29
Daphne fuhr Lydia zum Krankenhaus, hörte ihr dabei genau zu und versuchte ein Kichern zu unterdrücken, als sie von der merkwürdigen Geschichte des Mr McCloone erfuhr. Als Lydia das städtische Krankenhaus betrat, meinte sie, sich von dieser äußerst merkwürdigen Erfahrung genügend erholt zu haben, um sich ernüchtert wieder mit dem Zustand ihrer Mutter zu befassen.
Drei Wochen waren seit Elizabeths Aufnahme vergangen und in dieser Zeit hatte Lydia sich an die Besuchsroutine gewöhnt. Auch wenn sie es sich selbst gegenüber nicht zugab, hatte sie das Gefühl, dass sie noch sehr lange am Bett der Mutter wachen würde. Die Stunden, die sie bei ihr verbrachte, waren ihr kostbar. Sie eilte den langen Flur hinunter und bereute schon, dass Mr McCloone und seine geheimnisvollen Mätzchen sie so lange aufgehalten hatten.
Doch als sie die Tür zum Zimmer ihrer Mutter aufstieß, bot sich ihr ein unerwarteter Anblick. Das Bett war leer. Jemand hüstelte höflich; sie drehte sich um und sah Schwester Milligan dort stehen.
»Wo ist sie?« Lydia hatte auf einmal große Angst. Sie legte die Hand auf ihr Herz, als wollte sie das Schlagen verlangsamen.
»Es tut mir sehr leid, Miss Devine. Ihre Mutter ist vor einer Stunde verstorben.«
»Nein!« Lydia sah in das unerbittliche, ernste Gesicht. Sie wollte die Krankenschwester anschreien, weil sie so herzlos war. »Das kann nicht sein! Warum sagen Sie so etwas, so etwas Grausames?«
Schwester Milligan hakte sie energisch unter und führte sie zu einem Sessel. Sie war daran gewöhnt, mit der Bestürzung Hinter bliebener umzugehen.
»Wir haben Sie mehrfach angerufen, aber wir konnten Sie nicht erreichen.«
Lydia verstummte. Nach dem ersten Entsetzen stieg langsam Verzweiflung in ihr auf, als die ernsten Worte wirklich zu ihr durchdrangen. Was sie am meisten befürchtet hatte, war geschehen. Sie, sie allein, musste sich dieser kalten Tatsache stellen. Der Tod eines geliebten Angehörigen lässt den Hinterbliebenen keine Wahl, keine Fluchtmöglichkeit, kein Versteck – nur den sengenden, den rohen Schmerz des Verlustes.
Sie wiegte sich vor und zurück und weinte hemmungslos. Die Auswirkung der Vernachlässigung ihrer Pflicht – sich mit dem albernen Mann in diesem albernen Hotel zu treffen und Zeit zu vergeuden, statt bei ihrer Mutter zu wachen – überkam sie jetzt mit ganzer Wucht. Selbstbezichtigungen und Tadel hagelten auf sie herab; sie wurde von Schuldgefühlen übermannt. Wie hatte sie sich nur so idiotisch und selbstsüchtig verhalten können?
Und so weinte und weinte sie, löste sich von der Krankenschwester und von der ganzen Welt und trieb weiter und weiter ab – sie war nur noch ein losgelöster Ballon in einer unermesslichen grauen Leere, der höher und höher stieg. Sie hörte die Geräusche des Krankenhauses und der Welt hinter dem Fenster von all den Leben, die dort wie zufällig gelebt wurden, und in diesen angsterfüllten, hilflosen Augenblicken wusste sie, dass sie einen Wendepunkt erreicht hatte. Einen Punkt, der nur von dem Wissen erhellt wurde, dass sie ihn nur ein einziges Mal erreichen würde, so schmerzhaft das alles auch war. Der Verlust der Mutter ist ein einzigartiges und mit nichts zu vergleichendes Ereignis. Diese Erkenntnis verschaffte ihr eine kleine Erleichterung.
Sie wusste nicht, wie lange sie in dem leeren Zimmer mit der gleichgültigen Krankenschwester gesessen und geweint hatte, und ab wann sie vollkommen ausgefallen war.
Alle späteren Versuche, sich an die Ereignisse zwischen dem Tod ihrer Mutter und dem Begräbnis zu erinnern, waren, als sehe sie sie durch eine Scheibe im grellen Sonnenlicht; sie waren zwar von einer blendend hellen Wirklichkeit, blieben zugleich aber verschwommen und unverstanden. Vielleicht war es das Beste so. Sie war dankbar für den Trost durch diesen Gedächtnisverlust.
Vikar Spencer, der junge Nachfolger ihres Vaters, hielt den Trauergottesdienst. Er war ein großer dünner Mann, bei dem sie an einen Ast in einem reißenden Fluss denken musste, und der an der Kleidung ebenso schwer zu tragen schien wie an seinem feierlichen Amt.
Lydia und Gladys saßen in der ersten Reihe. Vor ihnen lag Elizabeth – Ehefrau, Schwester, Mutter –, deren irdische Verbindungen in dem letzten Bild, in diesem Mahagonisarg zur Ruhe kamen.
Um sie herum hatten sich Mrs Devines alte Freundinnen mit ihren tränenreichen Erinnerungen geschart und stimmten mit brüchigen Stimmen in die Kirchenlieder ein. Ihre Gesichtszüge waren unter der Gewissheit abgesackt, dass auch ihnen nicht mehr viel Zeit blieb.
Lydia und Gladys standen Arm in Arm am Grab. Durch ihre Tränen hindurch sahen sie den Regen auf den Sarg fallen, als er langsam in die Grube gesenkt wurde.
Es war passend, dass die Sonne nicht schien, die Vögel nicht zwitscherten und der helle Augustnachmittag einem winterlich unheilvollen Grau gewichen war. Selbst Gott schien Mitleid zu haben. Warum sollte ein Tag lächeln, an dem so viel Kummer ertragen werden musste.
Gladys bestand darauf, nach dem Begräbnis eine Woche bei Lydia in Elmwood zu verbringen. Auch wenn ihre Nichte es vorgezogen hätte, sich der unvermeidbaren Einsamkeit der neuen Situation so bald wie möglich alleine auszusetzen, wusste sie doch, dass es äußerst unhöflich gewesen wäre, diese Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Alle Versuche der Menschen, die es gut mit ihr meinten – Daphne mit ihren Einladungen zum Mittagessen, Beatrice Bohillys Angebot, ihr bei der Entsorgung der Kleider ihrer Mutter zu helfen, die Trostworte des jungen Vikars – führten ihr vor Augen, dass sie wahre Freunde hatte. Vielleicht konnte die Leere, die durch den Tod ihrer Mutter entstanden war, ihr die Tür zu einem weniger angstbesetzten Leben aufstoßen, in dem sie frei war, sie selbst zu sein – und nicht nur Beiwerk, nicht nur Gehilfin. War das nicht das, wonach sie sich immer gesehnt hatte?
»Vielleicht solltest du dir Urlaub von der Schule nehmen, liebe Lily.«
Gladys saß in Elizabeths Lieblingssessel im Wohnzimmer mit den chintzbezogenen Möbeln, ein Glas Gin Tonic – ihren Schlaftrunk – auf einem Tischchen in Reichweite.
Sie sah aus wie eine wollüstige Konkubine im Palast eines Shoguns: Auf ihrem roten Kimono glänzten kupferfarbene Drachen und goldene Schlangen. Auf ihren zarten Pantoletten tanzten Pfauenfedern. Lydia konnte den Blick kaum von ihnen abwenden, als ihre Tante mit ihr sprach.
»Nimm dir Urlaub«, sagte sie noch einmal. »Sie können bestimmt Ersatz für ein, zwei Wochen finden, bis du wieder auf den Beinen bist.«
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Bei der Arbeit komme ich auf andere Gedanken.«
Lydia hatte noch eine Woche Schulferien. Sie drehte am Knopf ihrer Strickjacke herum. Die Tasse Kakao, die Gladys ihr gemacht hatte, war kalt geworden. Sie saß in der Klemme: Einerseits wollte sie nicht hilflos wirken, denn dann wäre Gladys eine weitere Woche geblieben – und das wollte sie sich noch nicht einmal vorstellen –, andererseits wollte sie auch nicht undankbar erscheinen.
»Du könntest ein paar Wochen zu mir kommen«, schlug Gladys vor. »Es würde dich aufheitern.« Sie inhalierte tief aus dem Zigarettenhalter aus Elfenbein.
»Gladys, du weißt, dass das nicht geht. Unsere Ferien bei dir waren die letzten, die Mutter und ich zusammen verbracht haben.« Sie tupfte sich mit dem Taschentuch aus dem Ärmel die Tränen ab. »Das Ocean Spray würde jetzt schmerzhafte Erinnerungen wecken.«
»Na ja, wahrscheinlich hast du recht. Aber weißt du, je eher du mit diesen Dingen zurechtkommst, desto besser. Es bringt nichts, Trübsal zu blasen.«
»Darf ich vielleicht nicht trauern?«, fuhr Lydia sie an, der der Ton der Tante gar nicht gefiel.
Gladys zuckte mit den Achseln. »Trauer so viel du willst, liebe Lily. Es bringt sie nicht zurück.« Sie zog wieder an der Zigarette.
»Wie herzlos du bist. Ich weiß ja, dass Mutter und du nie einer Meinung wart, aber Trauer ist die natürliche Reaktion auf den Tod eines Menschen, den man geliebt hat. Wo ist deine Trauer, Gladys? Sie war doch schließlich deine Schwester.«
»Meine Trauer ist meine Sache! Ja, sie war meine Schwester, doch das Einzige, wozu sie in der Lage zu sein schien, war, alles zu kritisieren, was ich getan habe. Und zu versuchen, mich zu dominieren. Ich fürchte, es war Eifersucht im Spiel. Elizabeth war schlicht und langweilig, und ich war, na, sagen wir einfach – mondäner.«
Lydia war schockiert. »Wie gemein und selbstgerecht von dir!«
Gladys zog den Kimono enger um sich, kippte den Rest des Glases herunter und drückte die Zigarette aus. Sie sah Lydia verachtungsvoll an.
»Ich wäre an deiner Stelle nicht so hochnäsig ...«
»Ich, hochnäsig?«
»Du hast ja keine Ahnung!«, zischte Gladys. »Die Wahrheit ist immer kompliziert. Jetzt, wo du alleine bist, musst du dich der harten Wahrheit stellen.«
»Du bist grausam.«
»Und du bist naiv!« Sie stand auf. »Ich gehe ins Bett. Ich habe morgen eine lange Reise vor mir.«
Lydia sah auf die Füße ihrer Tante, auf die lackierten Zehennägel in den wippenden Federpantoletten, und fand, dass sie nichts ernst nehmen konnte, was diese Frau sagte.
»Ich bin vielleicht naiv, aber wenigstens benehme ich mich altersgerecht, Gladys.«
»O ja, allerdings! Und guck doch nur, wohin dich das gebracht hat!« Gladys’ Busen hob und senkte sich schnell unter dem Seidenkimono. Sie würde sich von dieser flachbrüstigen kleinen Jungfer nicht zurechtweisen lassen.
Lydia sah zu ihr auf und fragte sich, wie es sein konnte, dass diese aufdringliche und geschmacklose Frau die Schwester ihrer geliebten Mutter war.
»Meine Mutter konnte dich nie leiden und ich verstehe, warum.«
Gladys schnaubte. »Du kennst noch nicht mal die halbe Geschichte!«
Sie rauschte zur Tür, dann wandte sie sich um.
»Übrigens, neulich Abend hat hier ein Mann angerufen. Ich habe vergessen, es zu erwähnen. Ein James Irgendwie. Er hat behauptet, er hätte dich über eine Zeitungsanzeige kennengelernt oder so etwas Ähnliches, genauso Lächerliches.«
Lydia wurde rot. In dem Moment wusste sie, dass sie ihre Tante zutiefst verachtete, und war kurz davor, ihr die Tür zu weisen. Aber sie kannte sich, davon würde sie nur Schuldgefühle bekommen.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Ja, genau das habe ich ihm auch gesagt. Ich habe ihm gesagt, dass ich mir nicht vorstellen könne, dass eine meiner Nichten sich wie ein Flittchen benimmt, nur um einen Mann zu finden, und dass er die falsche Nummer gewählt hat und sich nicht die Mühe machen soll, noch einmal anzurufen.«
Gladys zog die Tür hinter sich zu. Diese Kaltherzigkeit bestürzte Lydia. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte hemmungslos.
Am Morgen von Gladys’ Abreise war die Stimmung angespannt, aber oberflächlich freundlich. Der Streit des vergangenen Abends lag wie eine offene Wunde zwischen ihnen.
Keine von beiden hatte den Wunsch herauszufinden, warum die Dinge, die sie sich an den Kopf geworfen hatten, noch immer so wehtaten. Doch sie entschuldigten sich nicht. Die Zeit würde diese Wunde heilen und sie sprachen nicht mehr darüber, sondern waren beide für sich zu der Ansicht gelangt, dass es besser wäre, die Dinge ruhen zu lassen.
Elizabeths Tod hatte die Spielregeln verändert und Lydia begriff, dass sie ihre Tante gar nicht mehr brauchte. Sie, Lydia, hielt jetzt die Fäden in der Hand, und sie würde ihr Leben nach ihren eigenen Maßstäben leben. Sie hatte sich ihrer Mutter aus Pflichtgefühl untergeordnet, aber jetzt würde sie sich niemandem mehr unterordnen. Tante Gladys war überflüssig, vielleicht gerade noch am anderen Ende des Telefons auszuhalten.
Als sie sie an dem Morgen zum Abschied küsste, wusste sie, dass sie es erst mal genauso halten würde, und Gladys spürte deutlich, dass Ihr Trost und ihre Unterstützung nicht mehr benötigt wurden.
Lydia wandte sich zum leeren Haus um und schloss die Tür hinter sich.
Sie blieb im Flur stehen, bis sie Gladys’ Auto nicht mehr hörte. Dann senkte sich die Stille herab und das Haus wirkte auf sie, als sei sie die einzige Überlebende einer nuklearen Katastrophe. Zum ersten Mal verstand sie wirklich, wie es sich anfühlte, allein zu sein, sich ganz auf sein ureigenes Selbst verlassen zu müssen. Elmwood würde ihr in den nächsten Tagen nur wenig Trost spenden können.
Sie stand eine Weile einfach nur da und sammelte Kräfte, dann wanderte sie durch ihr »mutterloses« Heim, ging von Zimmer zu Zimmer und nahm all ihren Mut zusammen. Ihr war, als sei sie durch einen dunklen Tunnel plötzlich an diesen fremden, trostlosen Ort gelangt, an dem sich noch schemenhaft die Umrisse einer Abwesenheit abzeichneten, an dem jedoch eine übernatürliche Anwesenheit schimmerte: die ihrer verstorbenen Mutter.
Im Wohnzimmer rang sie mit Erinnerungsstücken an Elizabeth: mit dem unfertigen Pullover in der Teppichtasche, dem angefangenen Roman auf dem Fensterbrett, den rot umrandeten Sendungen im Fernsehprogramm, die sie an ihrem letzten Fernsehabend gesehen hatte.
Wieder musste Lydia weinen. Sie verstand, dass man gegen Trauer nicht ankämpfen konnte, sondern dass man sie durchleben musste. Irgend wann wäre sie vorbei, aber wie in einer griechischen Tragödie geschähe das erst, wenn die Götter es wollten.
Sie setzte sich auf den Stuhl ihrer Mutter und sah traurig auf den gestrickten Pullover. Sie wollte ihn gerade in die Hand nehmen, da klingelte das Telefon. Sie atmete tief ein und sprach mit ruhiger Stimme in den Hörer.
»Guten Morgen.«
»Miss Devine? Lydia Devine?« Der Mann sprach knapp und geschäftsmäßig.
»Ja. Wer spricht da?«
»Hier ist Charles Brown von Brown und Kane. Ich bin der Anwalt Ihrer Mutter. Mein herzliches Beileid.«
»Danke, Mr Brown.«
»Das kam doch gänzlich unerwartet? Ihre Mutter war wirklich eine feine Dame. Es ist sehr schade.«
Lydia wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, und so dankte sie ihm noch einmal und wartete darauf, dass er sein Anliegen vortrug.
»Vielleicht wären Sie so freundlich, uns einen Besuch abzustatten, Miss Devine. Ich bin der Testamentsvollstrecker Ihrer Mutter. Es ist recht überschaubar. Natürlich will ich Sie nicht unter Druck setzen, aber meiner Erfahrung nach ist es oft das Beste, diese Dinge so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.«
»Ja, bestimmt. Ich komme, wann es Ihnen passt, Mr Brown«, hörte Lydia sich sagen.
»Famos. Sagen wir Freitag um halb vier?«
»Ja, gerne.« Sie kritzelte den Termin auf einen Zettel.
»Gut, meine Sekretärin wird Ihnen die Bestätigung mit der Post zukommen lassen.«
»Vielen Dank, Mr Brown.« Lydia wollte gerade einhängen.
»Oh, da ist noch etwas, Miss Devine.« Der Anwalt zögerte. »Außer dem Testament liegt hier noch ein Brief für Sie.«
»Ein Brief von wem?« Lydia war plötzlich beunruhigt.
»Ihre Mutter hat ihn mir vor einiger Zeit übergeben und mich angewiesen, dass er Ihnen erst nach ihrem Tod überreicht werden darf.«
»Oh, ... ich verstehe.«
»Wir sehen uns dann am Freitag. Auf Wiedersehen, Miss Devine.«
Dann war die Leitung tot und Lydia stand mit dem inneren Bild ihrer Mutter und dem angekündigten geheimnisvollen Brief im widerhallenden Flur und fragte sich, was die Zukunft für sie bereithalten würde.