17

Am Morgen nach seinem unglückseligen Zusammenstoß mit dem dreisten Chuck in O’Sheas Bar kam Jamie langsam wieder zu sich.

Er lag still in dem zerwühlten Bett, starrte einen feuchten Fleck an der Decke an und ließ langsam den Film mit den Ereignissen der letzten Nacht ablaufen. Er sah sich wieder oben auf dem Barhocker sitzen, wie er den Saal mit seiner volltönenden, bewegenden Musik füllte. »Ich hab selten so ’n gutes Akkordeon gehört wie heute Abend!«, hatte Declan gesagt. Und dann hatte sich die Szene verdunkelt: Besudelt von dem schrillen Geschrei dieses kleinen Bastards. »Maria und Jesus!«, fluchte Jamie.

Er versuchte sich vorzustellen, wie großartig der Abend geworden wäre, wenn er nicht von Sproules widerlichen Worten zur Weißglut getrieben worden wäre. Aber das konnte er sich gar nicht mehr vorstellen, der Abend war kaputt gemacht worden, wie ein Tropfen Tinte klares Wasser trübt.

Er löste sich von diesen dunklen Gedanken, legte vorsichtig die Decke zur Seite, blieb eine Weile auf dem Bettrand sitzen und starrte auf seine Füße. Das rote Linoleum war durch Jamies Angewohnheit, morgens grübelnd auf dem Bettrand sitzen zu bleiben, vom Abrieb rosa geworden.

An diesem Morgen saß er noch etwas länger dort als sonst und dachte über sich und seine Einsamkeit nach dem Tod seines geliebten Onkels Mick nach. Mit seinem Tod war sein schönes Leben zu einem jähen Ende gekommen. Seine Einsamkeit fühlte sich an, als würde ununterbrochen Schnee fallen, während ein scharfer Wind pfiff und die Tage und Nächte in Dunkelheit getaucht waren. Er trauerte jetzt schon zehn Monate und ein Tag war wie der andere.

Dr. Brewster nannte das Depression und so behandelte er es auch, aber Jamie wusste genau, dass er mehr als Pillen brauchte. Das Leben verlangte von ihm, dass er für sich selbst die Verantwortung übernahm, kurz, dass er zum Mann wurde. Aber wie sollte aus dem Kind, das nie Kind hatte sein dürfen, plötzlich ein Mann werden? Dafür müsste er gewaltige emotionale Abgründe überwinden.

Er versuchte, nicht ins Grübeln zu kommen, und versetzte sich lieber wieder in die Vergangenheit, in der sein Onkel noch gelebt hatte und er glücklich gewesen war.

Sein Blick fiel auf das Brigid-Kreuz, das neben dem Fenster zum Staubfänger geworden war. Sein Onkel hatte es unter Schmerzen kurz vor seinem Tod noch selbst angefertigt. Darunter hing ein Foto des lächelnden jungen Mick an seinem Hochzeitstag mit steifem Kragen und dem Taschentuch in der Brusttasche, das mit den Jahren und dem Rauch aus Kamin und Pfeife vergilbt war. Neben ihm seine schöne Braut Alice, deren feine Gesichtszüge von einem gewaltigen Kopfschmuck aus Straußen federn und Plastikfrüchten beschattet wurden, in einem Spitzen kleid, das sich zart bis zum Hals hochzog.

Alice war eines Tages über einen Eimer Hühnerfutter gestolpert und unglücklicherweise mit dem Kopf auf eine Türschwelle aufgeprallt. Einige Tage später wurde deutlich, dass der Unfall ernste Folgen hatte, die ihr Schmerzen verursachten und sie häufig sehr unruhig werden ließen. Die geliebte Alice war völlig verändert. Mick pflegte sie, so gut er konnte, aber er musste sich geschlagen geben, als sie eines Tages im Hühnerstall mit einem Brotmesser auf ihn losging, weil sie ihn mit dem Sonntagsbraten verwechselte. Mick war untröstlich und weinte nach dem Unfall sehr viel, aber er musste sie schließlich doch schweren Herzens zur Pflege in die Nervenheilanstalt St. Peregrin geben.

Dort starb sie sehr schnell.

Jamies Augen füllten sich mit Tränen, als er an dieses Unglück dachte. Aus seinem Portemonnaie auf dem Nachttisch nahm er ein säuberlich zum Quadrat zusammengefaltetes Taschentuch, gelb vom Alter und mit irischen Kleeblättern gesäumt. Er tupfte seine Augen mit dem geliebten Taschentuch und legte es ehrerbietig wieder ins Portemonnaie zurück. Gleich ging es ihm besser.

Dann fiel sein Blick auf das Kostbarste, was er besaß: das zweireihige silberne Akkordeon seines Onkels in dem Walnusskasten. Die schönen Erinnerungen, die sich daran knüpften, halfen Jamie, sich der Realität eines weiteren Tages zu stellen.

Er hörte, wie ungeduldig die Tiere auf das Frühstück warteten. Sein Kopf fühlte sich an wie ein Fels, der auf einem Stock zitterte, seine Beine und Arme waren wie Zahnstocher, die unter seinem Gewicht zu brechen drohten. Er erhob sich langsam, ohne hinunterzusehen, und stützte sich beim Anziehen seiner Arbeitsmontur ab. Schließlich hatte er die Hosenträger angelegt und die Knöpfe zugemacht und stolperte in die Küche, um sich zur Ausnüchterung den ersten Tee zu kochen.

Dafür brauchte er länger als sonst. Jedes Geräusch – das Klirren des Bechers, den er aus dem vollgestellten Spülbecken hervorzog, das hervorschießende Wasser aus dem Hahn, das klimpernde Umrühren mit dem Löffel – griff seine bloßliegenden Nerven an. Als er sich in den ramponierten Sessel sinken ließ, den Teebecher auf die Armlehne abstellte und die erste Zigarette des Tages hervorkramte, schwor er sich, nie wieder zu trinken. Aber das war nur ein Gedanke, den er bald wieder vergessen hatte.

Die Sonne schien zum Fenster herein und in ihrem blendenden Strahl tanzte der Staub. Eine Schmeißfliege summte wie verrückt im Zimmer umher, ließ sich schließlich auf Jamies Lehne nieder und rieb sich die Beine. Unter ihrem metallisch wirkenden Hinterleib hämmerte ihr Motor. Er wollte sie berühren, wusste aber, dass sie sofort wegfliegen würde, wenn er sich regte. Müßig ging er der Frage nach, woher Fliegen ahnten, wenn man sie berühren oder totschlagen wollte. Konnten sie die Zukunft voraussehen, spürten sie den Luftzug einer erhobenen Hand oder hatten sie vielleicht zwei winzig kleine Augen auf ihren winzig kleinen Hinterköpfen? Wer konnte das schon sagen.

Er zog an der Zigarette und stocherte im Feuer herum. Die Fliege summte verzweifelt am Fenster hoch und runter. Eine Flamme schoss aus der glühenden Kohle hervor und sogleich brannte das Feuer wieder. Er stellte das Schüreisen wieder zurück und griff geistesabwesend nach der Flasche mit dem Valium. All diese unbewussten Handlungen führte Jamie jeden Morgen wie ein Hochseilakrobat aus, der immer mit schlafwandlerischer Sicherheit auf derselben Stelle landete. Aber an diesem Morgen schoss ihm beim Aufschrauben der Pillenflasche ein Gedanke in den Sinn.

Wenn es immer so weiterginge?, fragte er seine geöffnete Handfläche. Wenn ich diese Pillen für den Rest meines Lebens nehmen müsste? Wenn ich immer in diesem leeren Haus aufwachen müsste, mit niemandem als Shep zur Gesellschaft? Wenn ...?

Er sah sich in dem schäbigen Zimmer um und wieder flossen Tränen. Er ließ sich auf den Schrecken dieser Frage ein, die er seit dem Tod seines Onkels vermieden hatte.

»Wenn es immer so weiterginge?« Die Frage klang hohl von den stummen Wänden wider, nur das Ticken der Uhr und das Summen der Fliege kamen zur Antwort.

Widerwillig wagte sich Jamie jetzt in die dunklen Gassen vor, die ihm so große Angst machten. Warum sollte ich nach einer Frau suchen, fragte er sich. Rose, Paddy und Dr. Brewster halten das für eine gute Sache, aber woher sollen sie wissen, wie unendlich hart das für mich ist. Sie wissen nichts über das Waisenheim und von dem, was man mir dort angetan hat. Außerdem hatte er den Brief an diese mysteriöse Frau vor zwei Wochen abgeschickt und sie hatte noch nicht geantwortet. Gewiss würde sie es jetzt auch nicht mehr tun.

Er starrte wieder auf das Valium in seiner Handfläche, dann warf er die Pillen ins Feuer, kippte den Tee herunter und ging hinaus.

Shep sprang an ihm hoch, als er in den Sonnenschein trat. Jamie lächelte, kraulte den Hund und lief zielstrebig zur Scheune, Shep auf den Fersen. Dort blieb er in der staubigen Stille stehen und blickte zu den Deckenträgern hoch. Den letzten hatte Mick dort eingezogen, als Jamie noch ein Junge gewesen war. Der konnte der Richtige sein. Er sah vom Dachsparren auf die Schnur für die Heuballen, dann wieder auf den Decken träger. Ja, es wäre so einfach, dachte er. Das Seil und der Balken könnten mich von all diesem hier befreien. Und mich in Windeseile ins Paradies befördern, wo ich wieder mit Mick und Alice zusammen wäre. Nur einen Atemzug entfernt, dachte er. Nur einen Atemzug.

»Hi, Jamie, steckst du da drinne?«, rief jemand von draußen.

Shep bellte bei dem seltenen Anblick: Scrunty Branny, der Postbote, kam auf den Hof geradelt. Jamies Herz machte einen Satz, als er ihn sah. Aber er wagte nicht zu hoffen.

»Wie geht’s, Scrunty? Dich sieht man ja selten hier oben.«

Scrunty Branny, ein dicker Bauer wie von Bruegel mit Hamsterbäckchen und einer Warze auf dem linken Augenlid, stieg schwerfällig und heftig atmend vom Rad. »Ja, und es is ... es is gut ... gut, dass du nich so oft Post bekommst, Jamie.« Er schob seinen Tornister auf seine wohlgenährte Vorderseite und seufzte. »Denn dein Hügel da hätte mich fast auf dem Gewissen, jawoll!«

»Ganz schön steil, wenn du nich dran gewöhnt bist«, stimmte Jamie ihm zu.

Shep und er sahen interessiert zu, wie Scrunty ein mit einem Gummiband zusammengehaltenes Päckchen Post hervorkramte. Er leckte einen Finger an, blätterte es durch und zog einen Umschlag hervor.

»Großartige Handschrift, Jamie, ich frag mich, von wem er is.«

Jamie sah seine eigene Adresse in einer eleganten Handschrift, die nur einer Frau gehören konnte. Er glaubte zu wissen, von wem er war. Aber Scrunty Branny, das schwor er sich, sollte der Letzte sein, der das erfuhr.

»Könnte von Micks Schwester in Amerika sein«, log Jamie und vermied es, in Scruntys forschende Knopfaugen zu blicken.

»Aber dann hätte er doch einen Airmail-Stempel. Dieser Brief stammt von hier.«

»Gott, da haste recht. Na ja, bis bald, Scrunty.« Jamie ging schnell ins Haus und ließ den Briefträger verdattert mit seinen buschigen Augenbrauen dort stehen.

In der kleinen Küche fand er ein Messer, an dem noch der Zitronenaufstrich vom Vortag klebte. Er wischte es an der Schuhsohle ab, schlitzte den Umschlag auf und ließ sich wieder in den Lehnstuhl fallen. Dann faltete er die makellosen Seiten auseinander und begann zu lesen.

Elmwood House
River Road
Killoran

Lieber Mr McCloone,

vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, meine Anzeige im Mid-Ulster Vindicator vom 17. Juli zu beantworten.

Ich würde Sie gerne kennenlernen, aber vorher wäre es nur fair, wenn Sie auch etwas über mich erfahren. Außerdem möchte ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, damit ich mir ein besseres Bild von Ihnen machen kann. Ich entschuldige mich im Voraus, falls sie meine Fragen für aufdringlich halten. Aber wissen Sie, ich bin ein grundehrlicher Mensch. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass wir sonst vielleicht nur unsere Zeit verschwenden würden.

Jamie kratzte sich am Kopf und fragte sich, was sie damit wohl sagen wollte. Vielleicht würde er es ja bald herausfinden.

Ich bin in etwa so alt wie Sie. Ich bin seit Jahren Lehrerin an der Grundschule in Killoran. Mir macht die Arbeit mit Kindern Spaß, ich stelle mich gern der Herausforderung, junge Köpfe zu formen.

Das Wort »Lehrerin« ängstigte Jamie, denn seine Erinnerungen an Vertreterinnen dieses Berufsstandes waren alles andere als glücklich.

In meiner Freizeit lese ich gerne, vor allem romantische Romane und historische Biografien, auch wenn ich mich dieser Leidenschaft nur während der Ferien ganz widmen kann. Während der Schulzeit bin ich normalerweise zu beschäftigt dafür. Sie haben in Ihrem Brief geschrieben, dass Sie auch gerne lesen, vielleicht können Sie mir mitteilen, welche Art von Büchern Sie mögen.

Jamie sah hoch. Die Fliege summte noch immer wie von Sinnen gegen das Fenster an. Auf der Fensterbank standen die einzigen beiden Bücher des Hauses. Sie hatten Onkel Mick gehört, und er hatte sie kaum je aufgeklappt, geschweige denn in ihnen gelesen: Old Moore’s Almanac, ein astrologischer Wetter- und Bauernkalender, und ein zerlesenes Exemplar von Große Erwartungen, das Micks Onkel Fergal aus einer alten Schule entwendet hatte. Das war ein unerschrockener junger Mann mit einem Hunger nach Wissen und einem Auge für Profit gewesen, der einer bitteren Kindheit entkommen war, indem er seine Religion aufgegeben hatte und sich zusammen mit viel zu vielen anderen Iren auf einem Seelenverkäufer nach Amerika eingeschifft hatte. Als er dort angekommen war, hatte Fergal zuerst seinen Bildungshunger gestillt. Dann wurde er ein ziemlich hoher Bankangestellter, nur um mit zweiunddreißig in einem Schusswechsel zwischen New Yorker Gangstern einer Kugel zum Opfer zu fallen, die eigentlich Fred »The Fats« McSweeney gegolten hatte. Fergal war gerade aus dem »The Thirsty Bull«-Spirituosenladen gekommen. »Also hat ihn das Trinken ums Leben gebracht«, kommentierte Mick den Vorfall trocken.

Jamie vermutete, dass die verschnörkelte Unterschrift »Fergal J. McCloone« auf dem Innentitel des Romans einem Mann gehörte, der »unglaublich schlau« gewesen sein musste und bestimmt viel gewusst hatte. Er wandte sich wieder dem Brief zu.

Ich fürchte, dass ich nicht viel über die Landwirtschaft weiß, aber ich mag Tiere. Ich hätte so gerne eine kleine Katze, aber da meine Mutter allergisch gegen Tierhaare ist, muss ich mir diesen Wunsch abschminken.

Sie erwähnten, dass Sie gerne kochen, und das interessiert mich sehr. Ich habe noch nicht viele Männer kennengelernt, die diese Kunst beherrschen. Welche Gerichte bereiten Sie am liebsten zu? Welcher Aspekt des kulinarischen Prozesses interessiert Sie am meisten?

»Essen«, dachte Jamie sofort, aber er ahnte, dass das höchstwahrscheinlich die falsche Antwort war.

Ich freue mich, dass Sie Musik mögen. Ich spiele kein Instrument wie Sie, aber ich singe gerne, vor allem Kirchenlieder beim Gottesdienst. Ich mag Andy Williams und James Last.

Der Ausdruck »Gottesdienst« störte ihn. Eine Katholikin hätte »Messe« geschrieben. Also war sie vielleicht wirklich von der »anderen Sorte«. Aber dann erinnerte er sich daran, dass Rose gesagt hatte, Religion sei nicht so wichtig, und da Rose eine weise Frau war, hatte sie bestimmt auch in dieser Hinsicht recht.

Ich glaube, das ist alles, was ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt von mir erzählen kann. Ich freue mich auf Ihren Brief und darauf, mehr von Ihnen zu erfahren.

Übrigens haben Sie eine schöne Handschrift. Haben Sie künstlerische Neigungen?

Mit freundlichen Grüßen Lydia Devine

»Ly-dee-a Devine, Ly-dee-a Devine.« Diesen Namen sang Jamie vor sich hin, denn er konnte nicht so recht glauben, was er da gerade gelesen hatte. Er las sich den Brief noch einmal durch, die Episode in der Scheune hatte er vollkommen vergessen. Plötzlich lag ein neuer, aufregender Pfad vor ihm. Sie hatte zurückgeschrieben – das war das Magische daran. Sie hatte ihn wahrgenommen. Und sie hatte sogar seine Handschrift bewundert! Er fühlte sich plötzlich gestärkt. Aber mit seiner Antwort musste er sich große Mühe geben. Er würde noch einmal auf Rose McFaddens Fähigkeiten zurückgreifen müssen.

Jamie verbrachte den Rest des Tages in begeisterter Vorfreude. Seine Arbeiten erledigten sich fast wie von selbst. Der Kater ging vorüber, ohne dass es ihm auffiel. Er hatte kein Bedürfnis, irgendetwas zu essen, und dann erinnerte er sich freudig, dass es der erste Tag seiner Diät war. Das passte doch wirklich gut. Jetzt hatte er mehr, worüber er nachdenken konnte als Essen. Der Brief veränderte die vorhersehbare Monotonie seines Tages, machte ihm bewusst, dass er vielleicht gar nicht mehr so fern von seinem Glück war, dass die »sonnige Lichtung« vielleicht ganz nah war. Jetzt glaubte er, dass er alles schaffen konnte: Bäume mit bloßen Händen entrinden, dem Schwein beibringen, »Muirsheen Durkin« zu singen, und zwar in der Stimme von John McCormack. Selbst die Sonne vom Himmel holen.

Bevor er sich ganz auf seine Tagträume einließ, beschloss er, Dr. Brewsters Rat jetzt umzusetzen. Er würde den Anfang seines neuen Lebens in der nächsten Woche mit einem kurzen Urlaub begehen.

Er fand Rose McFadden wie immer in ihrer Küche vor, wo sie Teig in Förmchen füllte. Ein Tablett mit Marmeladentörtchen stand schon für den Ofen bereit. Paddy saß in einem Sessel am Herd, den Kopf hinter dem Mid-Ulster Vindicator versteckt. Auf dem Herd pfiff leise ein Kessel vor sich hin und in der Ecke dudelte ein heruntergedrehtes Radio. Rose unterbrach das Einfüllen des Teigs und Paddy ließ die Zeitung sinken, als Jamie klopfte.

»Ach, weißte, mein Paddy und ich haben gerade über dich gesprochen, Jamie! Setz dich doch.« Sie sah ihren Mann an. »Stimmt’s etwa nich?«

»Doch, stimmt genau«, bestätigte Paddy.

»Ich hab gesagt: ›Hat Jamie denn mal ’n Brief gekriegt von der Dame?‹ und ›War das nich schlimm, wie dieser Rabauke von Sproule euren Abend bei Slopes kaputt gemacht hat?‹. Paddy hat mir erzählt, dass du ihm eine reingehauen hast, und weißte was, Jamie, wenn ich in deiner Lage gewesen wär, hätte ich ihm selbst eine reingehauen, denn du weißt ja, was man sagt: Wenn ein Mann seine Zunge hütet und seine Hände in den Taschen behält, haut ihm niemand die Fresse ein, und Paddy hat mir erzählt, dass der Lümmel dich vorher mächtig getriezt hat, und dann hat er eben bekommen, was er verdient.«

Rose hielt inne, um Atem zu holen. Sie streifte selbstgemachte Topflappen über, auf denen zwei Katzen mit orangen Knopfaugen und etwas asymmetrisch positionierten Fellohren prangten. Dieser kleine Fehler war dem Umstand geschuldet, dass Rose sich bei der Anfertigung noch von einer Operation des linken Auges erholte. Im Januar des vorangegangenen Jahres hatte sie sich beim Aufstellen einer Mausefalle (mit einem Würfel reifem Killymacoo-Cheddar) unter dem Waschbecken verletzt und nun löste sich die Netzhaut ab.

»Ach, solche Sachen passieren eben«, sagte sie über den Vorfall mit Sproule. »Und da kann man eigentlich nichts weiter gegen tun, wirklich.«

Jamie ließ sich auf den gepolsterten Stuhl am Tisch mit dem Schweinemuster nieder. Rose schob die Tabletts mit den Törtchen und Rosinenkeksen in den Ofen und stellte die Uhr.

»So, das wäre auch geschafft.« Sie richtete sich wieder auf, sichtlich mit ihrer Arbeit zufrieden. »Und mein Paddy sagt zu mir: ›Jamie hat gestern so gut Akkordeon gespielt wie lange nich mehr, es war besonders gut.‹ Stimmt’s, Paddy, das hast du doch gesagt?«

»Ja, das stimmt, Rose. Genau das hab ich gesagt.« Paddy faltete die Zeitung zusammen und reichte sie an Jamie weiter.

»Hast du das von Doris Crink gehört? Die Poststelle ist gestern ...«

»Ausgeraubt worden.« Rose konnte es nicht ertragen, dass ihr Ehemann derjenige sein sollte, der solche weltbewegenden Nachrichten überbrachte.

»Ach, du lieber Gott, alles, was ich gespart hab, is bei Doris!«

Jamie sah entsetzt auf die Schlagzeile: Poststelle in Tailorstown überfallen. Noch keine Verdächtigen. Und dann las er den Bericht durch.

»Keine Angst, Jamie, dein Geld ist sicher«, versicherte Paddy ihm, »denn hier steht ... hier steht ... dass der Räuber ...«

»... mit nur einem Fünfer abziehen musste«, rief Rose dazwischen. Sie nahm Teetassen aus dem Regal. Jedes Mal, wenn sie Jamie sah, knackte es im Stromkreis ihres Gehirns und sie bekam das Signal: TEE. »Das hat der armen Doris noch gefehlt«, verkündete sie mit Stentorstimme. »Muss ja ein schrecklicher Schock für die Ärmste gewesen sein.«

»Hier steht, er hätte ’n Gewehr benutzt«, sagte Jamie, während er den Artikel überflog. Er war erleichtert, dass sein Notgroschen sicher war. »Der Herr hilf mir, aber das muss ja wirklich ganz grässlich gewesen sein.«

»Ja, ganz grässlich, schon für einen Mann, und noch für ... für eine Frau«, stimmte Paddy ihm zu. »Aber weißte, vielleicht war es auch so eine ... so eine Wasserpistole. Manchmal sehn die genauso aus wie ein ... wie ein ...«

»Ein Hammer?«, bot Jamie an.

»Nee, ein Hammer doch nicht ... manchmal sehn sie genauso aus wie ...« Paddy konnte sich partout nicht konzentrieren. »Mann, was wollte ich sagen? Sie sehn so aus wie ...«

»Ein Gewehr?«, steuerte Rose bei.

»Ja, so ähnlich, nur kleiner.«

»Eine Pistole?«, rief Jamie.

»Genau. Das isses!«, sagte Paddy erleichtert. »Diese Wasserpistolen sehen heutzutage schon aus wie ’ne echte Pistole.«

»Ich weiß nich, wo das noch alles hinführen soll«, warf Rose ein. Sie goss Tee ein und reichte die Becher herum. »Einen kleinen Rosinenkeks dazu, Jamie? Frisch aus dem Ofen.« Sie schob ihm eine Platte unter die Nase. Erst beim Anblick der Rosinenkekse wurde ihm bewusst, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte und hungrig wie ein Bandwurm war.

Er zog den Brief hervor und legte ihn ehrfurchtsvoll auf den Tisch.

»Eine Ly-dee-a Devine, ja wirklich.«

»Wer hätte das gedacht? Schöner Name. Hörst du das, Paddy?«

Paddy konnte gerade nicht antworten, da seine Dritten mit einem Rosinen keks kämpften. Also nickte er und hob stattdessen bestätigend die Hand.

Rose wischte sich die Hände an der Schürze ab und holte ihre Brille aus dem Fischmaul auf dem Kamin. Paddy hatte verstanden, dass Heirats vermittlung Roses Terrain war, und stand auf.

»Ich kümmere mich mal um den Rest von den Malerarbeiten«, sagte er zur Kuckucksuhr über dem Ofen, denn er spürte, dass man ihn nicht vermissen würde.

»Ja, mach das, Paddy«, sagte Rose, »und pass auf, dass du nichts auf meine Clematis kleckerst!«, rief sie hinter ihm her, als er hinausging, um die Haustür mit einer Büchse grüner Lackfarbe der Marke »Dublin Bay« zu verunstalten.

»Sind das die kleinen lila Dinger, die da an der Tür hochklettern, Rose?«

»So isses, Jamie, aber Paddy hat manchmal so ’ne unsichere Hand, und wenn er so was Wichtiges wie das jetzt in Angriff nimmt, weißte ...«

»Ach, das kenn ich auch«, unterbrach Jamie sie, denn er kannte Roses bemerkenswerte Art, von der Sache abzukommen, und jetzt brannte er darauf, ihre Meinung zu Miss Devines Brief zu hören.

»Der Herr im Himmel schütze uns, was für eine Handschrift, Jamie!« Rose las den Brief, nickte und seufzte leise, während Jamie den Tee schlürfte und die Rosinenkekse verschlang.

»Allerhand!« Rose nahm die Brille ab. »Eine sehr feine, ausgeglichene Dame, Jamie.« Eine leere Teetasse und ein leerer Teller vor einem Mann signalisierten ihr, dass sie ihn vernachlässigte, und so goss sie Jamie auto matisch Tee nach und schob ihm weitere Kekse zu.

»Aber es sieht so aus, als ob sie Protestantin wäre, Rose. Sieh mal hier, das mit dem Gottesdienst.«

Sie brach einen Keks entzwei. Sie machte nur selten Pausen zwischen essen und sprechen und verband lieber beide Aktivitäten miteinander.

»Die Sache mit der Religion: Das ist nur ein winziger Fleck am Horizont, wenn ich mal so sagen darf. Und unter uns, Jamie,« und sie beugte sich verschwörerisch zu ihm herüber, »mein Paddy und ich, wir hatten nie was gegen die anderen. Der Wahrheit die Ehre, sie arbeiten härter und sind nich so faul wie unsereiner. Wir können doch stundenlang auf einem Feld rumstehen, uns die Ärsche kratzen und kriegen nichts gebacken. Also, ich sag nich, dass mein Paddy und du in diese Kategorie gehören, aber weißte, Jamie, es gibt viele davon.«

»Tja, da haste wahrscheinlich recht, Rose.«

»Bestimmt, Jamie, ganz bestimmt. Also weißte, eine hart arbeitende protestantische Frau ist nich zu verachten, denn sie könnte dir mehr bringen als eine faule alte Republikanerin, die den ganzen Tag mit ’ner Kippe im Maul auf dem Sofa rumliegt und sich die Zehennägel lackiert. Und wo wir grad bei Kippen sind: Die meisten protestantischen Frauen trinken und rauchen nich, dazu kommen sie nämlich vor lauter Arbeit gar nich, Jamie.«

»Ach Gott«, war alles, was Jamie dazu sagen konnte, dem die Vorstellung von einer protestantischen Frau von Minute zu Minute besser gefiel.

»Nun lass uns mal all die guten Sachen an dieser Dame aufzählen.«

Rose breitete den Brief vor sich aus und zählte an den Fingern der linken Hand Lydia Devines unbestreitbar guten Eigenschaften ab.

»Nun, Jamie, erstens: Sie is ungefähr so alt wie du, und das heißt, sie is vernünftig und nich so eine kleine Flunkerin, die einem Mann den Kopf verdreht und sich nichts dabei denkt. Sie is also selbst schon in so’m Alter und sitzt selbst schon sozusagen im Glashaus, dann wird se ja auch keinen Stein werfen, denk ich mal so, denn keiner von uns wird jünger, so is das Leben nun mal.« Jamie nickte und nahm sich noch einen Rosinen keks. Die Diät war vergessen.

»Zweitens: Sie hat ’ne gute Arbeit und Gott weiß, dass das heutzutage eine Seltenheit is, und sie muss Kinder mögen, denn sonst würde sie denen nich was lernen wollen, wenns nich so wär. Und ich sag dir, das is ein gutes Zeichen bei ’ner Frau, das heißt doch, dass du mit ihr vielleicht noch ’ne Familie gründen kannst, oder etwa nich?« Sie nahm einen großen Schluck Tee.

Jamies Augen weiteten sich. An Kinder hatte er noch nie gedacht und schon gar nicht an die intimen Vorgänge, bei denen sie gezeugt wurden.

»Guck doch nich so überrascht, Jamie! Du bist doch selbst erst einundvierzig, ein gestandener Mann, und wenn sie ungefähr so alt is, wie sie hier sagt, dann hat sie doch auch noch Zeit. Meine Cousine Martha hat mit zweiundvierzig Drillinge bekommen, vor achtzehn Monaten war das. Und wenn die kleine Mary auch schielt, die kleine Molly eine Hasenscharte hat und der kleine Martin einen Kopf wie eine Runkelrübe, Himmel hilf, Gott muss es ganz schön eilig gehabt haben, als er die drei gemacht hat, aber davon jetzt mal ab, fehlt denen nichts. Denn weißte, eine Frau über vierzig kann schon mit einem kleinen bisschen Zurückgebliebenheit rechnen, warum hat sie das alles auch so lange aufgeschoben.«

Rose nahm sich noch einen Keks und unterbrach den Wortschwall kurz.

»Es gibt welche, die ham gesagt, ein Wunder, dass sie überhaupt leben, mein Paddy auch, aber das war kein Wunder, sag ich, denn wenn eine Frau Kinder will, dann kriegt sie sie auch, egal wie alt sie is, denn Gott schließt nie eine Tür, ohne eine andere aufzumachen, verstehste, was ich meine, Jamie?«

Rose führte den Becher mit dem Damm des Riesen an den Mund. Jamie war das Thema peinlich, und er wusste nicht, was er dazu sagen sollte, und so sah er von den hüpfenden Schweinen zu einem Paar Keramik gänsen an der Holzvertäfelung, die sich anschickten, zur Decke zu fliegen.

»Also, wo war ich?« Sie sah wieder auf den Brief hinab, dann hakte sie den Zeigefinger der rechten Hand in den Mittelfinger der linken und fuhr fort.

»Nummer drei. Sie mag Tiere – was immer ein richtig gutes Zeichen is, denn das heißt, es würde ihr auch nichts ausmachen, mal ein Schwein zu füttern oder die Kühe zu melken, wenn du es aus irgendeinem Grund nich selbst machen kannst, Jamie. Womit ich nich sagen will, dass dir dann irgendwas zustößt, aber du hattest diesen Ischias im Rücken und vielleicht hast du das ja immer noch.«

»Ja, das kannste laut sagen, ab und an zieht’s ordentlich, Rose.«

»Siehste! Wenn du also mal an einem kalten Morgen nich aus ’m Bett kommst – und Gott weiß, dass es bald wieder kälter wird – dann wäre sie ja da und könnte das mal für dich machen.«

Rose freute sich, weil Jamie zu allem zustimmend nickte. Er verstand sie also.

»Das erinnert mich an was, Rose, gerade wo du das sagst. Nächsten Montag und Dienstag will ich mal nach Portaluce mit meinem Rücken und allem.«

»Ich hab schon verstanden, Jamie. Du willst bestimmt, dass mein Paddy die Tiere füttert, und das macht er gerne, das weißte doch.«

»Weißte, Dr. Brewster hat gesagt, ein paar Tage rauskommen würde mir mächtig guttun. Und jetzt, wo ich bald diese Frau kennenlerne, bin ich schon ganz schön nervös, und da hilft es mir bestimmt, mal ein bisschen rauszukommen und andere Leute zu sehen.«

»Weißte Jamie, es gibt keinen Grund, warum du wegen dem Treffen mit der Dame da nervös werden solltest, denn der Wahrheit die Ehre, sie is bestimmt genauso nervös wie du, denn sie is ja, genau wie du, ein einsames Herz. Soweit wir wissen, sitzt sie vielleicht genau wie du herum und starrt ins Feuer, redet mit keinem von einem Wochenende zum nächsten, außer mit ihrem mürrischen alten Bruder oder der Mutter oder mit sonst wem und ein paar Katzen.«

»Darüber hab ich noch nie nachgedacht, Rose, aber wenn du es so sagst ...«

Rose war begeistert, dass Jamie etwas mit ihren Kummerkasten-Weisheiten anfangen konnte.

»Und wenn ich das mal sagen darf, Jamie, ich bin froh, dass du mal ein paar Tage ausspannst bei deinem Rücken, wenn der dir immer noch wehtut.«

»Ja, ab und an schon noch, Rose.«

»Das kenn ich, Jamie! Unsere Martha hatte ein schlimmes Bein, das wurde sie nach der Geburt von der Kleinen nich mehr los. Is geschwollen wie das Bein von einem Mullingar-Heifer-Rindvieh, falls du weißt, was ich meine, und ich bin runter und hab ihr ausgeholfen, denn sie konnte gar nich mehr laufen. Is ne schlimme Sache, wenn man so immobilersiert wird. Dein Bauch sei immer voll und deine seien Gelenke immer beweglich, hat meine Urgroßmutter Murphy immer gesagt.«

Rose brach noch ein Rosinenküchlein auf ihrem Kuchenteller entzwei und vertiefte sich wieder in den Brief. »So, Jamie, wo waren wir bei dieser Dame stehen geblieben?«

»Ich glaube, wir waren gerade bei den Büchern, Rose.«

»Ach ja, du hast recht, Jamie. Das und das mit dem Kochen. Aber weißt du, das mit dem Kochen ist das Wichtigste, deswegen komm ich da erst zum Schluss drauf.« Rose stand auf. »Entschuldige mich mal für ’ne Sekunde, Jamie. Ich muss nachsehen, ob die Törtchen aufgegangen sind.«

Sie streifte die Katzenkopf-Topflappen über und öffnete die Ofentür. Heiße Luft strömte in die ohnehin schon überhitzte Küche. Sie stellte eines der dampfenden Bleche auf einen Rost zum Abkühlen.

»Aber ich hab doch gar keine Bücher gelesen, Rose! Vielleicht ein oder zwei übers Farmen oder so.« Das war gelogen. In Wahrheit beschränkte sich Jamies Lektüre auf das Entziffern der Zubereitungsempfehlung von Campbells Hühnersuppe. »Aber ich glaube, sie meint Romane und so, denn sie ist doch Lehrerin.« Er warf begehrliche Blicke auf die Marmeladentörtchen.

»Die sind noch ein kleines bisschen zu heiß, Jamie, aber ich geb dir welche für zu Hause mit.«

Sie hängte die Topflappen an ein Schild in Form eines Bullenkopfes, dessen Hörner allen möglichen Küchengeräten als Aufhänger dienten.

»Also, mein Paddy hat hier unten ein paar Westernbücher, so mit Cowboys drin, verstaut.« Sie ließ sich mühsam auf ein Knie nieder und öffnete den Schrank rechts neben dem Herd. »Er macht sich jetzt nichts mehr draus, seine Augen sind auch nich mehr das, was sie mal waren.« Sie redete in den dunklen Schrank hinein. »Und du weißt ja, wie es heißt, Jamie: Selbst ein blindes Huhn findet im Dunklen kein Korn.«

Mit knackenden Gelenken stand sie schwerfällig auf. Ihr Gesicht hatte das Rot der Rosen angenommen, die ihren ausladenden Busen zierten. Sie überreichte Jamie zwei schäbige, vergilbte Taschenbücher: Der Mann aus Virginia von Owen Wister und Der Wanderer in der Wüste von Zane Gray.

»So, da sind sie. Guck da doch mal rein, bevor du sie triffst, Jamie, nur falls sie dich fragt, was drin vorkommt, denn du willst dich doch nich mit den Hörnern im Heu erwischen lassen oder wie man das nennt.«

Jamie sah sich die Bücher an, blätterte in ihnen herum und fragte sich, warum sich die Vorbereitung auf das Treffen mit dieser Dame allmählich anfühlte wie eine Prüfung.

»Prima, Rose«, sagte er leicht resigniert. »Wirklich vielen Dank. Bleibt nur noch die Frage zum Kochen.«

»Ja, Jamie«, sagte Rose, suchte ein Spachtelmesser aus der Schublade und legte die Marmeladentörtchen auf eine durchbrochene Kuchen platte. »Tja, ich bin ja auch nich grad ’n Akademier, aber diese vornehmen Worte ›des kuli-ni-ari-schen Pro-zesses‹ sollen vielleicht Kochen und Backen heißen.«

Sie bot Jamie ein Törtchen an und griff auch selbst zu. Dann setzte sie die Brille wieder auf und nahm stirnrunzelnd den Brief zur Hand.

»Welche Gerichte bereiten Sie am liebsten zu?« Sie wiederholte den auffälligsten Satz noch einmal: »Welcher As-pekt des kuli—ni-ari-schen Pro-zesses interessiert Sie am meisten?«

Rose sah ihn über ihre Brille hinweg an.

»Ich glaub, ich hab’s, Jamie. Bist du nich gerade dabei, die Antwort darauf aufzuessen?«

»Hä?« Verwirrt sah er auf das angeknabberte Törtchen in seiner Hand hinab.

»Die Marmeladentörtchen. Weißte, die könnte ein Affe ohne Augen im Hinterkopf machen! Womit ich nich sagen will, dass du ein Affe bist, Gott bewahre, nichts liegt mir weiter weg. Aber Marmeladentörtchen und Rosinenkekse kannste mit verbundenen Augen machen, wenn sie dir die Hände auf dem Rücken fesseln. So einfach gehen die.«

Sie ging zu einem Korkbrett über dem Kühlschrank, das von einer mädchenhaften Statue des heiligen Joshua (des Schutzpatrons ergebnisloser Bemühungen) auf einer Plastikkonsole beschirmt wurde, nahm eine Stecknadel aus einem Rezept für Rosinenkekse, das sie aus einer Cornflakes-Packung ausgeschnitten hatte, und reichte es Jamie.

»Bitte sehr. Das kannst du behalten, und sieh es dir gut an. Ich bring meim Paddy noch ein bisschen Tee und dann machen wir uns an die Antwort!«

Sie ließ Jamie in das Rezept vertieft in der Küche zurück. Er fragte sich, wie ihn die gesichtslose Lydia schon vor solche Herausforderungen – Bücher zu lesen und Rezepte auswendig zu lernen – stellen konnte, bevor er sie auch nur getroffen und sich mit ihr unterhalten hatte.

Das Leben war wirklich merkwürdig. In einer Minute dachte man darüber nach, an einem Dachbalken mit einem Seil alles zum Ende zu bringen und in der nächsten lernte man ein Rezept für Rosinenkekse auswendig, weil man eine Dame treffen wollte. Das war wirklich alles sehr merkwürdig.