24

Farmhaus
Duntybutt
Tailorstown

Liebe Miss Devine,

Ich fühlte mich sehr geehrt, Ihren Brief zu erhalten und mehr über Sie zu erfahren. Ich glaube auch, dass es gut ist, wenn man ehrlich ist, denn wenn man es nicht ist, kann alles durcheinanderkommen.

Deswegen beantworte ich Ihre Fragen hier auch ehrlich. Es ist gut, dass wir so plus minus gleich alt sind, denn vielleicht verstehen wir Dinge besser, über die ein jüngerer Mensch vielleicht noch gar nichts weiß.

Gut, dass wir nicht so weit voneinander entfernt wohnen, denn ich habe ja nur ein Fahrrad und damit ist dann die Entfernung, wo wir uns treffen, kein Problem, wirklich nicht. Ich habe aber auch einen guten Freund, der mich fahren kann, wenn es also weiter ist, dann wäre es auch kein Problem für mich, falls Sie verstehen, was ich meine.

Sie sind also eine Lehrerin. Ich glaube, das muss eine großartige Arbeit sein und auch schwer, immer mit den Kindern zu tun zu haben, so wie sie heutzutage sind. Aber Sie sagen, dass es Ihnen Spaß macht, und das ist das Wichtigste.

Sie haben mich gefragt, was für Bücher ich gerne lese, und ich muss sagen: vor allem Westernbücher. Vor Kurzem habe ich den »Mann aus Virginia« von Owen Wister und den »Wanderer in der Wüste« von Zane Gray mit viel Vergnügen gelesen.

Sie haben auch gefragt, was ich gerne koche und ich kann sagen, dass ich gerne Kekse backe, vor allem Rosinenkekse und Marmeladentörtchen. Den Aspekt des kulinarischen Prozesses, sie zu backen und zu sehen, wie sie aus dem Ofen kommen, mag ich am liebsten.

Ich mag Andy Williams auch, aber die Songs von James Last kenne ich nicht, aber er muss gut sein, denn Sie als Sängerin von Kirchenliedern wissen ja alles über das Singen und so weiter.

Das ist jetzt erst mal alles, was mir einfällt, Miss Devine. Ich denke, wir können uns bald treffen, wenn Sie wollen. Wenn Sie mir schreiben und mir die Zeit und den Ort mitteilen, werde ich da sein und je eher desto besser, finde ich, denn keiner von uns wird jünger und die Zeit vergeht.

Ich erwarte bald Ihre Antwort.
Mit freundlichen Grüßen
James Kevin Barry Michael McCloone

P.S. Danke, dass Sie meine Handschrift gelobt haben.

Lydia, wieder zu Hause in Elmwood, steckte den Brief in den Umschlag und lächelte. Mr McCloone war vielleicht nicht der allerklügste Kopf, aber seine Ehrlichkeit hatte etwas Bestechendes.

Sie hatte ihm eine kurze Antwort geschickt – wegen der Dringlichkeit seiner letzten Aussage, »denn keiner von uns wird jünger und die Zeit vergeht« – und hatte ihm ein Treffen in zwei Wochen vorgeschlagen. Auch wenn sie ihn sich eigentlich nicht als geeigneten Kandidaten vorstellen konnte, fand sie doch, dass sie ihm wenigstens ein Treffen schuldete.

Ihre Erfahrung mit Frank Xaver McPrunty hatte ihre Erwartungen auf einer Farbskala von sonnenhellem Gelb zu einem Dunkelbraun herunter geschraubt. Wahrscheinlich war es doch keine gute Idee gewesen, auf diese Weise einen Partner kennenlernen zu wollen. Sie war aber auch klug genug, mögliche zukünftige Begegnungen nicht im Licht dieser einen großen Enttäuschung zu sehen. Ja, sie würde Mr McCloone treffen, und wenn es nur aus Neugierde war. Und sie würde sich wieder auf Daphnes Dienste als Anstandsdame verlassen.

Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte erst Viertel nach sieben, zu früh um aufzustehen. Sie ließ sich wieder in die Kissen sinken und freute sich über die Bequemlichkeit und Vertrautheit des eigenen Bettes. Vor drei Tagen waren sie aus Portaluce zurückgekommen und Lydia hatte den Eindruck, dass sie noch mehr Ferien brauchte, damit sie sich von den letzten erholen konnte.

Das Ocean Spray war wirklich ein nobles Haus, aber seiner Pracht und Größe zum Trotz hatte es etwas Nüchternes. Man fühlte sich dort einfach nicht wie zu Hause. Vielleicht lag das an Tante Gladys. Nein, sie war sich sicher, dass es an ihr lag. Meistens lag es nicht an den Orten, sondern an den Menschen, die sie bewohnten.

Lydia hatte die liebe Gladys wirklich in ihr Herz geschlossen, aber sie war sich der Kluft zwischen ihnen bewusst. Es schien keinen gemeinsamen Nenner zu geben, keinen gemeinsamen Boden, auf dem sie sich wirklich kennenlernen konnten.

Gladys liebte die oberflächliche Welt der Mode, sie ging zu Cocktailpartys und traf sich mit Männern, während Lydia sich in der eher nüchternen Welt der Bücher und Pflichten bewegte und sich bemühte, immer das Richtige zu tun. Offensichtlich hatte Gladys, die ältere von ihnen, mehr Spaß. Sie hatte die Kunst, »mal mit dem Leben anzufangen« perfektioniert, und Lydia wusste, dass sie auch »mal mit dem Leben anfangen« wollte.

Als sie das Frühstück für ihre Mutter vorbereitete, hing sie diesen Gedanken weiter nach. Was würde passieren, wenn sie beschloss, die Mauern ihrer engen kleinen Welt einzureißen und »mal mit dem Leben anfing«?

Als sie ein Ei ins kochende Wasser gleiten ließ und Lettie McCleans Eieruhr anstellte, spürte Lydia, dass drastische Veränderungen nicht möglich waren, solange ihre Mutter am Leben war. Wer sollte denn dann all diese eintönigen, aber notwendigen Verrichtungen ausführen, wenn nicht Lydia? Wer würde ihr beim Ankleiden helfen, ihre Zeitschriften besorgen, sie pflegen, wenn sie krank war, sie zu ihren Terminen kutschieren, ihre Fragen beantworten und ihren endlosen Lobreden auf ihren verstorbenen Vater zuhören?

Sie setzte sich gedankenverloren hin, um den Toast zu buttern. Sie war tatsächlich der Fels, auf dem ihre Mutter ruhte, und auf den sie sich zum Überleben und zu ihrer Unterstützung verließ. Aber was, wenn der Fels plötzlich von der Sturzflut des Lebens weggespült wurde? Was sollte dann geschehen?

Von Zeit zu Zeit nagten diese Fragen an Lydia, aber seit einiger Zeit hatte sich etwas verändert. Sie wusste nicht warum – vielleicht war es das Aufgeben ihrer Anzeige gewesen, die Aufforderung ihrer Tante oder die Prophezeiung der Wahrsagerin – doch sie war jetzt erst bereit, sich diesen Fragen zu stellen und zu untersuchen, was sie zu bedeuten hatten.

Wie kamen andere Frauen in derselben Situation wie ihre Mutter zurecht, kinderlose zum Beispiel oder Witwen, deren Kinder früh geheiratet und das Nest verlassen hatten? Die niemanden hatten, der sie umsorgte? Wahrscheinlich mussten diese Frauen sehr stark sein und die harten Lektionen des Lebens lernen. Mut und Unabhängigkeit waren ihnen aus Umständen erwachsen, die sie sich nicht unbedingt selbst gewünscht hatten, aber durch diese Erfahrungen begriffen sie vielleicht, dass es tatsächlich ein viel schlimmerer Zustand sein konnte, an die Bedürfnisse eines anderen gebunden als auf sich selbst gestellt zu sein.

Ihre Mutter und ihre Tante hatten ihre Eltern durch einen Autounfall verloren, als Gladys noch ein Teenager gewesen war; und dieser tragische Vorfall hatte die verwaisten Schwestern gezwungen, schnell erwachsen zu werden. In dieser Zeit taten sie das, was sie für das einzig Mögliche hielten: Sie heirateten den erstbesten Mann und schafften so Ersatz für ihre verstorbenen Beschützer in dieser harten Welt, in die sie so plötzlich hinausgestoßen worden waren.

Unglücklicherweise hatte Elizabeth einen Mann kennengelernt, der sie davon abhielt, die Welt zu entdecken, und so hatte sie all ihre Ängste vor dem Unbekannten und ihre eigenen Beschränkungen auf Lydia übertragen. Gladys aber hatte den lockeren und aufgeräumten Freddie geheiratet.

Lydia erinnerte sich an sein rundes, lachendes Gesicht und daran, wie gerne er mit ihr gespielt hatte, als sie ein Kind gewesen war. Er war so anders als ihr Vater gewesen: ein freier, fröhlicher Geist, der sich gerne vergnügte und gute Laune versprühte.

Wie interessant, dachte sie, dass wir die Eigenarten derjenigen, die uns nahestehen, annehmen und reproduzieren, als seien wir wandelnde Spiegelbilder. Ob sie uns nun gut getan haben oder nicht. Unsere Freiheit liegt darin, uns das bewusst zu machen und uns von den Vorspiegelungen abzuwenden, die nicht gut für uns waren.

Der Toast war kalt geworden, aber sie wollte ihn trotzdem servieren. Ihre Mutter knabberte sowieso höchstens eine Ecke an.

Sie ging mit dem Tablett die Treppe hoch und betrat das stille Schlafzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen und sie konnte kaum die Umrisse der Möbel erkennen, aber das machte ihr nichts. Sie kannte den Raum so gut, dass sie die Kommode, auf der sie das Tablett immer abstellte, ohne Schwierigkeiten fand.

»Guten Morgen, Mutter!«, sang sie und zog die Vorhänge zurück. »Zeit aufzuwachen.«

Im Bett regte sich nichts.

Ungewöhnlich.

Lydia runzelte die Stirn. Panik stieg in ihr auf. Sie rannte zum Bett und schlug die Decke zurück.

»O mein Gott! Nein!«

Das Gesicht der alten Dame war von einem tödlichen Grün. Lydia keuchte.

»Oh, bitte, lieber Gott, bitte! Es tut mir so leid, was ich eben gedacht habe!« Sie begann zu weinen. »Ich habe das alles überhaupt nicht so gemeint! Bitte, lieber Gott, lass meine Mutter nicht ...« Sie konnte den Satz nicht beenden, traute sich nicht, das letzte Wort auszusprechen, damit ihre Äußerung die Situation nicht zu einer Tatsache machte.

Zitternd legte sie eine Hand an den Hals der Mutter und fühlte nach ihrem Puls. Ihre Haut war warm. Sie seufzte erleichtert, sie spürte auch einen schwachen Herzschlag.

»Gott sei Dank.« Sie deckte ihre Mutter wieder zu und rannte zum Telefon nach unten im Flur.

Die Stimme der Sprechstundenhilfe war hart und geschäftsmäßig. »Praxis Dr. Lewis, guten Morgen.«

»O bitte! Hier spricht Lydia Devine.« Sie fing wieder an zu weinen.

»Beruhigen Sie sich. Was ist denn los?« In der Stimme der Frau klang kaum Mitgefühl.

»Es geht um meine Mutter«, brachte Lydia weinend hervor. »Es geht ihr sehr schlecht. Ich glaube, dass sie vielleicht ...« Sie konnte nicht mehr weitersprechen.

»Atmet sie?«

»Ja, aber nur ganz schwach.«

»Gut. Bleiben Sie bei ihr. Sprechen Sie mit ihr. Der Arzt wird gleich bei Ihnen sein.« Sie legte auf.

Lydia legte zitternd auf und lehnte sich gegen die Wand.

Die Zeit zwischen dem Telefonat und der Ankunft des Arztes kam Lydia endlos vor. Sie versuchte zu begreifen, was geschehen war. Sie saß am Bett der Mutter, hielt ihre Hand und versuchte, durch ihre Tränen mit ihr zu sprechen. Elizabeths Augen waren geschlossen, ihr Atem ging so flach, als halte sie sich in einem Reich nicht von dieser Welt auf, in dem fremde Regeln und Gesetze galten.

Als es schließlich klingelte, war sie so tief in ihre Trauer abgetaucht, dass sie es überhörte. Doch die Klingel schellte hartnäckig durch das Haus und schließlich tauchte Lydia so weit auf, dass sie das Geräusch erkannte und auch realisierte, warum so stürmisch geklingelt wurde. Sie eilte die Treppe hinunter. Ein Fremder stand auf der Schwelle.

»Ich bin Dr. O’Connor. Ich vertrete Dr. Lewis.« Er streckte die Hand aus.

Lydia starrte einen ziemlich großen und schrecklich dünnen Mann mit einem traurigen, aber gut aussehenden Gesicht an. Sicherlich hatten lange Jahre der Behandlung von Kranken und Gebrechlichen und das Überbringen schlechter Nachrichten und Prognosen sein Gesicht gezeichnet. Ein Arzt, der auch gerufen wurde, wenn jemand im Sterben lag.

»Ich bin Lydia«, sagte sie unsicher. »Lydia Devine. Meine Mutter ist oben.«

Er strahlte Autorität und Professionalität aus und ging vor ihr mit gemäßigten Schritten die Treppen hoch.

»Wie heißt sie?«, fragte er und beugte sich über das Bett.

»Elizabeth.« Lydia stand mit zusammengepressten Händen an der anderen Bettseite und starrte auf ihre Mutter hinab. »Wird es ihr bald wieder besser gehen?«

Er antwortete nicht, sondern nahm ein Stethoskop aus der Tasche und prüfte ihren Puls, wobei er zwischen seiner Armbanduhr und der Patientin hin- und hersah. Dann richtete er sich wieder auf und legte das Stethoskop zur Seite.

»Wie ist es ihr in der letzten Zeit gegangen?«

»Sie war müde. Wir sind gerade von einem einwöchigen Urlaub zurückgekommen und dort ist mir schon aufgefallen, dass sie viel geschlafen und wenig gegessen hat.« Der Arzt sah sie direkt an. Lydia zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel – ihr war plötzlich bewusst, wie schrecklich sie aussehen musste. Merkwürdig, dachte sie, als würde jemand anderes ihre Gedanken abläufe überwachen, dass wir uns zu den unpassendsten Zeiten Gedanken um unser Aussehen machen. »Manchmal hat sie über Schwindel geklagt.«

»Tja. Sie muss sofort ins Krankenhaus.« Er nahm die Tasche und ging zur Tür. »Ich muss einen Krankenwagen rufen.«

Er wählte die Nummer auswendig, gab ein paar kurze Anweisungen und hängte wieder auf.

»Der Krankenwagen ist in fünfzehn Minuten hier.«

Lydia begann wieder zu weinen. »Sie stirbt, oder?«

Er legte ihr behutsam die Hand auf den Arm und sein Mitgefühl stärkte sie, auch wenn sie das bei seinem strengen Äußeren gar nicht erwartet hätte.

»Hier stirbt niemand«, sagte er sanft. »Aber Sie müssen sich setzen, Mrs Devine.«

»Miss«, korrigierte sie ihn – und fragte sich sofort, ob das zu aufdringlich geklungen haben könnte.

Sie gingen ins Wohnzimmer, wo er sich in einen Lehnstuhl setzte und Lydia auf das Sofa.

»Ihre Mutter hat einen Schlaganfall gehabt. Die nächsten achtundvierzig Stunden sind jetzt ausschlaggebend.«

»Sie meinen, sie könnte sterben?«

Sie sah ihn genau an, während sie auf das Schlimmste wartete. Ihr fielen der nachlässig gebundene Knoten seiner grauen Krawatte und das ungebügelte Hemd auf. Er hat offensichtlich keine Frau, die sich um so etwas kümmert, dachte sie – und schämte sich sofort für ihre ungehörigen Gedanken an diesem schicksalhaften Morgen. Sie spürte, wie sie rot wurde.

»Es kann sein, aber es ist noch zu früh, um das zu sagen. Meine Mutter hatte vor einigen Jahren auch einen, aber sie ist durchgekommen.«

Lydias Gesicht hellte sich auf. »Und sie lebt noch?«

»Leider nicht. Sie ist letztes Jahr an einem Herzinfarkt gestorben.« Lydia starrte ihn an. Er musste Anfang vierzig sein. »Meine Mutter war zweiundachtzig«, sagte er. »Eltern werden alt, sie sterben. Wir müssen uns damit auseinandersetzen.«

Das fand sie sehr direkt und kalt. Er schien sie auf das Schlimmste vorbereiten zu wollen. Wie konnte er nur so herzlos sein? Allerdings musste sie sich auch eingestehen, dass man in dem Beruf lernen musste, sich zu distanzieren; wenn man sich gefühlsmäßig allzu sehr auf seine Patienten einließ, würde die Arbeit auch darunter leiden. Sie mochte Dr. O’Connor trotzdem nicht. Er musste ihr das angesehen haben, denn jetzt widmete er seine volle Aufmerksamkeit seinen Händen.

»Oh, das tut mir leid«, sagte sie. »Das mit Ihrer Mutter.«

»Danke«, sagte er lächelnd. »Aber so ist das Leben.« Er sah aus dem Fenster, dann auf seine Uhr. »Sie sind da. Zehn Minuten. Sehr gut!« Er stand auf, als der Krankenwagen die Einfahrt hochgefahren kam.

»Nehmen Sie lieber einen Mantel mit. Sie können hinten mitfahren.«

Drei Stunden später saß Lydia auf einem Plastikstuhl im Wartesaal des Krankenhauses, einem großen, freudlosen Raum. Auf einem niedrigen Tisch in der Mitte lagen zerlesene alte Zeitschriften. Und oben in einer Ecke lief auf einem Fernseher eine ultrabrutale Zeichentrickserie für Kinder.

Seit Lydia dort wartete, waren schon einige Menschen gekommen und gegangen, aber sie hatte sie kaum wahrgenommen. Sie hatte die Hände in den Taschen ihres Jacketts vergraben und starrte auf den Boden. Ihr schien, als sei ihre Mutter bereits tot, sie war sich sicher, dass es nie wieder wie früher werden würde.

Sie war so froh, dass sie den kleinen Urlaub bei Gladys gemacht hatten. Wie hätte sie auch wissen sollen, dass es ihr letzter sein würde. Eine Träne rollte ihr die Wange herunter und fiel auf ihre Bluse. Sie folgte ihrer Spur, dann schloss sie die Augen. Sie dachte an ihre einsame Zukunft – und je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr weinte sie. Die Realität des Wartesaals und der Menschen um sie herum hatte sie ausgeblendet. Bis sie eine kleine klebrige Hand auf der ihren spürte. Sie wischte die Tränen weg; ein kleines Mädchen von vier oder fünf Jahren sah sie aus großen blauen Augen von unten an. Lydia lächelte und nahm ihre Hand.

»Was für ein schönes Mädchen du bist! Wie heißt du?«

»Sa ... rah.« Sie schob ihren dunklen Pony zur Seite und rieb sich mit der Faust das rechte Auge.

»Was für ein schöner Name. Und wo ist deine Mami, Sarah?«

»Da drüben.« Das kleine Mädchen zeigte auf eine junge Frau, die sie von der anderen Seite des Raumes anlächelte. Lydia lächelte zurück.

»Du traurig«, sagte Sarah fast anklagend und riss sich los. Bevor Lydia antworten konnte, rannte sie zum Tisch und kam mit einer zerfledderten Ausgabe des National Geographic zurück, die sie ihr in den Schoß warf.

»Danke, Sarah.«

»Miss Devine?«

Lydia wandte sich erschrocken um. Die ernste Schwester hinter dem Empfangstresen hatte sie gerufen.

»Dr. Bennett möchte jetzt mit Ihnen sprechen. Die zweite Tür links, den Flur hinunter.«

Lydia stand auf. Vom langen Sitzen waren ihre Beine ganz taub geworden. Sie beugte sich zu dem kleinen Mädchen hinunter.

»Tschüs Sarah. Wenn ich wiederkomme, lese ich dir was aus der Zeitschrift vor.«

Das Mädchen sah zu ihr auf und nuckelte am Zeigefinger. Lydia tätschelte ihr den Kopf.

Das kleine Mädchen jammerte hinter ihr her, als sie weinend den Saal verließ, um zu erfahren, was ihr der Kardiologe mitzuteilen hatte.

Auf dem Heimweg im Taxi war sie etwas hoffnungsvoller gestimmt. Mr Bennett hatte ein sogenanntes Vorhofflimmern diagnostiziert und erklärt, dass es nicht selten vorkam, vor allem nicht bei alten Leuten, bei denen das Herz nicht mehr mit ganzer Leistung arbeitete. Eine Folge konnte sein, dass sich Blutgerinnsel bildeten. Und so ein Gerinnsel hatte sich bei ihrer Mutter gelöst und sich in einer Arterie festgesetzt, die zum Gehirn führte – so war es zu dem Schlaganfall gekommen.

Ihre Mutter lag auf der Intensivstation und war noch immer ohne Bewusstsein. Man hatte Lydia einen kurzen Besuch erlaubt, bei dem sie nicht viel mehr tun konnte, als der komatösen Patientin Mut zuzusprechen und ihrer Liebe zu versichern. Sie würde wohl eine Weile dortbleiben müssen, sagte man Lydia, je nachdem, wie sie auf die Behand lung reagierte. Es war ja gerade erst passiert, hatte der Kardiologe gemeint, und das hatte wie ein Echo der ominösen Aussage von Dr. O’Connor zu den ersten achtundvierzig Stunden geklungen.

Man hatte ihr geraten, nach Hause zu fahren und den weiteren Verlauf in Reichweite des Telefons abzuwarten.