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»Mr McCloone, bitte kommen Sie mit.«

Jamie war in die Seiten des Mid-Ulster Vindicators versunken und hörte die Aufforderung nicht. Er lutschte ein Zimtbonbon und las erstaunt die »Einsame Herzen«-Rubrik durch. So viele gesichtslose Frauen buhlten um seine Aufmerksamkeit, so viele Frauen wollten zu jemandem gehören. So etwas hatte er noch nie gesehen.

»Mr McCloone!«

Jamie zuckte zusammen. Er stellte sich so ungeschickt beim Zusammenlegen der Zeitung an, dass ihm einzelne Blätter herunterfielen. Nervös und mit rotem Gesicht ging er in die Hocke, um sie wieder aufzuheben, und nun kam Miss Mulligan, die Sprechstundenhilfe, auch noch auf ihn zu. Kaum hatte er die letzten Seiten aufgehoben, da sah er schon ihre schwarz lackierten Fußnägel und dicken Knöchel. Er schielte hoch. Sie sah ihn über ihre halbmondförmige Lesebrille direkt an.

»Bitte kommen Sie jetzt, Doktor Brewster wartet.« Sie betonte jedes Wort und beugte sich zu ihm herab wie zu einem Kind, einem älteren Mitbürger oder, ja tatsächlich, wie zu einem Idioten.

»Is ja gut, Miss Mulligan, is ja gut!«

Er rollte die Zeitung zusammen und stopfte sie in die Tasche seines Jacketts, bevor er ihr ins Arztzimmer folgte.

Dr. Humphrey Brewster, ein großer Mann mit bläulichem Kinn und den Augen eines Cocker Spaniels, sah nicht auf, als die Tür geöffnet wurde, sondern kritzelte weiter irgendetwas in sein Notizbuch. Jamie setzte sich in den leeren Stuhl, legte die Hände auf die Knie und sah sich den kahlen Kopf des Arztes an.

Er fühlte sich, als säße er vor dem Trenngitter des Beichtstuhls und wiederholte die ewiggleiche Litanei seiner Sünden. Er hatte auch jetzt wieder so ein dunkles Gefühl der Vorahnung, das ihn oft fast dazu brachte, aus dem Beichtstuhl zu fliehen. Vater Brannigan langweilte sich jedenfalls schrecklich, wenn er sich das immergleiche öde Geschwafel anhören musste, und wollte nur nach Hause – zu seinen Hausschuhen, zu den Kartoffelpfannkuchen und dem in Guinness geschmorten Rindfleisch, sodass er dem Büßersermon auf der anderen Seite bald Einhalt gebot.

Jamie starrte die vielen verschiedenen krebsähnlichen Warzen und Gewüchse unter dem spärlichen Haar des Arztes an und wartete darauf, dass das »Gitter« zur Seite geschoben wurde und der Arzt ihm in die Augen sah.

Schon allzu bald kam der gefürchtete Moment. Der kratzende Füller wurde verschlossen, die Brille abgesetzt. Dr. Brewster lehnte sich in seinem Lederstuhl zurück und verschränkte die Finger über seinem dicken Bauch.

»Also, James, was kann ich heute Morgen für Sie tun?«

»Ach, wissen Sie, Doktor, ich habs jetzt schon eine ganze Weile im Rücken. Sieht so aus, als würd ichs gar nicht mehr los.«

»Und wo sitzt der Schmerz genau?«

»Äh, im Rücken.«

»Ja, das hab ich schon verstanden! Könnten Sie vielleicht etwas genauer sein?« Der Arzt setzte die Brille auf und beugte sich vor. »Wo genau ... oben, unten, in der Mitte?«

»Ach so, jetzt verstehe ich. Unten. Macht mir morgens Angst. Ehrlich, es gibt Tage, an denen komme ich kaum aus dem Bett.«

»Oje! Morgens ist es also schlimmer?«

»Ja, viel schlimmer.«

Dr. Brewster war etwas verkatert und litt unter Verstopfung. Er hatte es satt, dem Stöhnen und Ächzen der Landeier von Tailorstown zuzuhören. Er sah Jamie direkt an, sah einen Mann vor sich, der wie ein Loch soff und wie ein Ofenrohr qualmte, und entschied wider besseres Wissen, dass er nicht aufstehen und Jamie eingehend untersuchen würde.

»Hört sich nach einem eingeklemmten Ischias an«, sagte er und griff nach Rezeptblock und Stift. »Nichts Schlimmes.«

»Ischi ... was, Doktor?«

»Ischias, James. Kommt vom Heben schwerer Gegenstände in Verbindung mit einem Mangel an Sport.« Seine Augen wurden schmal, er sah ihn vorwurfsvoll an. »Was haarscharf zu dem Hof und Ihrem Lebens stil passen würde.«

Er schrieb etwas auf. »Strahlen die Schmerzen in das Gesäß oder in die Genitalregion aus?«

»In die ... in der wo, Doktor?«

»In die Arschbacken oder die Weichteile, Mann.« Der Arzt deutete mit dem Stift auf Jamies entsprechende Körperregionen.

»Ach so, da unten. Nee, da merk ich gar nix ... überhaupt gar nix«, fügte er gedankenvoll hinzu.

Der Arzt betrachtete ihn über seine Brille hinweg. »Aha. Wie alt sind Sie jetzt, James?«

»In diesem Mai bin ich einundvierzig geworden.«

»Sie sind noch jung, James. Sie sollten mehr ausgehen. Mal einen kurzen Urlaub an der See machen. Gutes Essen, Meeresluft ... Würde Ihnen richtig guttun ...«

»Aber wer soll sich dann um alles kümmern? Sie wissen doch selbst, dass ich die Kühe und das Heu und alles nich einfach im Stich lassen kann.«

»Unsinn! Wohnt Paddy McFadden nicht ein Stück die Straße runter? Paddy ist einer, dem man vertraut ... Portaluce heißt der Ort.«

Dr. Brewster schrieb irgendetwas auf seinen Block, wobei sein Mehrfachkinn vor Anstrengung bebte. »Nehmen Sie das Valium noch?«

»Ja, Doktor.«

»Hilft es Ihnen denn?«

»Doch, schon.« Jamie sah niedergeschlagen auf den Fußboden. »Aber Mick bringt es nicht zurück.«

Der Doktor bemerkte Jamies plötzlichen Stimmungswechsel, hörte auf zu schreiben und legte den Stift beiseite. »Ich weiß, James. Es muss sehr schwer für Sie sein ohne Ihren Adoptivvater«, sagte er freundlich. »Aber wissen Sie, die Zeit heilt alle Wunden. Und die Pillen werden Ihnen helfen. Wie lang ist es jetzt her?«

»Zehn Monate, zwei Wochen und fünf Tage. Gott, ich hab mir nie vorgestellt, dass er mal stirbt. Wo ich ihn tot gefunden hab, an dem Morgen, wollte ich auch sterben.« Er knetete die Kappe in den Händen. »Manchmal geht es mir immer noch so.«

»Na, wer wird denn schon so was sagen, James. Ich weiß, dass es hart war für Sie. Aber Sie sind zäh, und Sie machen Fortschritte.«

»Aber ich brauche jemand zum Reden, Doktor. Und hab nur den kleinen Shep ... Mick war immer für mich da, wir haben über alles geredet.«

Dr. Brewster zog ein Taschentuch hervor und putzte seine Brille langsam und bedächtig. »Hm ... deswegen hab ich Ihnen ja auch vorgeschlagen, dass Sie mal an die See fahren. Da kommen Sie auf andere Ge danken. Und man kann nie wissen, wen man kennenlernt.« Er steckte das Taschentuch ein und setzte die Brille wieder auf. »Wissen Sie, James, es gibt so viele Menschen in Ihrer Lage, vor allem Frauen in Ihrem Alter, die ihre Eltern gepflegt haben, und wenn die Eltern gestorben sind, entdecken sie plötzlich, dass niemand mehr da ist. Sie sind schließlich erst einundvierzig. So eine Frau wäre doch froh, einen Mann wie Sie kennenzulernen.«

»Ach, Gott, glauben Sie das wirklich, Doktor?« Jamies Stimmung hellte sich auf. »Wissen Sie, Paddy und Rose haben auch gemeint, ich soll versuchen, wen kennenzulernen. Aber ich weiß nich ... wenn mich eine Frau ansieht, dann weiß ich doch gar nich, was ich sagen soll.«

»Ach James, allein diese Tatsache macht Sie schon zum idealen Ehemann. Frauen schätzen nichts mehr als einen stummen Mann; die meisten von ihnen könnten sowieso für ganz Irland sprechen, meine eigene Frau inbegriffen.«

Dr. Brewster lachte und Jamie lächelte ihn an.

»Gut so, James. Versprechen Sie mir jetzt, ein paar Tage Urlaub zu machen?«

»Ja, das tue ich, Doktor!«

»Gut. Sehr gut.« Der Arzt nahm den Füller in die Hand und schrieb weiter. »Ich verschreibe Ihnen Schmerztabletten. Nehmen Sie zwei davon am Abend vor dem Schlafengehen, die sollten die Schmerzen am Morgen erträglicher machen.«

Er riss das Rezept vom Block und reichte es Jamie herüber.

»Das mit meinem Rücken is also nich so ernst, Doktor?«

»Nein, nichts Ernstes. Gladys Millman. Pension Ocean Spray.«

»Was?«

»Auf der Promenade. Es soll das Beste am Ort sein.«

»Ach so. Danke, Doktor.«

Jamie stand auf, dankbar, dass die Prüfung vorbei war, der Arzt ihn nicht untersucht und auch nicht nach seinen Rauch- und Trinkgewohnheiten gefragt hatte.

»Dann geh ich jetzt«, sagte er erleichtert. »Ocean Spray, heißt es so?«

»So heißt es. Kopf hoch, James!« Dr. Brewster stand auf und begleitete ihn zur Tür. »Und nehmen Sie die Pillen. Dann müssen Sie nicht so viel grübeln. Es ist wichtig, dass Sie sie nicht absetzen, ohne mir Bescheid zu geben.« Er tätschelte ihn am Arm. »Und wenn Sie aus Portaluce zurückkommen, berichten Sie mir davon. Abgemacht, James?«

»Ja, abgemacht, Doktor. Sie haben bestimmt recht. Tschüssing!«

Lydia parkte ihren zweitürigen Fiat 850 vor dem Frisiersalon Cut ’n Curl auf der Hauptstraße von Killoran und half ihrer Mutter aus dem Beifahrersitz. Das war sehr umständlich, denn Mrs Devine hatte Rheuma, wollte sich aber partout von niemandem helfen lassen. Lydia bemühte sich rund fünf Minuten, die sich sträubende, wehrhafte, alte Dame zu fassen zu bekommen, und schließlich standen beide auf der Straße, die Autotür wurde zugeworfen und sie machten sich langsam und vorsichtig auf den Weg in den Salon.

Susan, die junge Friseurin, sprach sofort freundlich auf Mrs Devine ein; sie wollte sie so schnell wie möglich aus dem Mantel und ans Waschbecken bekommen. In Susans Branche war Zeit Geld, und Elizabeth konnte manchmal ganz schön anstrengend sein und hielt sie mit ihren langatmigen Geschichten und Erinnerungen an längst vergangene Zeiten endlos auf; Geschichten, in denen die Meinungen ihres verstorbenen Gatten, des Pfarrers Perseus Cuthbert, und die Unzulänglichkeiten der jungen Generation immer eine übergeordnete Rolle spielten.

Da ihre Mutter nun in guten Händen war, erinnerte sich Lydia an ihre Verabredung. »Ich hole dich in zwei Stunden wieder ab, Mutter, so gegen ...« Sie schob den Ärmel des Jacketts zurück und sah auf die Uhr. »Um Punkt halb vier. Das langt doch für Dauerwelle und Tönung, Susan?«

»Ja, das kommt hin, Lydia«, rief die Friseurin über die Schulter, während sie Elizabeth bereits zum Waschbecken steuerte. »Die Farbe muss eine halbe Stunde einwirken.«

»Wohin gehst du?«, fragte Mrs Devine ihre Tochter. »Warum bleibst du nicht hier bei mir?«

»Mutter, ich hab es dir doch schon gesagt: Ich habe etwas vor.« Und damit floh sie.

Lydia fuhr erleichtert nach Hause zurück und war froh, etwas Zeit für sich zu haben. Nur in diesen Intervallen, in denen ihre Mutter nicht da war, konnte sie das Alleinsein und die Stille richtig genießen. Sie sehnte sich oft nach einem freien und unabhängigen Leben und träumte von einem ruhigen Ort, an dem sie niemandem außer sich selbst Rechenschaft ablegen musste. Andererseits traute sie sich nicht, sich eine solche Zukunft auszumalen, denn erst musste ja etwas Einschneidendes eintreten. Sie fürchtete sich auch vor dem Tag, an dem ihre Mutter sie nicht mehr rufen würde, an dem sie nicht mehr gebraucht werden würde, um »den dunklen Weg durch das Kleid« zu finden, an dem sie kein Frühstückstablett mehr ins Zimmer der alten Dame bringen musste.

Die Bedürfnisse ihrer Mutter kamen immer zuerst, und das stellte Lydia selten infrage. Gehorsam und Fügsamkeit waren ihr vor vielen Jahren vom strengen presbyterianischen Vater eingebläut worden, dessen unbeugsamer Geist selbst nach seinem Tod fortlebte. Seine donnern den Predigten hallten durch ihre Tage und das angsterregende Bild von ihm mit geblähten Nasenflügeln auf der Kanzel, die großen Hände fest ums Bibelpodest geklammert, stand ihr so klar vor Augen wie der Druck von Vermeer, der im Wohnzimmer hing. Als Einzelkind hatte sie sich ganz dem vierten Gebot – Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren – verschrieben. Aus dem hilflosen, gehorsamen kleinen Mädchen war im Nu eine selbstlose Dienerin geworden, die treu die Aufgaben einer Krankenschwester und Köchin, eines Zimmermädchens und Gärtnerin, einer Aufwartefrau und Verwalterin erledigte – und noch dazu all die anderen Pflichten, die ihre anspruchsvollen Eltern ihr auftrugen. Was für ein Geschenk sie doch war! Die formbare, pflichtbewusste Tochter eines selbstgerechten, autoritären Paares.

Sie fuhr in die Einfahrt von Elmwood House und schaltete den Motor aus. Eine Zeitlang saß sie nur da, massierte sich die schmerzenden Schläfen und starrte auf das respektable, efeuberankte Pfarrhaus, in dem sie groß geworden war. Es barg all ihre Erinnerungen – aus der Kindheit, der Jugend und der Zeit als erwachsene Frau. Sie dachte an das Kind, das sie einmal gewesen war und wie sie Schritt für Schritt reifer wurde. Wie naiv hatte sie damals auf die große, noch unbekannte Zukunft geblickt, die ihre Eltern bereits genauestens für sie geplant hatten. Was für eine Chance hatte sie denn schon gegen deren Autorität und gesunden Menschenverstand gehabt? Die beiden waren übereingekommen, dass Lehrerin ein ehrbarer Beruf war, und Lydia hatte sich willig gefügt. Was hätte sie denn sonst machen sollen? Eigentlich wollte sie Kosmetikerin oder sogar Friseurin werden, aber sie hätte sich nicht getraut, diesem Wunsch Ausdruck zu verleihen. Ihr Vater hätte ihn als seiner Tochter nicht würdig, als eitel und leichtsinnig abgetan.

Ja, ihr Vater: ihr hartnäckiger, starrsinniger Vater. Sie wollte sich lieber nicht eingestehen, wie viele Jahre sie nach seinen hohen Ansprüchen gelebt hatte. Er hatte die enge kleine Kiste gebaut, in der sie ihr Leben verbrachte, seine Ansichten und Grundsätze hatten dort alle einen festen Platz und er hatte den Deckel mit seiner selbstgerechten Argumentation zugenagelt. Ihr ganzes Leben hatte sie sich eingeengt gefühlt. Jetzt, wo er fort war, wollte sie sich strecken und recken, die Wände einreißen und ausbrechen.

Sie blickte starr auf das Haus, das Gefängnis, die Kiste, in der sie groß geworden war, und fragte sich, wann aus dem Kind eigentlich eine Erwachsene geworden war. Denn für Lydia hatte es keinen besonderen Moment gegeben, keine Linie, die sie überschritten, kein Flatterband, das sie durchschnitten hatte. Ihr schien, als habe sie immer unter einem disziplinarischen Hagel von »Nein« und »Niemals« gelebt, und oft fühlte sie sich wie eine Minderjährige ohne Welterfahrung.

Sie war vierzig und hatte nie mit jemandem geschlafen, nie Alkohol getrunken, war noch nie geflogen oder in einem schnellen Auto gefahren. Wie hatte ihre Erziehung wohl ihre Vorlieben und Abneigungen geprägt, fragte sie sich. Sie hatte nicht das Bedürfnis, im Meer zu schwimmen, sich am Strand oder Pool zu sonnen; sie mochte keine ärmellosen kurzen Kleider, die die Knie freiließen. Sie fürchtete sich vor Hunden, seit der Drahthaarterrier des Nachbarn über den Zaun gesprungen war und sie gebissen hatte. Da war sie ein Kleinkind gewesen; doch die Narbe am linken Knöchel zeugte noch davon. Sie ließ sich nicht gerne in der grellen Sonne fotografieren und ging nie ohne Sonnenbrille, Regenschirm und sauberes Taschentuch im Ärmel vor die Tür. Sie hatte nie zu Livemusik getanzt. Aber sie hatte sich in ihrem Schlafzimmer zu Andy Williams gedreht. Bei gedämpfter Lautstärke, damit ihr Vater sie nicht hörte. Denn der hielt Popmusik für den »Kehrreim des Teufels«.

Sie mochte kein gekauftes Brot, keine Maiskolben, keine Tomaten mit Käse – von all dem wurde ihr übel. Sie aß nie etwas zwischen den Mahlzeiten oder im Stehen, so konnte sie ihre jugendliche Figur halten. Sie hasste Menschenansammlungen und ging frühmorgens einkaufen, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Sie war überpünktlich, kam nie zu spät zu einer Verabredung und konnte es nicht ausstehen, wenn jemand sie warten ließ. Sie glaubte an die lenkende Hand Gottes, ging jeden Sonntag zum Gottesdienst, kannte fast alle Kirchenlieder und konnte alle siebenundzwanzig Kapitel des Levitikus auswendig aufsagen.

Kurz, sie war die Tochter ihres Vaters, und er hatte erst sterben müssen, bevor ihr bewusst wurde, dass sie ein Widerspruch in sich war. Vielleicht konnte sie nun endlich zu dem Menschen werden, von dem sie träumte. Sie öffnete die Autotür mit neuer Entschlossenheit. Zeit, sich zu ändern, dachte sie und schlug die Tür zu. Die Raben auf der Ulme im Vorgarten schimpften laut.

In der Küche machte sie sich ihr eigenes Frühstück, das sie aus Rücksicht auf ihre Mutter zurückgestellt hatte. Sie hatte fast zwei Stunden für sich, während Elizabeth sich die Haare machen ließ. Die Friseurin war für ihre Mutter das, was für andere ihr Drink war. Oder andere Schwächen. Sich frisieren zu lassen war eine der wenigen Vergnügungen, die ihr noch blieben.

Lydia setzte sich an den Tisch, breitete die Serviette aus, goss sich Tee ein und ließ goldenen Honig aus einem wabenförmigen Glas auf den Toast träufeln. Auf einmal wurde sie sich der Einsamkeit bewusst, doch in dem ruhigen, hellen Zimmer gab sie ihr Kraft. Zwischen den Geräuschen schwoll die Stille an: zwischen dem Verkehr, der auf der Straße vorbeirauschte, dem Weinen eines Kindes aus dem benachbarten Haus, dem Geklapper hoher Absätze auf dem Bürgersteig. Noch näher war das leiser werdende Pfeifen des Kessels auf dem Herd, das Klirren ihrer Tasse auf dem Porzellanunterteller, das Brummen des Kühlschranks in der Ecke, ihr eigenes Schlucken.

Ihr fiel auf, mit wie vielen Erinnerungsstücken die Küche ihrer Mutter zugestellt war, und einen Moment lang war sie wieder ganz in ihre Kindheit abgetaucht, die sie so gerne vergessen wollte. All die Nippsachen an den Wänden und auf den Regalen ließen sie wieder an die Ereignisse denken, in deren Folge sie dort hingestellt worden waren. Lydia wusste, dass dieser Plunder nicht weggeworfen werden konnte, bevor ihre Mutter gestorben war. Ihre Verbindungen zur Vergangenheit.

Der auferstandene Christus sah freundlich von seinem goldgerahmten Druck auf sie herab. Sie hatte ihn ihren Eltern als Zwölfjährige zum Hochzeitstag im Good Shepherd gekauft. Damals hatte ihr der Mann hinter der Theke des Buchladens Angst eingejagt. Sie erinnerte sich an seine tief in den Höhlen liegenden Augen, den langen weißen Bart und seinen violetten Mund. Er sah selbst aus wie der auferstandene Christus. Das Wechselgeld hatte er ihr mit langen bleichen Fingern in die geöffnete Handfläche gezählt und »Gelobt sei Gott, mein Kind« gekrächzt, woraufhin sie zur Tür hinausgestürzt war.

Ihre Eltern hatten beim Auspacken des Bildes beifällig gelächelt. Ihr Vater hatte aus dem Nichts Hammer und Nagel herbeigezaubert und das Bild an der Wand befestigt. Und da hing es nun seit achtund zwanzig Jahren. Wahrscheinlich hing das Porträt der lächelnden Königin Elizabeth darunter auch schon so lange dort, ebenso wie die aufgefächerten Souvenir löffel von Reisen an die Küste und der verblasste Wand teppich mit den Vögeln, die über ihre verschwommenen Spiegelbilder auf einem Teich flogen – wie alt er war und wem er gehört hatte, wusste sie nicht, aber sie glaubte, dass es sich um ein weiteres kostbares Hochzeitsgeschenk handeln musste.

Ihr schien, dass jedes einzelne Zimmer sie in irgendeine rührselige Falle locken konnte.

Der Einwurf von Post holte sie in die Gegenwart zurück. Sie ging in den Flur und sammelte die Briefe auf, die auf der »Segne dieses Haus«-Matte lagen.

Eine Rechnung von den Stadtwerken, eine Wurfsendung von Gallaghers Möbelhaus (zwanzig Prozent auf alle Sitzgruppen aus Velours) und ein steifer Pergamentumschlag, in dem bestimmt eine Grußkarte steckte. Sie warf die Werbung weg, steckte die Rechnung in Onkel Sinclairs Holzkatze auf dem Fensterbrett in der Küche und setzte sich wieder an den Tisch, um den Brief zu öffnen.

Es war eine goldgeränderte Einladung zur Hochzeit ihrer alten College freundin Heather Price. Meine Güte, mit der hatte sie doch seit Jahren kein Wort mehr gewechselt!

Herbert und Henrietta Price
geben sich die Ehre
Lydia Devine & Partner
zur Hochzeit ihrer Tochter Heather mit Mr Simon Taylor am 28. August 1974 in der Gemeindekirche St. Hilda und zum anschließenden Empfang in das Ross Park Hotel, Main Street, Killoran, einzuladen.

Lydia las die Einladung mit wachsendem Unbehagen. Es war das Wort »Partner«, das ihr Beklemmungen verursachte. Ihre alten Freundinnen schienen jetzt alle verheiratet zu sein, nur sie nicht. Sie hatte bereits an zu vielen Hochzeiten teilgenommen und wollte sich nicht noch einmal in Gesellschaft ihrer reizbaren Mutter schämen müssen. Sie kannte das hämische Grinsen, das sie aufsetzten, wenn sie sie fragten: »Und was ist mit dir, Lydia? Wann bescherst du uns denn mal einen großen Tag?«

Sie steckte die Karte in den Umschlag zurück. Schon der Gedanke daran machte sie wütend. Ja, sie würde zu dieser verdammten Hochzeit gehen, und sie würde einen Mann finden, der sie begleitete – und wenn sie ihn dafür bezahlen musste! Schließlich war ihr Vater nicht mehr da, um sie zurechtzuweisen. Und was ihre Mutter anging: Sie war nicht ihr Partner, also war sie auch nicht eingeladen! Alles, was recht war, aber sie würde ihr nicht mehr im Weg stehen!

Lydia wusste, was sie zu tun hatte. Sie würde Daphne in der Bücherei besuchen und um Rat fragen. Daphne wusste immer und unter allen Umständen, was zu tun war. Lydia stand auf. Es musste etwas geschehen. Sie sah auf der Uhr, dass sie noch fast eine Stunde hatte, ergriff ihre Handtasche und verließ das Haus.