessel laufen, hielt ein Streichholz an den Gasring, zog einen angeschlagenen Becher unter einem Stapel Geschirr im fettverschmierten Spülbecken hervor und machte sich Tee.

Er bewegte sich mit übertriebener Vorsicht in den engen Räumen, so als balanciere er einen zentnerschweren Sack Kohlen auf dem Kopf. Als ragten überall aus seinem Körper empfindliche Antennen, die auf jede Berührung reagierten, oder als sei er aus zerbrechlichem Material und laufe auf einem Hochseil aus Glasscherben.

Jamie McCloone hatte das Kalksteinhäuschen in Duntybutt von Alice und Mick geerbt, seinen Adoptiveltern. In seiner hundertfünfjährigen Geschichte hatte es sich nicht sehr verändert. Keine Frau hatte es je lange genug unter dem kaputten Dach ausgehalten, um das rustikale Haus sauber zu machen und in Schuss zu halten und kein einigermaßen empfindlicher Mann hatte es je betreten, ohne den Atem anzuhalten. Vater Brannigan, der Gemeindepastor, blieb meistens auf der Schwelle stehen, wenn er seine monatlichen Bezüge abholen kam, und gab vor, sich die Nase zu putzen, um Jamie nicht zu verletzen. »Nur die Bronchitis, Jamie, nehme ich mit, wohin ich gehe. Das ist das kleine Kreuz, das ich zu tragen habe.«

Jamie schenkte sich zitternd Tee ein und schleppte seinen Becher und seinen schmerzenden Körper zu seinem Lehnstuhl am Kamin. Er schluckte ein Valium. Die Pillen standen zwischen ihm und allzu viel Wirklichkeit. Wenn er sie nahm, grübelte er nicht so sehr über seine Vergangenheit. Seit sein Adoptivvater gestorben war, hatte er immer wieder durch den Morast seiner Kindheit waten müssen. Die Pillen hatten ihm dabei geholfen, den Kopf über Wasser zu halten.

Gedämpft drangen die fordernden Geräusche von der Farm an sein Ohr, alle Tiere wollten gefüttert werden, alle erinnerten ihn an den Tag, der noch vor ihm lag.

»Ich bin ja gleich bei euch!«, rief er unwirsch. »Ihr bekommt euer Fressen noch schnell genug!«

Er beugte sich vor, um das heruntergebrannte Feuer wieder zu entfachen. Es antwortete mit einem langgezogenen Zischen – Jamie fürchtete schon, er hätte den Teufel persönlich geweckt. Ohne jede Vorwarnung spuckte es einen Kohlesplitter aus, der über den Boden schlitterte, am Tischbein abprallte und unter Jamies Lehnsessel verschwand, wo er von einem der Abfallhäufchen gestoppt wurde, aus denen sein Haus bestand. Er stellte den Schürhaken wieder an den Kamin zurück und starrte auf seinen Schoß.

Sein linkes Hosenbein war gerissen. Vor zwei Wochen war er mit dem Bein an einem Stacheldrahtzaun hängen geblieben, als er versucht hatte, eine Ziege auf einem hügeligen Feld anzupflocken. Seitdem hatte Jamie jeden Morgen dagesessen und auf den zerrissenen Stoff gestarrt, seinen Finger ins Loch gebohrt, hin- und hergewackelt und überlegt, dass er es vielleicht mit ein, zwei Stichen nähen sollte, bevor es größer wurde. Dann sah er schuldbewusst zu dem Glasschrank hinüber, wo ein Päckchen Nadeln in Form eines knallig bunten Blumenbouquets stand. Er erinnerte sich daran, wie er es einer fahrenden Frau abgekauft hatte, und wie sie seinen Arm umklammert hatte, nachdem sie seinen Penny in die Tasche gesteckt und gesagt hatte: »Bald wird Gott dich belohnen, Sohn. Jetzt ist noch alles dunkel, aber bald wird es hell, du wirst es schon sehn.« Ihre Zigeuneraugen hatten in der Mittagssonne gestrahlt und ein goldener Zahn war in ihrer Mundhöhle aufgeblitzt. Jamie brütete noch eine Minute über dem Bild der alten Frau und kam dann zu dem Schluss, dass die Nadeln inzwischen bestimmt verrostet waren. Und wenn nicht, wo sollte er dann einen Faden hernehmen? Außerdem sahen ihn den ganzen Tag lang sowieso nur die beiden Kühe und das Schwein.

Nachdem er sich auf diese Art beruhigt hatte, seufzte er und verstaute die Sache mit der zerrissenen Hose, den Nadeln und der fahrenden Frau hinten in seinem Kopf in der Kiste mit dem Etikett »kann warten«. Eine Kiste, an der der frauenlose Jamie vor lauter unerledigten Aufgaben und nicht eingehaltenen Vorsätzen immer schwerer trug, denn er war ein Mann, der tausend Nichtigkeiten aufgeschoben hatte.

Er hätte auch die Farmarbeit aufgeschoben, wäre Onkel Mick noch da gewesen, um die Zäune zu reparieren, den Mais zu ernten, die Tröge zu füllen und der Kuh eins mit dem Stock überzuziehen, wenn es nötig war. Aber jetzt musste er diese Arbeiten erledigen. Ein endloser, mühseliger Tag lag vor ihm. Er hatte sich angewöhnt, sich morgens erst mal etwas auszuruhen, denn er fand sich danach produktiver. Doch je länger er herumsaß, desto drängender wurden die Laute der Tiere vom Hof.

Nach zehn Minuten stand er abrupt auf, kippte den letzten Schluck Tee hinunter, spülte den Becher eilig unter der Leitung, stellte ihn wieder ins Becken und schlurfte zurück ins Schlafzimmer, um sich fertig zu machen.

Unter Waschen verstand Jamie, seine Haare zu kämmen – seine ach so missratenen Haare – und sein Gesicht mit der bloßen Hand abzuspülen, statt mit einem feuchten Waschlappen. Er sah sich bestürzt im verbeulten Spiegel auf der Kommode an, kämmte sich die Haare – um die Glatze zu verdecken – von einer Seite auf die andere, wo sie ihm wie der Schwanz einer Eselin auf die linke Schulter fielen. Eine tiefe Narbe lief vom rechten Auge zum Kinn, als hätte sich dort der Kummer seines Lebens eingegraben. Mit seiner langen Nase und dem gries grämigen Mund sah er vielleicht nicht gut aus, aber seine unschuldigen grünen Augen ließen einen die Unvollkommenheiten seines Gesichtes vergessen.

Er seufzte über den Mann, der ihm da entgegenblickte, ein Prophet der klassischen Antike mit einem Kopfhautproblem. Jeden Morgen spürte er einen Stich des Bedauerns über den Verlust seiner Haare, gefolgt von einer tadelnden Stimme – »Himmel, sieh dir mal an, in welchem Zustand du bist!«.

So plötzlich ernüchtert, dazu durch und durch deprimiert, setzte er sich die Kappe auf. Nachdem er diese Handgriffe hinter sich gebracht hatte, war er bereit, sich dem Tag zu stellen.

Da an Arbeitstagen keine weitere persönliche Hygiene vorgesehen war, brauchte er nur knapp fünf Minuten vom Aufstehen bis in die Scheune. Doch am Sonntagmorgen legte er sich mit Rasierer, Kamm und einer Schüssel Seifenwasser besonders ins Zeug, bevor er in der Messe vor seinen Schöpfer trat.

Wie sollte er an diesem schönen Sommermorgen wissen, dass er, Jamie McCloone, sich bald solche Mühe mit seinem Äußeren geben würde, dass sich selbst sein Schöpfer mit dem zweiten Platz zufriedengeben musste.