21

Jamie erwachte aus tiefem Schlaf in dem saphirblau und mandelfarben gehaltenen Schlafzimmer im Ocean Spray. Einen Moment lang dachte er, er würde noch träumen. Kein feuchter Fleck an der Decke, keine Geräusche von Tieren, die gefüttert werden wollten. Draußen vor dem Fenster konnte er die träge Brandung und die scharfen Schreie der Möwen hören.

Er stützte sich auf die Ellenbogen und plötzlich fiel ihm wieder ein, wo er war. Dr. Brewster hatte recht gehabt. Das Ocean Spray war wirklich ein wunderbares Haus. Jamie wusste kaum, was er sich zuerst ansehen sollte. Seine Augen schweiften im Zimmer umher: von der Frisierkommode aus Ahorn und dem Spiegel mit dem Muschelrahmen über den Einbauschrank und das Zypergras in der Ecke zu den mit Fransen besetzten Stehlampen, den Überwürfen aus Musselin, dem luxuriösen Teppich und dem krönenden Abschluss des Ganzen, den er jetzt ehrfurchtsvoll betrachtete – einem Kronleuchter aus Kristallglas.

Er strich über die weißen Laken und die Tagesdecke aus Satin. Er hatte noch nie in einem solchen Bett geschlafen und fragte sich, wie man die Laken so weiß waschen konnte. Sein Hemd, das jetzt auf dem Lehnstuhl am Bett hing, war längst nicht so weiß, eher rauchgelb im Vergleich.

Die Porzellanuhr auf dem Schrank zeigte acht Uhr fünfzehn an, und auch so eine Uhr hatte Jamie noch nie gesehen. Er untersuchte sie genau. Auf dem Rücken stand ein Etikett: Aynsley. Feines Porzellan. Handgemacht in England. Er stellte sie überaus vorsichtig wieder zurück, denn er hatte Angst, sie zu zerbrechen, und in dem Fall müsste er sie sicherlich bezahlen. Und da er den Preis eines Mutterschafes für das Privileg, im Ocean Spray absteigen zu dürfen, zahlte, konnte er sich keine unnötigen Ausgaben mehr leisten.

Er entschloss sich, aufzustehen und nach dem Frühstück zu sehen. Der sonnendurchflutete Raum sagte ihm, dass der Tag zu schön war, als dass ein Mann im Bett herumliegen sollte, selbst wenn er in den Ferien war. Das wäre doch eine Sünde.

Jamie zog sich sorgfältig vor dem Drehspiegel von Gladys Millman an. Wie üblich kümmerte er sich zuletzt um die Haare, die er mit geübter Hand über den Scheitel strich und mit einer kräftigen Portion Pomade an Ort und Stelle hielt. Als er die Dose wieder in die Tüte legte, fiel ihm die Flasche Blue Adonis Aftershave auf. Vielleicht ein winziger Tropfen davon, dachte Jamie. An so einem Tag, warum denn nicht.

Er drehte den Verschluss auf. Es roch etwas stark, aber Jamie, der kein Kenner von Toilettenartikeln für Männer war, wusste nicht, dass ein Duft, den man schlecht verschlossen dem direkten Sonnenlicht aussetzt, innerhalb weniger Wochen umkippt. Jamie goss sich ordentlich was in die Handfläche und klatschte sich das Aftershave ins Gesicht.

Die meisten regulären Gäste hatten sich um halb neun bereits im geräumigen Esszimmer mit der hohen Decke zum Frühstück eingefunden. Alle außer Mr McCloone, bemerkte Gladys. Sie ließ den Jacquardärmel wieder über die zierliche Armbanduhr auf ihrem rechten Handgelenk fallen – aus irgendeinem Grund funktionierten Uhren auf dem linken Handgelenk nicht – und blickte prüfend auf ihre Gäste.

Da war Mr Henderson, der Anwalt, und seine Gattin Judith (äußerst liebenswürdige Menschen). Die Bradley-Carrs (beide Ärzte) und ihre Kinder, Minnie und Daisy (sehr achtbare Leute mit solch höflichen kleinen Mädchen). Mr Cosgrove Murphy (ein pensionierter Richter) und seine Frau Hyacinth (oh, ein großartiges Paar!). Elizabeth und Lydia. (Warum verweigerte Elizabeth die extra für sie zubereiteten Zwiebelund Salbei-würstchen? Was für eine teure Verschwendung! Sie würde sie nicht noch einmal servieren.)

Doch außer Mr McCloone fehlte noch jemand. Sie ging zum Empfangstresen und sah im Buch nach. Ja, Doris Crink und ihre Schwester Mildred – auch aus Tailorstown, genau wie der Farmer. Sie wollte den lieben Humphrey bei Gelegenheit bitten, dass er ihr seine respektableren Patienten schicken sollte; die Crinks mit ihren Polyesterröcken und Plastikhandtaschen und Mr McCloone in diesem Anzug senkten den Umgangston doch beträchtlich. Sie waren ganz einfach schlecht fürs Geschäft. Gewisse Mindestanforderungen mussten eingehalten werden.

Zwei Tische hatte sie für die unerwünschten Gäste an den entfernteren Ecken des Zimmers vorgemerkt. Mr McCloones Tisch stand unmittelbar neben den ständig auf- und zuschwingenden Küchentüren. Die beiden Miss Crinks wurden in die Wölbung des Erkerfensters gesetzt, vor den Blicken der anderen Gäste verborgen – von dem, was Gladys als ihren »Jardinière« aus hohem Pampasgras bezeichnete.

Gladys hatte Sinéad angewiesen, die cremigen Butterröllchen und die hausgemachten Marmeladen an beiden Tischen durch billigere, gekaufte Alternativen zu ersetzen, und sie war zufrieden, als sie beide Tische überprüfte, dass ihren Anweisungen Folge geleistet worden war.

Bei ihrer kleinen Inspektion bemerkte Gladys plötzlich, wie sich ein Schweigen auf den Raum senkte und das Klirren der Löffel, das Klappern von Porzellan und das Gemurmel verstummten. Einige der Damen hielten sich diskret eine Serviette vor die Nase. Sie drehte sich langsam um und sah etwas erschrocken, dass Mr McCloone das Zimmer betreten hatte und von einer Wolke ranzigen Geruchs umgeben zu sein schien. Und warum trug er diese grässlichen Schuhe mit den hochgebogenen Spitzen am helllichten Tage?

Ohne Jamies Wissen verbreitete er mit jedem Schritt den umgeschlagenen Geruch des Blue Adonis Aftershave im Zimmer. Gladys hielt sich einen Finger an die Nase.

»Mr McCloone! Guten Morgen!« Sie setzte ihr falsches Lächeln auf, hielt den Atem an und lenkte ihn zum Tisch an der Küchentür. »Haben Sie gut geschlafen?«

»So gut wie noch nie, Mrs Milkman, wie noch nie.«

»Warum trägt dieser Mann so komische Schuhe, Mummy?« Minnie Bradley-Carr hatte ihren rüschenbesetzten Popo aus dem Stuhl geschwungen und stand nun mit dem Finger auf Jamie zeigend da.

»Lass das, Minnie! Komm sofort wieder her«, sagte ihre Mutter, die Ärztin, warnend. »Du kommst jetzt auf der Stelle her!«

Jamie zog seinen Stuhl hervor und setzte sich.

»Ich nehme an, das volle Ulster-Frühstück, Mr McCloone?« Gladys hatte ihm die Speisekarte ausgehändigt und stand flach atmend vor ihm, um ihn von den anderen Gästen abzuschirmen.

»Ach, sie meinen den großen Teller mit Eiern und Speck und Würstchen und so? Wissen Sie, ich mag das sehr gerne und ich bin sicher, dass es hier besonders gut ist, Mrs Milkman. Aber ich bin auf Diät, denn der Arzt hat mir empfohlen, etwas abzunehmen und ...«

»In Ordnung, Mr McCloone.« Gladys brachte die Worte etwas zu laut heraus und bemerkte, wie sich wieder eine Stille im Raum ausbreitete, als würde im Theater der Vorhang aufgezogen. »Frühstücksflocken und Toast?«, fragte sie etwas leiser.

»Einfach nur Tee und Toast, das wäre großartig.«

Gladys schnipste Sinéad mit den Fingern zu, die gerade mit hochrotem Gesicht und drei Ulster-Pfannen aus der Küche kam. In der Küche herrschten Temperaturen wie in einem Heizungskeller.

»Würden Sie diesen Gentleman bedienen, Sinéad?«

»Ja, Miss Gladys.«

Gladys verließ eilends den Raum. Sie brauchte ein Kopfschmerzmittel und etwas frische Luft. Sinéad servierte den Ärzten und dem Richter die Ulster-Pfannen, dann nahm sie Jamies Bestellung auf. Von der anderen Seite des Raums hinweg beobachteten Elizabeth und Lydia Jamie mit Interesse.

»Gott, sie ist ganz schön heruntergekommen, dass sie jetzt schon solches Lumpengesindel beherbergt.« Mrs Devine hielt eine Scheibe Kartoffelbrot in die Luft und unterzog sie einer genauen Prüfung, bevor sie davon abbiss. »Sie muss ja verzweifelt sein.«

»Sei ruhig, Mutter!«, schimpfte Lydia im Flüsterton. »Der Mann kann dich doch hören.«

»Was macht er denn da mit der Serviette?«

»Hör auf damit, bitte, Mutter!«

Jamie untersuchte die gestärkte Leinenserviette, die in der Form des Matterhorns gefaltet war, und fragte sich, wofür um alles auf der Welt so ein Ding gut sein sollte. Vielleicht ein Taschentuch, dachte er. Aber warum sollte man sich am Frühstückstisch schnäuzen wollen?

Er sah sich um, denn er wollte herausfinden, ob die anderen auch solche großen Taschentücher bekommen hatten. Und zu seiner Überraschung lagen jeweils zwei auf den noch leeren Tischen, die anderen Gäste hatten ihre angezogen. Ein Mann hatte sie in seinen Hosenbund gesteckt, die Frau neben ihm hatte eine auf dem Schoß liegen und ein anderer Mann hatte sie unter den Hemdkragen gestopft.

Ein Lätzchen für Erwachsene, Gott sei mir gnädig! Er folgte dem Beispiel des letzten Mannes und schob sich eine Ecke unter den Kragen.

»GOTT, WIE GEHT ES DIR, JAMIE! HÄTTE ICH MIR JA NIE TRÄUMEN LASSEN, DICH HIER ZU SEHEN!«

Jamie zuckte zusammen, so laut und unerwartet war die Stimme der Frau. Doris Crink stand vor ihm.

»Gott, du bist es, Doris?« Er erhob sich halb aus seinem Stuhl, um galant zu sein.

»BLEIB BLOSS SITZEN, JAMIE.« Doris zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn, die Lacklederhandtasche auf den Knien. Jamie fragte sich, warum sie so schrie, aber er mochte sie auch nicht direkt fragen.

»ICH BLEIB NUR NE WINZIG KLEINE MINUTE. MILDRED WARTET DA DRÜBEN SCHON AUF MICH.«

Jamie drehte sich um und hob die Hand. Mildred sah hinter einem Büschel Pampasgras hervor wie eine Botanikerin aus einem Gewächshaus. Sie lächelte und winkte zurück.

»GOTT, JAMIE ICH MUSSTE WIRKLICH WAS DURCHMACHEN IN DER LETZTEN ZEIT.« Doris spielte mit einer merkwürdigen Medaille, die sie sich ans Revers gesteckt hatte.

»Ich hab davon gehört, Doris. Ein Wunder, dass er dich nich umgebracht hat.«

»WAS HAST DU GESAGT?« Doris beugte sich vor. »WEISST DU, MEINE OHREN SIND NICHT MEHR DAS, WAS SIE MAL WAREN. DER SCHOCK UND DAS ALLES, DAS WAR ZU VIEL FÜR MICH.«

»ICH HAB GESAGT, EIN WUNDER, DASS DU NICH UMGEBRACHT WORDEN BIST!«, brüllte Jamie nun zum Erstaunen der Anwesenden. Die Ärzte Bradley-Carr waren plötzlich fertig mit dem Frühstück und bugsierten Minnie und Daisy aus dem Raum, in dem die Unterhaltung inzwischen so laut war, dass das Porzellan zu klirren begann.

»Mummy, warum schreit der Mann mit den komischen Schuhen so laut?« Minnie starrte Jamie entsetzt an.

»Weisst du, Jamie, er hat mir die Pistole an den Kopf gehalten. SO.« Doris führte es vor, indem sie zwei Finger an Jamies Ohr hielt.

»UND HAT ER DENN ABGEDRÜCKT, DER SCHEISSKERL?«, schrie Jamie, jetzt ganz bei der Sache.

»GOTT SEI DANK NICHT, JAMIE, WENN ER DEN ABZUG GEZOGEN HÄTTE, WÜRDE ICH DOCH JETZT NICHT HIER MIT DIR REDEN.«

»Ja, stimmt, da haste auch wieder recht.«

Doris hatte noch eine ohrenbetäubende Ansage für die frühstückenden Gäste auf Lager.

»ABER WAS ICH DIR SAGEN WOLLTE, JAMIE, DEIN GELD IST SICHER. ROSE MCFADDEN HAT MIR GESAGT, DU HÄTTEST DIR SORGEN GEMACHT, UND DAS IST NUR ALLZU VERSTÄNDLICH, DENN WIR BRAUCHEN ALLE ’N KLEINEN NOTGROSCHEN! ABER ER HAT NICHTS GEKRIEGT, GAR NICHTS! DU HAST IMMER NOCH DEINE DREITAUSENDEINHUNDERTUNDNEUNUNDZWANZIG PFUND MINUS DAS BISSCHEN, WAS DU FÜR DIESEN KLEINEN URLAUB ABGEHOBEN HAST.«

»DA BIN ICH ABER ERLEICHTERT.«

Jamie war rot geworden und rieb sich das rechte Ohr.

»GOTT, DU KANNST ES DIR NICHT VORSTELLEN, JAMIE, ICH WAR AM BODEN ZERSTÖRT. ICH KONNTE GAR NICHTS MEHR HÖREN. DESWEGEN HAT DR. BREWSTER MICH HIERHERGESCHICKT.«

Doris sah Jamie anerkennend an.

»GOTT, JAMIE, DU SIEHST RICHTIG GUT AUS. EIN GROSSARTIGER ANZUG, DEN DU DA ANHAST.«

»OCH, DANKE.«

Eine peinliche Stille folgte.

»UND ICH NEHME AN, DU BIST HIER WEGEN DEINEM RÜCKEN, ODER?«

»GENAU. DR. BREWSTER HAT GENAU DAS RICHTIGE GEMACHT, DORIS. HIER IST ES EINFACH GROSSARTIG. UND SCHÖN RUHIG FÜR DEINE OHREN.«

Dem konnten einige der anderen Gäste jetzt nicht mehr zustimmen.

Die Küchentüren schwangen auf und Jamie wurden Tee und Toast serviert. Doris stand auf. Sie war rot von der Anstrengung des Schreiens und ihr war schwindlig von Jamies übermächtigem Parfüm.

»MACHS GUT, JAMIE. ICH ÜBERLASSE DICH MAL DEINEM TEE.« Sie hielt die Tasche an den Busen.

»SIEHT WIRKLICH NACH EINEM GUTEN TEE AUS, JAMIE!«

»GANZ BESTIMMT, DORIS. WIR SEHEN UNS SPÄTER SICHER NOCH.«

Doris wackelte durch das Esszimmer auf ihre Schwester zu.

»GOTT, JAMIE SIEHT GUT AUS«, verkündete sie in einem hohen Flüsterton, als sie sich setzte. »UND ER HATTE EINEN WUNDERBAREN DUFT! ABER OHNE EINE GUTE FRAU, DIE SICH UM IHN KÜMMERT, IST ER VERLOREN, EIN MANN SEINES ALTERS!«

»Ich weiß«, sagte Mildred und nickte wissend. »Und dazu hat er all das Geld auf deinem Sparkonto.«

Beide Damen sahen Jamie, der gerade dabei war, Tee und Toast hastig hinunterzuschlingen, sehnsüchtig durch das Pampasgras an.

»Er sieht aus, als hätte er nicht einen Penny«, sagte Elizabeth Devine, die das Schauspiel mit großem Interesse verfolgt hatte. »Wenn er doch so viel Geld auf dem Sparbuch hat, sollte man meinen, er könnte sich etwas mehr Mühe mit seinem Äußeren geben.«

Lydia wollte sich nicht mehr durch die schamlosen Kommentare ihrer Mutter in Verlegenheit bringen lassen. Sie stand auf.

»Zeit für unseren Spaziergang, Mutter.«

Als sie den Raum verließen, warf Lydia dem merkwürdigen Mann einen Blick zu. Zu ihrer Überraschung sah er sie an. Sie lächelte ihn an, aber er wandte schüchtern den Blick zur Seite. So eine verlorene Seele, dachte Lydia, als sie ihre Mutter in ihr sicheres Zimmer lenkte.