27
Sechsundachtzig lag in der Dunkelheit auf dem rumpelnden Karren und verlor immer wieder das Bewusstsein. Er konnte die Sterne sehen und den Gestank des Strohs riechen, und wenn die Räder über den unebenen Pfad holperten, schossen ihm stechende Schmerzen durch den Körper.
Er wünschte sich, wieder ohnmächtig zu werden, damit er die Qualen nicht zu ertragen brauchte und nicht mehr an das grässliche »Verbrechen« denken musste, das er begangen und an die Strafe, die er dafür bekommen hatte.
Er erinnerte sich an die vergangenen Stunden wie an einen Flickenteppich entsetzlicher Ereignisse. Der Teller, der ihm auf den Küchenboden der Fairleys gefallen war, die Frau, die das Schüreisen aus dem Messing gestell holte – und wie er nach dem ersten Schlag mit nackten Füßen durch den spritzenden Matsch geflohen war. Er hatte noch immer ihr wahnsinniges Geschrei im Ohr, als er über die Felder gerannt war. Farmer Fairley war unterwegs, Arnold in der Schule. Nur er und die Frau, das Schreien und der größer werdende Abstand.
Als das Haus außer Sichtweite war, kletterte er in einen Graben neben einem Feld, in den er bis zu den Knien einsackte. Dort blieb er, in einem Land voll Wasser und hörte dem Streiten der windgepeitschten Bäume und Hecken zu, zitterte und weinte und betete, dass die Nacht nicht anbrechen würde, dass sie nicht kommen würden. Aber als die riesige graue kalte Himmelskuppel schwarz geworden war, kamen sie doch, wie er es geahnt hatte, leuchteten ihm mit Taschenlampen ins Gesicht und zerrten ihn mit rohen Händen aus dem Graben heraus.
Er schloss die Augen und versuchte die Erinnerungen auszublenden, als der Pferdewagen durch die Dunkelheit ratterte und der Mond sich hinter Wolken versteckte.
Sie hatten ihn mit dem Gesicht nach unten auf den Hof geworfen. Vater, Mutter und Sohn wechselten sich mit der Bestrafung ab. Der Farmer benutzte den Gürtel, die Herrin das Schüreisen und Arnold einen Stock. Der Sohn hatte ihm den Fuß auf den Kopf gestellt, um seine Schreie zu ersticken. Er hatte sich an den Steinchen und dem Matsch verschluckt, die er immer noch in Nase und Mund spürte. An mehr konnte er sich nicht erinnern, und das war auch mehr als genug, jedenfalls bis er den brennenden Schmerz unter seinem rechten Auge spürte und mit der Hand die verkrustete klaffende Wunde auf seiner Wange ertastete.
Wieder sah er Arnold feixen. Denn als dessen Eltern gegangen waren, damit sich ihr Opfer die Wunden lecken konnte, hatte ihn der Sohn unter manischem Gelächter umgedreht und ihm mit einer Scherbe von dem zerbrochenen Teller eine tiefe Furche durchs Gesicht gezogen.
Plötzlich wurde das Pferd langsamer. Sechsundachtzig öffnete die Augen. Zu beiden Seiten zeichneten sich die Umrisse von Gebäuden scharf im Mondlicht ab. Er versuchte sich aufzusetzen, aber seine Verletzungen schmerzten so sehr, dass er sofort wieder zurücksank. Dann sah er die rostigen Tore und war erleichtert, wieder »zu Hause« zu sein. Das Pferd kam zum Stehen. Er schloss die Augen, als man ihn vom Karren trug und auf den Boden legte. Dort lag er mit klopfendem Herzen und pochenden Schmerzen, knirschte mit den Zähnen und tat, als schlafe er. Er war durch mit den schrecklichen Fairleys. Er war frei.
Aber dann wurde er hochgenommen und eine bekannte Stimme durchschnitt die Dunkelheit.
»Bringen Sie ihn in mein Zimmer.«
Und damit fielen seine Hoffnungen in sich zusammen und seine ganze dunkle Welt begann zu schwanken.
Die Stimme gehörte Direktor Keaney.
Schneeflocken stoben gegen das hohe Fenster der Waschküche und schmolzen sofort an den heißen Scheiben. Drinnen spritzte kochend heißes Wasser aus den Hähnen. In dem Wasserdampf konnten die rund dreißig Jungen nur ihre eigenen Arbeitskollegen sehen. Sechsundachtzig und vierundachtzig standen nebeneinander und klopften auf die verknäulten Laken und Kleiderstücke, die sie in der großen Wanne eingeweicht hatten. Ordenstrachten und Sutanen wirbelten ineinander verschlungen herum, in einer Intimität, die die Menschen, denen sie gehörten, stirnrunzelnd abgelehnt hätten – sich windendes Schwarz, schlangenartiges Grün, Goldtöne. Alle Flecken, aller Schmutz verschwand unter den heftig schrubbenden Händen der sündigen Waisenkinder.
Links neben der Wanne stand ein randvoller Korb mit dreckiger Leinenwäsche, rechts eine Lattenkiste für die saubere Wäsche. Die Jungen arbeiteten zu zweit. Sie waren so an die Aufgabe gewöhnt und hatten so viel Angst vor Schwester Marys Stockschlägen, dass sie sich nicht trauten, den Rhythmus zu unterbrechen, noch nicht einmal für eine Sekunde.
Die Nonne lief die Reihen auf und ab, den Rohrstock hinter dem Rücken. Wie ein schwarzes Phantom tauchte sie aus dem Dampf auf und verschwand wieder darin. Sie war eine schlanke Frau mit einem kantigen, grimmigen Gesicht, die ihr Habit eng um sich geschlungen trug, das in der Mitte von der Kordel ihres Ordens gehalten wurde.
Sie sprach selten; der Stock war ihre Stimme. Wenn sie etwas sah, was ihr nicht gefiel, deutete sie mit dem Stock darauf und die Jungen hatten zu erraten, was dort falsch war.
Bittere Erfahrungen hatten sie gelehrt, die Geheimsprache des Stocks deuten zu lernen. Wenn sie auf die dreckige Wäsche im Korb zeigte, hieß es, dass sie nicht schnell genug arbeiteten. Zeigte sie auf die Wanne, hieß es, dass sie nicht kräftig genug schrubbten. Ein lauter Schlag auf die saubere Wäsche in der Lattenkiste hieß, dass sie die Wäsche nicht genügend gespült hatten und sie gefälligst noch einmal spülen sollten.
Sechsundachtzig konnte keine Schläge mehr riskieren. Er war seit drei Tagen wieder im Waisenhaus und seine Wunden begannen gerade zu heilen. Sich über die Waschwanne beugen zu müssen, war Strafe genug. Nachts im Bett lag er auf dem Bauch und weinte sich in den Schlaf, dann betete er darum, dass seine Mutter bald kam, um ihn zu retten. Er stellte sie sich in einem geblümten Kleid vor, wie sie mit langen, wehenden Haaren über eine Gänseblümchenwiese auf ihn zugelaufen kam.
Je länger er auf sie wartete, desto mehr malte er sich die Einzel heiten des Bildes aus, den roten Mund, die gewölbten Brauen über ihren lächelnden blauen Augen. Er roch den frischen Seifenduft, als sie ihn in die Arme nahm, und hörte das Rascheln ihres Kleides. Er war noch nie von irgendwem umarmt worden, doch manchmal hatte er aus dem rattern den Bus heraus Frauen gesehen, die Kinder auf dem Arm trugen, und sehnsüchtig gedacht, wie gut sich das anfühlen musste: Hände, die einen streichelten und nicht bestraften.
Sechsundachtzig und sein Kollege hievten eine schwere graue Decke aus der Wanne und ruckelten sie für den weit geöffneten Schlund der Mangel zurecht. Mit beiden Händen und all ihrer Kraft drehten sie an den sperrigen Rädern. Die Decke war schon zur Hälfte durch, da klopfte ihm jemand scharf auf die Schulter. Er drehte sich erschrocken um und fragte sich, was er falsch gemacht haben konnte.
»Mutter Vincent erwartet dich in ihrem Zimmer. Jetzt.« Die Nonne fixierte ihn mit ihrem kalten Blick. »Na los, Sechsundachtzig.« Sie bedeutete einem anderen Jungen, die Arbeit an seiner Stelle fortzuführen.
Sechsundachtzig klopfte an die Tür der ehrwürdigen Mutter und wartete mit der Kappe bereits in der Hand. Er fragte sich, warum er gerufen worden war, und betete darum, dass man ihn nicht zur Fairley-Farm zurückschicken wollte. Sollte es so sein, würde er sie weinend auf den Knien anflehen.
Eine Novizin, die er noch nie gesehen hatte, führte ihn herein. Mutter Vincent stand am Fenster und ließ ihn wortlos wissen, dass er sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch setzen sollte. Das kam nur selten vor: in Gegenwart einer Nonne sitzen zu dürfen. Auch sie nahm ihren Platz ein.
Das Zimmer war kalt und kahl. Ein Schreibtisch, zwei Stühle, ein grauer Aktenschrank und eine Garderobe. An der graubraunen Wand hinter der Nonne hing ein Porträt von Papst Pius XII. Zu ihrer Linken hatte sich außen auf dem Fensterbrett eine kleine Schneewehe angesammelt.
»Gute Nachrichten für dich, Sechsundachtzig. Ich gebe dich zur Adoption frei.« Sie lächelte ihn an, auch das kam selten vor.
»Kommt meine Mami, Schwester?« Er wünschte es sich so sehr.
»Wo denkst du hin, natürlich nicht«, fuhr sie ihn an, und seine Hoffnung fiel so schnell in sich zusammen, wie sie aufgekeimt war. »Sie hat deine Schwester und dich hier in einer Einkaufstüte abgeladen, als ob ihr Müll gewesen wärt, erinnere dich doch daran. Wahrscheinlich ist sie jetzt auch tot – wie deine Schwester.« Auch das sagte sie ihm lächelnd ins Gesicht. Doch nicht mit dem gütigen Lächeln der Gipsjungfrau in der Kapelle, sondern mit einem in Stein gemeißelten, harten und gefährlichen. »Am besten, du vergisst sie einfach.«
Der Junge weinte.
»Damit hörst du auf der Stelle auf!« Sie schlug mit der Hand auf die Tischplatte und er hörte auf zu weinen.
»Es handelt sich um Bauern. Ein gutes katholisches Ehepaar.« Sie blickte in einen Folianten auf dem Schreibtisch. »Sie wollen einen Jungen, der gut auf einer Farm mitarbeitet. Und du hast dich als gute und zuverlässige Arbeitskraft herausgestellt, Sechsundachtzig. »Sie sah hoch und fixierte ihn anklagend. »Das ist doch richtig, oder etwa nicht?«
»Ja, Schwester.«
»Deswegen hast du es verdient, weiterzukommen.«
»Ja, Schwester.«
»Wir haben weniger Scherereien und die Leute, die dich bekommen, haben einen Nutzen.«
Er starrte auf die gedämpfte weiße Welt vor den Fenstern und ihm wurde schwer ums Herz. So viele unbeantwortete Fragen schwirrten ihm im Kopf herum. Eine große Traurigkeit überkam ihn und innerlich heulte er laut auf.
Doch im Zimmer war es still. Aus der Ferne war der Schlag einer Uhr zu hören. Er schluckte schwer an seinem Kummer.
»Du kommst morgen um drei wieder her. Der Bauer und seine Frau wollen sich mit fünf von euch unterhalten. Allein.«
Der Junge sah Mutter Vincent an, er wusste nicht, wie er seine Frage formulieren sollte. Aber sie konnte seine Gedanken lesen.
»O nein, du bist nicht der Einzige. Sie werden euch alle fünf befragen, aber nur einer von euch wird genommen.«
»Morgen um diese Zeit«, sagte sie. »Wenn sie dich auswählen, wird dies hier für dich bald nur noch eine Erinnerung sein.« Ärgerlich klappte sie den Folianten zu. »Und jetzt, ab an die Arbeit.«