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Nachdem Lydia Devine sich vergewissert hatte, dass die Luft rein war, schloss sie leise die Schlafzimmertür und öffnete den großen Umschlag, auf dem »Privat« stand. Auch wenn ihre Mutter beschäftigt war und sich die Serie »Green Acres« im Wohnzimmer ansah, konnte sie sich nicht darauf verlassen, dass sie sich die nächste halbe Stunde wirklich nicht vom Fleck rühren würde. Manchmal brachte sie das Auftreten des glücklosen und linkischen Hank Kimball – den Elizabeth für eine »untalentierte Dumpfbacke« hielt, und der ihr die Serie madigmachte – dazu, den Ton herunterzudrehen und sich eine Tasse Tee zu machen. Noch schlimmer war es, wenn sie den Fernseher ausstellte und auf die Pirsch ging, um auszukundschaften, was Lydia vorhatte.
Doch im Moment konnte Lydia das Geplapper aus dem Fernseher von unten hören und hoffte, wenigstens für eine kurze Weile ungestört zu sein.
In dem großen Umschlag befanden sich drei kleinere, die alle mit ihrer Chiffre gekennzeichnet waren. Der erste war gelb mit zwei verschränkten rosa Herzen vor einer aufgehenden Sonne – sehr direkt, fand Lydia – und einer fast unleserlichen Handschrift. Sie bemühte sich, den Brief zu entziffern, aber als sie Kopfschmerzen von der nachlässigen Handschrift und den vielen Rechtschreibfehlern bekam, gab sie es auf. Ein Mann, der das Wort »vielleicht« nicht hinbekam und die bestimmten Artikel wegließ (von seiner Zeichensetzung gar nicht zu reden), war entweder lernschwach oder ein Ausländer oder sogar beides zugleich. Herr im Himmel! Eine glatte Vier, befand Lydia und widerstand dem ersten Impuls, mit ihrem roten Stift »Du musst Dir mehr Mühe geben« darunterzuschreiben.
Der zweite Brief war deutlich besser, die Handschrift regelmäßig und leserlich, Kuvert und Briefpapier waren aus passendem Büttenpapier. Sie war beeindruckt.
2 Harris Green
Killycock,
Co. Derry
Gnädige Dame,
anlässlich der Durchsicht des Mid-Ulster Vindicators vom 14. Juli ist mir Ihre Annonce ins Auge gestochen.
Lydia ließ sich in die Kissen sinken. Bestnote für den Gebrauch des Wortes »Durchsicht« und weitere Pluspunkte für das Wort »Annonce«. »Ins Auge gestochen« klang vielleicht etwas drastisch, aber sie war bereit, das zu vergeben. Offensichtlich hatte sie es hier mit einem Mann zu tun, der daran glaubte, die Dinge richtig zu machen.
Nach meinem Eindruck – und mir ist vollkommen bewusst, dass der Platz in der Zeitung knapp bemessen ist – sind Sie ein kultivierter Mensch wie ich, der kreativ ist und Gefallen an den schönen Dingen des Lebens findet.
Sie fand, er müsse schon bald übersinnliche Fähigkeiten haben, um aus solch einer kleinen Anzeige so viel herauszulesen. Aber es schmeichelte ihr – und der richtige Einsatz des Nebensatzes war beeindruckend.
Ich werde Ihnen nun etwas von mir berichten, damit Sie selbst entscheiden können, und selbstverständlich hoffe ich sehr, dass Sie mir zurückschreiben.
Ich bin ein Gentleman im Ruhestand. Früher gehörte mir ein Laden, in dem ich vor allem Haushalts- und Eisenwaren verkauft habe. Sowie Dinge für die Damenwelt. Welchen Wunsch man auch an mich herangetragen hat, ich war immer stolz darauf, ihn zu erfüllen. Meine Kundinnen haben mich »Frank, den Alleskönner« genannt. Ein Titel, auf den ich, wie ich gestehen muss, stolz war, denn ich glaube daran, die Bedürfnisse der Damenwelt zu befriedigen.
Lydia rutschte unruhig hin und her. Worüber sprach dieser Mann? Der Fernseher plapperte immer noch glücklich vor sich hin. Ein Segen, es musste sich um eine Episode ohne Kimball handeln. »Dinge für die Damen welt« und »Bedürfnisse der Damenwelt« hörte sich etwas merkwürdig an. Aber vielleicht war sie nur zu empfindlich. Vielleicht würde sich das Rätsel lösen, wenn sie weiterlas.
Nach dieser Einführung muss ich jedoch sagen, dass ich das Geschäft nicht vermisse, denn ich beschäftige mich mit vielen Dingen. Ich unternehme gerne lange Spaziergänge über Land mit meinem Hund Snoop, weil ich glaube, dass ein Gentleman sich fit und gesund erhalten sollte. Deswegen lebe ich auch abstinent und bin Nichtraucher. Der stärkste Drink, den ich mir gestatte, ist eine Fanta Orange an heißen Tagen.
Wie Sie buddele ich auch gerne im Garten, wenn es das Wetter zulässt, und ich lese viel. Immer seriöse Zeitungen, keine Boulevard-Blätter.
Und, dachte Lydia mit angehobener Augenbraue, ist der Mid-Ulster Vindicator vielleicht eine seriöse Zeitung?
Ich aquarelliere und fotografiere gerne und bin Mitglied des Amateurkünstler- und Glamourphotografenclubs von Killycock. Ich mag klassische Musik. Ich halte mich für einen kultivierten Herrn mit anspruchsvollem Geschmack. Ich diniere gerne in guten Restaurants.
Ich hoffe sehr, dass Sie mir die Ehre erweisen, meinen bescheidenen Brief zu beantworten und dass wir uns kennenlernen.
Mit freundlichen und respektvollen Grüßen, Frank Xavier McPrunty
Verlass dich drauf!, dachte Lydia, und steckte den Brief in den Umschlag zurück. Gebildet war er sicherlich, aber auch ein reichlicher Angeber. Mal sehen, was Nummer drei für einer war.
Sie schob den silbernen Brieföffner – ein Dank von Emily Bingham für ihr Zweier-Examen – durch den Schlitz und entfaltete das blaue Blatt. Sie war froh, dass der Brief kurzgehalten war und auf den Punkt zu kommen schien. Doch kaum hatte sie den ersten Satz gelesen, sah sie, wie sich der Türknauf drehte. Sie stopfte die Briefe unters Kissen und setzte sich gerade auf ihr Bett.
»Was hast du da gerade gemacht?«
Mrs Devine stand in der Tür und deutete mit dem ausgestreckten Spazierstock auf Lydias Kissen.
»Mutter, wirklich! Was erlaubst du dir, in mein Zimmer zu platzen, ohne auch nur angeklopft zu haben?«
»In meinem eigenen Haus muss ich nicht anklopfen.«
»Das kann doch nicht wahr sein. Man nennt es Umgangsformen oder Respekt vor der Privatsphäre anderer Menschen.« Lydia war sehr verärgert und stand auf. »Selbst wenn es sich bei den anderen Menschen nur um deine eigene Tochter handelt. Ich wäre dir dankbar, wenn du jetzt wieder zu »Green Acres« zurückgehen und mich in Ruhe lassen würdest. Ich will mich ausruhen.«
»Damit bin ich durch. Der Idiot von Kimball ist wieder aufgetaucht.«
»Das habe ich mir jetzt schon fast gedacht!«, blaffte Lydia.
»Du hast dich jedenfalls nicht ausgeruht.« Elizabeth beäugte ihre Tochter misstrauisch, die knotigen Finger um den Pantherkopf des Stocks geklammert. »Du führst etwas im Schilde. Und du weißt genau, dass ich das immer merke.«
»Ich habe gar nichts vor!« Sie fasste sich an die Schläfe und seufzte. »Großer Gott, es ist, als würde ich mit einem Kind zusammenleben!«
»Wenn du nichts vorhast, warum bist du dann so rot im Gesicht?«, fragte Elizabeth.
»Komm, lass uns Tee trinken und Beatties Schokoladen-Biskuitkuchen essen, ja?« Lydia schlug das Erstbeste vor, was ihr in den Sinn kam, in der Hoffnung, es würde ihre Mutter von ihrem Kissen ablenken.
»Was für ein Schokoladenkuchen? Beattie hat mir nichts mitgegeben.«
»Doch, allerdings!« Lydia hakte ihre Mutter unter und führte sie aus dem Zimmer. »Das musst du wohl vergessen haben. Wenn wir ihn nicht bald essen, verdirbt er.«
»Oh, wirklich?«, sagte Elizabeth verwirrt, und hatte das Kissen vergessen.
Bevor er sich an diesem Abend ins Bett legte, stand Jamie in seinem Schlafzimmer vor dem zerbrochenen Spiegel und betrachtete kritisch seinen dicken Bauch. Er hatte den Brief abgeschickt. Ja, wahrscheinlich hatte die unbekannte Dame ihn bereits gelesen, und wenn er Glück hatte, würde sie vielleicht auch einen Blick auf ihn werfen wollen. Jamie wurde klar, dass drastische Maßnahmen angezeigt waren, bevor er vorzeigbar war. Schließlich hatte Rose gesagt, ein ordentlicher Anzug und ein gutes Hemd könnten einen Mann weit bringen. Doch er spürte, dass er noch deutlich mehr tun müsste, wenn er eine Frau erobern wollte.
Als er dort in dem schwindenden Licht stand, war er gar nicht begeistert von seinem Spiegelbild. Auch wenn er bedachte, dass die schmuddelige lange Unterhose, aus der seine dreckigen Füße hervorschauten, seine Erscheinung nicht gerade aufwerteten, blieb es einfach dabei, dass er etwas übergewichtig und vorzeitig kahl geworden war. Sein Gesicht erinnerte ihn an eine Kartoffel, die zu lange im Keller gelagert worden war. Aber was konnte er dagegen tun?
Er stellte den zerbrochenen Spiegel aufs Fensterbrett und trat zurück, um sich noch etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Er wandte sich von einer Seite zur anderen, holte tief Luft, zog den Bauch ein und richtete sich auf – und war sofort überrascht, was für einen großen Unterschied das machte.
Aber was sollte es? Er konnte ja schlecht während des ganzen Treffens mit dieser Frau den Bauch einziehen, die Luft anhalten und die Hinterbacken anspannen. Der Gedanke schreckte Jamie, er seufzte, ließ wie üblich die Schultern hängen und starrte sich niedergeschlagen an.
Er war einundvierzig, aber aufgrund seines Lebensstils und seiner Einstellung wirkte er wie einundsechzig. Und er konnte nichts dagegen tun – oder? Er erinnerte sich daran, dass Dr. Brewster ihm wiederholt dazu geraten hatte abzunehmen.
»Ihr Blutdruck ist viel zu hoch, James, das setzt ihr Herz unter Druck, und Sie wollen doch in Ihrem Alter keinen Schlaganfall oder Herzinfarkt erleiden. Weniger in Fett Gebratenes, weniger Zigaretten, das ist mein Rat.«
Aber wie sollte er das schaffen? Jamie dachte an die schwere Eisenpfanne, die von Generation zu Generation gereicht worden war, er dachte daran, wie gerne er den Würstchen beim Bräunen zusah und wie sich der Speck im heißen Fett der Pfanne zusammenzog. Er wusste nicht, wie viele fetttriefende Mahlzeiten in dieser Pfanne zubereitet worden waren und wie viele sie das Leben gekostet hatte. So viele männliche McCloones waren aufgrund ihrer verstopften Arterien und beschleunigten Herzschläge mit Schlaganfällen und Aneurysmen verfrüht ins Grab gesunken – in Unkenntnis der Tatsache, dass sie das dem fetten Essen zu verdanken hatten.
Dr. Brewster hatte ihm ein Papier zugeschoben. »Hier ist ein Diätplan und einige Hinweise. Drei Wochen durchhalten und sie fühlen sich wie neugeboren.«
Jamie hatte den Plan mitgenommen, sich aber nicht an den Rat gehalten. Da er nicht viel vom Leben hatte, hatte er auch keinen Ansporn, es zu verlängern. Und wenn man nichts Fettes mehr essen, keine Zigaretten mehr rauchen und auch nichts mehr trinken durfte, warum sollte man dann am Morgen überhaupt aus dem Bett steigen?
»Ja, aber jetzt hast du einen Grund«, flüsterte ihm eine leise Stimme ins Ohr. »Dein ganzes Leben könnte sich zum Guten wenden. Es liegt nur an dir.«
In dem Moment bereute er, dass er dem Rat des Arztes nicht schon längst gefolgt war. Aber vielleicht war es noch nicht zu spät.
Beflügelt lief er zum Glasschrank und kramte den Diätplan unter einem Haufen von Rechnungen, Gutscheinen, Steuerbescheiden, Gemeinde nachrichten und monatlichen Quittungen der St.-Brigids-Gemeinde aus der Schublade hervor. Er zündete die Öllampe an und begann, sich die beeindruckende Anleitung durchzulesen.
Frühstück
Ein gekochtes Ei, zwei dünn gebutterte Toastscheiben, eine Tasse Tee mit Milch und einem Löffel Zucker (wenn es sein muss).
Mittagessen
Huhn, Fisch oder rotes Fleisch, vorzugsweise gegrillt, gekocht oder gedünstet, mit frischen Gemüsen. Eine Kartoffel (keine Butter). Kein Pudding.
Abendessen
Wie Mittagessen, gefolgt von frischem Obst. Alkohol streng rationiert. Weder Brötchen noch Kekse oder Kuchen, keine zuckerhaltigen Speisen. Wenn Sie sich drei Wochen nach diesem Plan richten, nehmen Sie zehn bis zwölf Pfund ab, je nachdem, wie konsequent Sie sind.
Und Dr. Brewster hatte handschriftlich im Scherz hinzugefügt:
Nur Schwache, Faule und Schlappe können sich nicht an diese Diät halten. Also fragen Sie sich selbst: Bin ich ein Mann/eine Frau oder eine Maus? (Nichtzutreffendes streichen)
Jamie löschte die Lampe, legte sich ins Bett und dachte: Kein Mann darf mich eine Maus nennen. Nicht einmal Dr. Brewster. Und im selben Moment beschloss er, sich zu ändern.
In dieser Nacht wuchs sein Wunsch nach Veränderung, so wie ein heruntergebranntes Feuer plötzlich bei einem starken Luftzug durch den Schornstein aufflammt. Ja, er würde nicht mehr so viel Fettes essen und das Trinken aufgeben – oder vielleicht etwas weniger trinken –, sich mehr bewegen und viel öfter mit dem Rad in die Stadt fahren.
Vor seinem inneren Auge sah er sich schon in einem neuen Anzug aus Harveys Modeladen herauskommen. In einer Hose mit Bügelfalten, für die er keine Hosenträger mehr benötigte, weil sie durch einen Gürtel gehalten wurden, in den er keine zusätzlichen Löcher mit Hammer und Nagel schlagen musste. Unter dem Anzug trug er ein weißes Hemd, dessen gestärkter Kragen ihm ein Gefühl von Bedeutung verlieh. Davon setzte sich eine leuchtend rote Krawatte mit Paisleymuster ab und seine Schuhe glänzten wie Kastanien.
Und schließlich sah er sich, wie er auf seine zukünftige Frau traf. James Kevin Barry Michael McCloone, ein Mann von hohen moralischen Maßstäben. Ein stolzer Mann mit relativ flachem Bauch, der sich ziemlich gerade hielt.