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Lydia Devine faltete ihren schiefergrauen V-Ausschnitt-Pullover (50 Prozent Angora, 33 Prozent Wolle und 17 Prozent Polyamid) zu einem ordentlichen Rechteck und legte ihn zufrieden in die unterste Schublade ihrer Kommode.

Nun, wo das Schuljahr zu Ende war und der Sommerwind in ihr Schlafzimmerfenster hereinwehte, war es höchste Zeit, die Wintergarderobe einzumotten. Dieser Moment, der Übergang von kühlen zu warmen Tagen, von einem grauen Himmel zu einem blauen, von Arbeit zu wohlverdienter Freizeit, war der Höhepunkt von Lydias Jahr. Nicht, dass sie nicht gerne arbeitete. Sie war auch keine Sonnenanbeterin, im Gegenteil, sie verabscheute Sonnenbrände. Aber in ihren Sommerferien hatte sie etwas Zeit für sich, konnte ihrer Leidenschaft nachgehen, Romane zu lesen, Briefe zu schreiben und lange Spaziergänge über Land auf kleinen Pfaden zu unternehmen.

Bei diesem Ausblick seufzte sie vor Vergnügen. Sie lief leichtfüßig zum Mahagonischrank und öffnete die Türen, als würde sie einem Magier assistieren. Auf den Regalbrettern stapelten sich die ordentlich beschrifteten Schachteln, in denen die schönen leichten Blusen und Röcke lagen, die sie in den unbekümmerten nächsten Wochen anziehen wollte.

Nichts freute Lydia mehr als ein aufgeräumtes Zimmer, in dem alles seinen Platz hatte. In den vielen Jahren als Lehrerin, in denen sie Kindern beigebracht hatte, sauber zu sein, sich gerade hinzusetzen und ihre Tische in ordentlichem Zustand zu halten, hatte sie sich angewöhnt, selbst auch gewissenhaft und korrekt zu sein.

Sie zog sich sorgfältig vor dem Standspiegel an und freute sich, dass sie den Reißverschluss ihres Etuikleides immer noch mühelos zuziehen konnte. Da sie mit vierzig noch unverheiratet war, fühlte sie sich irgendwie verpflichtet, eine jugendliche Silhouette zu bewahren. Sie wusste, dass Männer mehr Wert auf eine gute Figur legen als auf ein schönes Gesicht.

Sie setzte sich fröhlich vor die Frisierkommode, nur um den allzu bekannten Stich zu spüren, als sie ihr Gesicht sah. Da gab es wenig zu bewundern. Ihre Nase war zu lang, Mund und Augen zu klein. Eine tiefe Furche zwischen den Augenbrauen verriet die vielen Jahre, die sie damit verbracht hatte, den Problemen und Sorgen ihrer Schüler zuzuhören. Ihre Wangen waren etwas zu rot – Winterwind und Sommersonne hatten beide die gleiche Wirkung auf sie. Doch das spielte keine Rolle: Diesen Makel konnte sie beheben, indem sie das hellbeige Puder von Max Factor großzügig auftrug.

Für ihr Make-up brauchte sie nicht lange. Sie hatte irgendwann in der Woman’s Realm in Dorothy Dibbits Schönheitskolumne gelesen, dass Lippenstift und Lidstrich nur benutzt werden sollten, wenn man schöne Lippen und Augen hervorheben wollte, und hatte sich an den Rat gehalten. Ein sorgfältig gepudertes Gesicht und gut gebürstete Haare standen bei ihr im Vordergrund – und waren in ihren Augen tatsächlich die einzigen Verbesserungen, die sie vornehmen konnte.

Sie stand zufrieden auf, stellte den seidenbezogenen Hocker in die Einbuchtung der Frisierkommode und verließ das Schlafzimmer. Die Zubereitung des Frühstücks ihrer Mutter hatte immer Vorrang.

Als Lydia keine zwanzig Minuten später mit einem Frühstückstablett beladen die Tür zum Zimmer ihrer Mutter aufdrückte, war sie überrascht, dass die alte Dame schon aufrecht im Bett saß und wütend am Bündchen eines Fair-Isle-Pullovers strickte.

»Oh, du bist heute aber früh dran, Mutter!« Sie neigte dazu, morgens in einen Singsang zu verfallen, um gleich gute Stimmung zu verbreiten. Sie brauchte das, weil sie immer eine leichte Furcht verspürte, wenn sie ihrer Mutter unter die Augen trat – genau wie bei ihren Schülern. Sie stellte das Tablett aufs Bett.

»Danke, Liebes.«

Elizabeth Devine setzte ihre Brille ab und verstaute die Strickarbeit in einer Teppichtasche. Sie war eine beherzte Sechsundsiebzigjährige, die sich ihrer Stellung als Matriarchin wohl bewusst war. Auch sie legte großen Wert auf ihr Äußeres.

Als sie sich im Bett zurechtsetzte, ähnelte sie einem Püppchen, und die von Satinbändchen eingefasste und mit gehäkelten Röschen bestickte babyrosa Bettjacke verstärkte diesen Eindruck noch. Der Blick ihrer hellblauen Augen, die jeder Bewegung der Tochter folgten, war trotz ihres Alters hellwach und ungetrübt.

Nur die Adlernase – ein markantes Erkennungszeichen der weiblichen Familienmitglieder, das Lydia glücklicherweise nicht geerbt hatte – passte nicht richtig zu ihrer kindlichen Ausstrahlung. Als sie jung gewesen war, glich Elizabeth von vorne einer Prinzessin, von der Seite aber sah sie aus wie eine von Aschenputtels hässlichen Stiefschwestern.

»Hast du schlecht geschlafen?«, fragte die Tochter sie besorgt.

»Die Sonne hat mich geweckt.« Sie sah Lydia vorwurfsvoll an. »Du hast die Vorhänge letzte Nacht nicht richtig zugezogen.«

»Oh, Mutter, das tut mir aber leid. Aber es ist ein schöner Morgen, findest du nicht?«

Wie üblich zog sie einen Stuhl ans Bett und wartete darauf, dass sich ihre Mutter über das Frühstück oder ihre Erscheinung beschweren würde. Beide Frauen waren so an dieses Ritual gewöhnt – die eine an die Vorwürfe, die andere an die Rechtfertigung –, dass ihr erstes Zusammentreffen am Morgen einer lebhaften Sitzung in einem Gerichtssaal ähnelte.

Heute war am Frühstück zunächst nichts auszusetzen, dafür musste Lydias schicke Kleidung herhalten.

»Warum hast du dich so herausgeputzt? Triffst du dich mit jemandem? Der Direktor ist doch ein verheirateter Mann.« Die Wangen der Tochter röteten sich selbst unter der Schutzschicht Puder sichtlich.

Mrs Devines größte Angst war, dass Lydia einen Ehemann finden und sie verlassen könnte. Ihr geliebter Ehemann war vor einem Jahr verstorben, und diese Tragödie und ihr Alter hatten dazu geführt, dass sie langsam den Bezug zur Wirklichkeit verlor. Sie spürte, dass ihre Tochter sich jetzt, wo sie dem strengen Griff des Vaters entkommen war, behaupten und selbstständig machen könnte.

Die einzige Waffe, die sie im Kampf um die Zuneigung ihrer Tochter noch einsetzen konnte, war, Lydia an die Schlechtigkeit der Männer zu erinnern. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit verkündete sie ihre entschiedenen Meinungen zur Schwachheit der männlichen Spezies und zu den Widrigkeiten des Ehestands.

»Männer, ob verheiratet oder alleinstehend, haben sowieso nur eines im Sinn. Merk dir das.«

Sie köpfte das Ei mit ihrem James-Eaton-Löffel, der Teil eines wertvollen silbernen Sets war, das ihr der Ballinascuddy Ladies Club zur Hochzeit geschenkt hatte.

»Der einzige Grund, aus dem ich deinen Vater geheiratet habe, war der, dass er sich nicht für die Unerfreulichkeiten des Schlafzimmers interessiert hat.«

Sie löffelte etwas aus ihrem Ei und hielt es vor sich in der Luft.

»Wir sind uns nur aus einem Grund nähergekommen, nämlich ...«

»Ja, ich weiß: um mich zu bekommen ...« Lydia kannte das Drehbuch genau und kam ihrer Mutter einen Schritt zuvor.

»Was nimmst du dir deiner Mutter gegenüber heraus!«

»Ach, Mutter. Ich bin vierzig, kein Kind mehr. Wäre es nicht an der Zeit, dass du endlich mal damit aufhörst, mir Schuldgefühle für meine Existenz einzureden?«

Sie stand auf und ging zum Fenster, die Arme eng vor der Brust verschränkt.

»Das Ei ist ja hart! Du weißt doch, dass ich bei meiner Verdauung nichts Hartes essen kann.« Die Luft schien von Elizabeths plötzlichem Ärger zu knistern. »Dr. Moody sagt, ich muss da sehr vorsichtig sein.«

»Das Ei kann gar nicht hart sein.« Lydia beobachtete eine winzige Ammer, die gerade auf einem Pfahl im Garten gelandet war. »Ich hab es genau vier Minuten nach Letti McCleans Eieruhr gekocht.«

Jedes Erbstück und alle Antiquitäten in Mrs Devines Haus trugen die Namen ihrer ehemaligen Besitzer, eine Sitte, die Elizabeth von ihrer Mutter übernommen und nun an ihre Tochter weitergegeben hatte. Lydia war zwischen den Geistern von Verwandten und Freunden groß geworden, die in den wirren Ansammlungen von Geschirr und Nippes weiterlebten.

»Ach, Letti McClean, das war eine Frau! So geschickt mit ihren Händen.« Elizabeth setzte zu einer ihrer wortreichen Lobeshymnen auf ihre alte, verstorbene Freundin an. Das Ei war vergessen. »Was sie auch anfasste, alles gelang ihr. Die Leichtigkeit ihres Gebäcks war das Gespräch der Gemeinde und ...«

Plötzlich flog die Ammer einmal im Kreis um den Garten herum, dann landete sie mit hämmernder, rostroter Brust wieder auf demselben Pfahl. Lydia staunte über ihre Schönheit und schenkte der weitschweifigen Rede der Mutter kaum Beachtung.

»... das lag an der Butter, weißt du. Einmal hat sie mir verraten, Kerrygold sei ihr Geheimnis. Sie benutzte eben nicht dieses eklige Schmalz so wie die anderen. Ihr Apfelkuchen wurde dreimal hintereinander beim Erntedankfest prämiert.«

Auf einmal flog der Vogel davon und Lydia nahm das als Zeichen. Sie drehte sich um und ärgerte sich darüber, dass Elizabeth Ei und Toast kaum angerührt hatte.

»Mutter, ich weiß alles über Lettie McCleans Kuchen. Ich habe das alles schon oft genug gehört. Und jetzt iss dein Frühstück, bevor es kalt wird. Ich hab noch was vor.«

Fast hätte sie das letzte Wort geschrien, aber es gelang ihr gerade noch, sich zu beherrschen.

»Will kein Frühstück mehr«, sagte Elizabeth trotzig und schob das Tablett von sich.

»Aber Mutter, du hast doch gar nichts gegessen. Es wär doch schade, das gute Essen wegzuwerfen.«

Elizabeth überhörte diese Einwände einfach. Wie sich die Zeiten geändert haben, dachte sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Die reife Frau dort am Fenster war nicht mehr das Kind, das sie verwöhnt hatte. Lydia hatte sich aus ihrer Umklammerung befreit, war zu groß geworden für Pferdeschwänze und Söckchen, Puppen und Malbücher und die Gutenachtgeschichten, bei denen sie immer eingeschlafen war. Oh, wie sehr wünschte sich ihre Mutter diese Zeiten zurück! Als sie, sie allein die Elfenkönigin war, die Türen öffnen und in der Welt des kleinen Mädchens zaubern konnte. Als sie noch die Macht hatte, ihre Tochter an Träume glauben zu lassen.

Sie versuchte sich zu beherrschen, denn es war ihr wichtig, die Kontrolle zu behalten, und kramte in ihrer kleinen Teppichtasche nach ihrer Brille.

»Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum du dich so aufgetakelt hast«, sagte sie, im Nu wieder ihr altes störrisches Selbst.

»Mutter, es ist der erste Ferientag. Hast du das vergessen? Ich habe mich einfach schick angezogen, weil mir danach war. Weil ich frei bin.« Sie wandte sich dem Fenster zu. »Jedenfalls fast«, murmelte sie.

»O gut, dann kannst du mich ja zum Friseur fahren. Am Donnerstag habe ich die Reise zum Women’s Institute und ich habe Beatrice Bohilly versprochen zu kommen, und wenn es nur wegen deines toten Vaters ist.«

Sie tastete mit beiden Händen ihre Haare ab, als wollte sie überprüfen, ob sie noch zu ihr gehörten.

»Er wollte immer, dass ich so gut wie nur irgend möglich aussehe«, fuhr sie fort. »Meine Tönungen in der Farbe von lila Stiefmütterchen hätte er sicher nicht gut geheißen. Aber weißt du, manchmal konnte dein Vater auch sehr streng sein, vor allem, wenn es um das Auftreten einer Frau ging. Lippenstift war den Huren von Rom vorbehalten und Schmuck war für das fahrende Volk ...«

»Na, wenn das so ist, nehme ich an, dass du bald aufstehen und dich anziehen willst. Ich komme in einer Minute zurück.«

Lydia beeilte sich, das Tablett abzutragen, denn sie hatte Angst, sich wieder in dem verworrenen Netz einer weiteren Erinnerung ihrer Mutter zu verfangen.