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Eine Woche nach seinem Arztbesuch kaufte sich Jamie den neuen Mid-Ulster Vindicator. Den von letzter Woche hatte er schon zum Anfeuern benutzt, da in der »Einsame Herzen«-Rubrik nur Kandidatinnen gewesen waren, die zu jung (fünfundzwanzig bis dreißig), zu erfahren (verwitwet oder getrennt), zu übereifrig (gewillt, jede Entfernung zurückzulegen) oder zu selbstgerecht (Christinnen, Abstinenzlerinnen oder Nichtraucherinnen) waren.

Zum ersten Mal seit dem Tod seines Adoptivvaters war Jamie aufgeregt. Eine ganz neue Aussicht bot sich ihm. Das Leben ließ sich wieder ertragen, denn die Möglichkeit, jemanden kennenzulernen, gab ihm Auftrieb. Er sah ein Licht auf einem entfernten Hügel, das ihn anlockte.

Er hatte keine besondere Vorstellung von der Frau, die er kennenlernen wollte. Sein ganzes Leben hatte er sich vom Spiel des Werbens und Heiratens ausgeschlossen gefühlt. Er war es nicht wert, eine Beziehung einzugehen, sie schien das natürliche Reservat aller anderen Männer zu sein. Die Ehe war etwas für Männer, die keine Angst hatten. Männer, die auf dem Hochseil des Lebens balancieren konnten und sich nicht von jedem Wackeln oder Zittern von ihrem Ziel abbringen ließen.

Aber vielleicht war jetzt die richtige Zeit gekommen. Nach Onkel Micks Tod war ein Vakuum entstanden, das wieder gefüllt werden wollte. Rose und Paddy, ja selbst Dr. Brewster dachten so.

Aber was für eine Frau könnte mich wollen? Jamie versuchte, diese vertrackte Frage aufzulösen, als er von der Stadt den vertrauten Weg über die Hügel und durch die Täler nach Hause radelte. Er war über den Lenker von Onkel Micks uraltem Rad gebeugt, kaute auf einem Bassets-Fruchtbonbon und sah auf die Straße, die unter seinen quietschenden Rädern dahinflog.

Vielleicht mochte sie ja auch Countrymusik, dachte er – die Clancy Brothers und Jim Reeves waren seine Helden. Vielleicht mochte sie sein Akkordeon und würde ihn gerne spielen hören. Manchmal nahm er es am Samstagabend mit zu Slope, um Declan Colt & The Silver Bullets abzulösen, wenn sie mal eine Pause brauchten oder zur Toilette mussten. Oben auf Duncans frei gewordenem Hocker spielte er dann »The Fields of Athenry« oder »The Boston Burglar«. Und wenn keiner da war, den man nicht kannte und der Protestant sein konnte, riskierte er ein paar Takte »Roddy McCorley” oder »Sean South of Garryowen”, wobei diese beiden republikanischen Lieder sowieso dieselbe Melodie hatten.

Hoffentlich hätte sie nichts gegen die Farm, gegen die Geräusche der Tiere, ihren Geruch und all das. Aber sie müsste ja auch nicht mithelfen, wenn sie nicht wollte, fand Jamie. Rose McFadden tat draußen auch nicht viel, sie kümmerte sich aber um den Garten, denn Kochen war ihr Hauptinteresse. Vor allem sollte diese Frau also eine gute Köchin sein. Eine, die seine Pfannengerichte fertig auf dem Tisch stehen hätte, wenn er nach getaner Arbeit wieder reinkam. Und wäre es nicht großartig, wenn sie ab und an seine Hemden und die Unterwäsche waschen würde und er sie nicht mehr runter zu Rose bringen müsste, was ihm immer so peinlich war?

Jamie lächelte, als er auf sein Haus zuraste. Er war froh, dass er jetzt eine bessere Vorstellung davon hatte, wonach er eigentlich suchte.

Im Hof stieg er von seinem knarzenden Drahtesel, schob ihn an den aufstiebenden, braun gefleckten Hennen vorbei und weckte den Hund aus seinem Schlummer an der Schuppentür. Die beiden Ayrshire-Kühe auf der nahen Weide kamen schwerfällig auf das Gatter zu und glotzten ihm hinterher.

Im Juni hatte es noch nicht geregnet und so war der Boden mit einem verrückten Muster von sich überlagernden Fahrrad- und Treckerspuren überzogen. Hier und da lagen Maschinenteile herum – Innereien einer Ackerfräse, Glieder eines Heuwenders, der Korpus einer Radhacke – für immer in der Erde steckengeblieben.

Der Hof lag links vorm Haus, von kreisförmig angelegten Schuppen und Scheunen geschützt. Die altersschwachen Gebäude hielten sich wacker in ihren uralten Fundamenten aufrecht. Vor vielen Jahrzehnten waren sie aus den schmalen Profiten der vier Hektar großen Farm und von den schwieligen Händen von Micks Ururgroßvater errichtet worden. Mick hatte sich klugerweise nicht näher über diesen schillernden Vorfahren geäußert, aber Jamie waren die Geschichten dennoch zu Ohren gekommen.

Man erzählte sich, dass Turlough McCloone ein Verrückter mit einer Leidenschaft für Grog und lose Weiber gewesen war. Während seiner wollüstigen und gewalttätigen Phase hatte er seinen Samen verstreut, die Frauen zwar alle wieder verlassen, aber eine Reihe Kinder in die Welt gesetzt. Irgendwann war er dann doch noch sesshaft geworden. Die Dunty butt Farm konnte ein Zeichen dafür sein, dass er vielleicht doch zu Verstand gekommen war. Leider hatte er nicht lange genug gelebt, um das auch unter Beweis zu stellen. Denn eines Tages kam ein alter Feind mit einem seidenen Hut vorbei und holte ihn mit einem fünfschüssigen Paterson-Colt aus dem Sattel seines gedrungenen Apfelschimmels. Mit einem Revolver, der bis zu diesem Tag als notorisch unzuverlässig gegolten hatte.

Als Onkel Mick zur Welt kam, war das feurige Blut seines zügellosen Vorfahren schon stark verdünnt. Vielleicht war noch ein Rinnsal Verrücktheit übrig, doch wenn Mick etwas Irres hatte, so hatte er es Jamie jedenfalls nie sehen lassen.

Jamie lehnte das Rad an die Giebelwand im Schatten, damit die Sonne dem Ledersattel nichts anhaben konnte. Aus der Satteltasche nahm er seine Einkäufe heraus: erst die Zeitung, dann ein Glas Zitronen marmelade, ein Johannisbeerbrot, eine Büchse Andrews Liver Salts sowie eine fettige weiße Tüte mit einer Apfeltasche und einer Cremeschnitte. Er lud sich die Sachen auf den linken Arm und verschloss die Satteltasche wieder, eine Vorsichtsmaßnahme, zu der er gezwungen worden war, nachdem sich im letzten März ein Mäusepaar dort eingenistet und eine Familie gegründet hatte.

Er bog um die Ecke des Hauses, blieb eine Weile dort stehen und betrachtete die Landschaft, sah über die Felder und Gehöfte, die sich bis in die Ferne zu den Slievegerrin-Bergen hinzogen. Im verhangenen Licht waren sie nur undeutlich wie durch ein beschlagenes Glas zu sehen. Über ihnen im hohen blauen Himmel türmten sich Wolken in allen Schattierungen von Taubengrau bis Weiß auf.

Und was sah Jamie, als er diese ruhige Szenerie mit den Klötzchen weiß gewaschener Gebäude und den versprengten Rindern mit ihren kurzen Schatten betrachtete? Wenig. Der Anblick war ihm so vertraut, dass die ungeheure Schönheit verblasst war und ihm nur noch als verwaschener Hintergrund für seine immergleichen Grübeleien diente.

Wie er dort stand und hinaus über die Felder starrte, war er der Gegenwart entrissen und wieder in seine trostlose Vergangenheit eingetaucht, die er wie Klärschlamm hinter sich herzog; die Vergangenheit, die ihm schwere Schäden zugefügt hatte und mit Verzweiflung und Unentschlossenheit erfüllte. Nach Micks Tod waren die Erinnerungen des Kindes, das mit einer Nummer – und nicht mit Namen – angesprochen worden war, wieder in ihm aufgestiegen. Der einsame, verängstigte Junge in der windumtosten Dunkelheit der Vergangenheit suchte ihn nun bei Tag und Nacht heim.

Deswegen griff er jetzt mehr denn je zum Alkohol und zu den lungen zersetzenden Zigaretten, nach dem süßen Kuchen in der fettigen Tüte und dem Akkordeon in seinem nach Moschus riechenden Kasten – diese flüchtigen Freuden betäubten seinen Schmerz. Sie erhellten die Dunkelheit seines Gemüts und hielten die Erinnerungen eine Weile in Schach, sodass er wieder die »sonnige Lichtung« sah, diesen geheiligten Ort, an dem die Zukunft noch keine Gestalt angenommen hatte. Eine Zukunft, die hundertmal besser sein würde als die Gegenwart.

Wie sehnte er sich danach, dort anzukommen und die Freuden auszukosten, die alle außer ihm zu kennen schienen. In diesem Moment seines beklemmenden Lebens, in seinen mittleren Jahren nach dem Verlust seiner geliebten Familie, spürte er, dass die Antwort darin liegen könnte, seine Gedanken und bescheidenen Besitztümer mit einer Frau zu teilen. Er dachte an die Zeitung und seine Einkäufe, wandte sich mit einem matten Lächeln um und ging ins Haus.

Nachdem er den Tee aufgebrüht hatte, breitete er die Zeitung aus, stellte seinen Becher daneben und riss die Kuchentüte auf. Sie würde ihm als Teller dienen.

Die Cremeschnitte war auf der Fahrt an das Marmeladenglas gequetscht worden und kam aus der Tüte hervor, als habe ein Stier auf ihr herumgetrampelt: Sie war nur noch ein durchweichtes, plattgedrücktes Rechteck; die Sahneschicht war auf die Apfeltasche gedrückt worden und hatte das Papier mit Fettflecken verschmiert. Jamie machte der Anblick der plattgedrückten Schnitte nicht viel aus. Im Mund kam doch eh alles zusammen. Und überhaupt, es war ja sonst niemand hier, der das sah.

Den rechten Arm schützend um die Tüte gelegt, machte er sich ans Essen. Im Waisenhaus hatte er gelernt, seine kümmerlichen Portionen so vor den anderen Insassen zu verteidigen, wobei ihm sein Unterarm überlebenswichtig zugleich als Schranke und als Waffe gedient hatte.

Als er fertig gegessen hatte, wischte er die Krümel von der Zeitung und begann langsam mithilfe seines Zeigefingers die Anzeigen zu lesen. Er schob den Finger stockend von Wort zu Wort. Diese Lesetechnik hatte er im Klassenzimmer gelernt und nie abgelegt. Wenn er bei einer Anzeige über die Wörter »professionell«, »intelligent« oder »abenteuerlustig« stolperte, fiel bei ihm eine Klappe zu und sein Finger tastete sich zur nächsten Anzeige.

Diese anstrengende Aufgabe – lesen, nachdenken, weiterlesen – beanspruchte Zeit. Jamie hatte den Tee ausgetrunken und den Kuchen aufgegessen, zwei Zigaretten geraucht, war aufs Außenklo gegangen und hatte fünfzehn Frauen ausgeklammert, bevor er schließlich auf eine Anzeige stieß, die ihm genau das zu verheißen schien, wonach er suchte.

Er las sie laut, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich dort stand und seine Vorstellungskraft ihn nicht aufs Glatteis führte.

Reife Dame, die gerne kocht, gärtnert,

liest, Musik und Tiere mag, wünscht die

Bekanntschaft eines gleichgesinnten Herren

im Hinblick auf Freundschaft und gemeinsame

Unternehmungen zu machen. Chiffre 218

Genau das war es. Er holte den blauen Kugelschreiber aus dem zerbrochenen Ohr der Keramikkatze im Glasschrank und umkringelte die Anzeige vorsichtig. Jetzt kam der schwere Teil: Er musste sich bei der unbekannten Dame brieflich vorstellen.

Dafür brauchte er Briefpapier und er meinte, irgendwann im Haus ein relativ annehmbares gesehen zu haben. Aber wann das gewesen war und wo es jetzt sein konnte – tja, das war etwas anderes. Im oberen Schlafzimmer stand ein Koffer von Tante Alice, in den Onkel Mick nach der Bestattung ihre Sachen eingeschlossen hatte. Da sie eine Frau gewesen war, könnte sie einen Briefblock gehabt haben, und der könnte dort oben vor sich hin gammeln. Bald nach dem Tode seiner Frau hatte Mick alles, was ihr gehört hatte, weggeräumt, denn er wusste ja, dass sie nicht zurückkommen würde. Er hatte es nicht ertragen, an frühere Zeiten erinnert zu werden. Und irgendwie hatte der kleine Jamie das verstanden.

Er nahm zwei Stufen auf einmal und öffnete die Tür zum staubigen Schlafzimmer. Er wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal hier oben gewesen war, wahrscheinlich gleich nach Micks Tod; seitdem hatte er keine Veranlassung gehabt, hochzukommen. Hier oben lauerten zu viele Erinnerungen an seinen kranken, bettlägerigen Onkel. Er sah Micks gezeichnetes Gesicht, in die dicken Kissen eingesunken wie ein verschrumpelter Pfirsich in einer Geschenkkiste, und er hörte, wie Mick mit krächzender Stimme vergeblich gegen den Kehlkopfkrebs kämpfte, der ihn schließlich umbringen sollte.

Jamie war in der Tür stehen geblieben, niedergedrückt von den Gedanken an diese entsetzliche Zeit, und fürchtete sich davor, das Zimmer zu betreten und die abgestandene Luft einzuatmen. Dies war Micks Zimmer und ihm schien, als sei er noch immer hier.

Alles war noch so, wie unmittelbar nach seinem Tod: das abgezogene Bett in der Ecke, die dunkle Kommode mit dem milchigen Spiegel, die angeschlagene Schüssel und der Krug auf dem kleinen Tisch am Fenster. Und wie er dort stand, fiel ein Sonnenstrahl auf die Dielen, als sollte er gewarnt werden, unbefugt hier einzudringen.

Der abgestoßene Koffer lag unter dem Bett, seine Geheimnisse wurden hinter verrosteten Schlössern verwahrt, und Jamie befürchtete, dass er nicht imstande sein würde, das Zimmer zu durchqueren und ihn zu öffnen. Aus Respekt vor seinem Onkel. Er würde sich einen eigenen Schreibblock kaufen. Er war sicher, dass er wegen der Fehler reichlich viele Blätter brauchte, denn er hatte gar keine Übung im Schreiben.

Behutsam schloss er die Tür und drehte den Schlüssel um. Er würde sofort zu Doris Crinks Poststelle fahren und einen besorgen.

»Die Post kommt aber spät«, murmelte Lydia und sah von ihrer Armbanduhr auf die Wanduhr von Cousin Ethel. »Viertel nach eins ... Jetzt kommt sie wahrscheinlich gar nicht mehr.«

Elizabeth Devine, die in einem gelben Pulloverkleid am anderen Ende des Tisches saß, ließ von ihrem Apfelstreusel mit Vanillepudding ab und sah ihre Tochter misstrauisch an.

»Warum bist du denn plötzlich so an dem Briefträger interessiert? Er ist verheiratet, weißt du ... und ich kann doch hoffen, dass du jemanden aus den unteren Schichten gar nicht erst in Erwägung ziehst – noch nicht einmal in deinen Träumen.«

Sie aß weiter. Die Tönung im Farbton violettes Stiefmütterchen war dunkler ausgefallen als erwartet. Sie hatte Susan bezichtigt, sie vergessen zu haben. Dabei hatte Susan keine Chance gehabt, Elizabeth unter dem Trockner hervorzuholen, ehe sie mit dem Artikel in der Cosmopolitan durch war: »Begehrt er Sie nur wegen Ihrer Brüste? Zehn Wege, es herauszufinden«.

»Mutter, bitte ...« Lydia aß ihren Pudding langsam und mit Bedacht, aufrecht auf dem Thonet-Stuhl sitzend ließ sie den Silberlöffel in regelmäßigen Intervallen in den Pudding gleiten.

»Du hast mir noch nicht viel über den Ausflug zum Women’s Institute erzählt. Ballymena kann so uninteressant auch nicht gewesen sein.« Ein Versuch, die Mutter von der Post abzulenken. Denn die konnte eine echte Miss Marple sein und der Hang dazu hatte sich zu Lydias Bestürzung mit dem Alter verstärkt.

»Ach, wie sehen Städte denn heute schon aus: Das sind ja nur noch Läden und ordinäre Pubs. Beatrice konnte wegen ihrer Hühneraugen sowieso nicht so weit laufen, also haben wir den Großteil der Zeit in Teestuben verbracht. Und in den meisten wissen sie gar nicht mehr, wie man eine richtige Tasse Tee zubereitet. Sie wärmen die Teekanne vorher nicht an. Beattie und ich schmecken das beim ersten Schluck.«

»Habt ihr euch nicht beschwert?«

»Beim ersten Mal schon. Da ist der Manager gekommen. Ach, du kennst solche Typen: kaum aus den Windeln ... ein junger Stenz in einem Anzug von der Stange und in Sneakers. Er hat Beattie und mich angesehen, als ob wir verrückt wären, dann hat er gesagt: ›Ladies, was meinen Sie, wo wir hier sind, im Viktorianischen England? Dies hier ist eine Cafeteria. Sehen Sie den großen blubbernden Fünf-Liter-Stahlbottich da drüben? Das ist die Antwort des zwanzigsten Jahrhunderts auf die Teekanne. Sie steht allen zu Diensten, die hier reinkommen, und ich hatte noch nie irgendwelche Beschwerden, bis heute.‹ Grässlich, er wurde laut und rot und die Leute haben sich zu uns umgedreht. Beattie und ich haben uns geschämt.«

»Wie schrecklich.« Lydia griff nach ihrer Serviette. »Und was habt ihr getan?«

»Na ja, ich dachte, den grünen Jungen lasse ich damit nicht durchkommen, also hab ich gesagt: Ich würde mich freuen, wenn Sie uns etwas höflicher behandeln würden, junger Mann.«

»Gut gemacht! Und was hat er dazu gesagt?«

»Ach, es wurde nur schlimmer. Er hat gesagt: ›Wenn Sie meinen Tee nicht mögen, schlage ich vor, dass Sie woanders hingehen, denn ich habe ein Geschäft zu managen und keine Zeit, hier rumzustehen und mit zwei alten Schrullen wie Ihnen über Teezubereitung zu diskutieren.‹«

»Was für eine Frechheit!«

»Genau, das war wirklich unverschämt. Also sind wir aufgestanden. Die arme Beattie konnte mit ihren Hühneraugen kaum laufen und hat gesagt: ›Machen Sie sich keine Sorgen, wir sind schon weg. Sie haben eine schlechte Kinderstube gehabt und wenn Sie mein Sohn wären, dann würde ich Ihnen die Ohren langziehen!‹ Und weißt du was, als wir gegangen sind, haben die Leute im Café applaudiert, und er war außer sich vor Wut.« Elizabeth schob das Schälchen mit dem Nachtisch fort. »Gibt es schon Tee?«

»Ich mache uns welchen und ich verspreche dir, die Teekanne anzuwärmen«, sagte Lydia lächelnd. »Es tut mir so leid, Mutter. Hört sich nicht so an, als hättest du einen schönen Tag gehabt.«

»Ach, das haben wir schnell weggesteckt. Wir wollten uns von dem jungen Burschen doch nicht den Tag verderben lassen und haben uns was gegönnt. Beattie hat sich eine schöne Malen-nach-Zahlen-Vorlage gekauft, auf der eine Stute mit Fohlen vor einem See steht, und ich habe mir den kleinen Wandteppich mit der Hütte gekauft und diese Stützstrumpfhose von Wolford mit den verstärkten Zehen, die ich dir schon gezeigt habe. Und später haben wir Sandwiches im Lakeside Hotel gegessen. Da wissen sie wenigstens, wie die Sachen zubereitet werden ...«

Lydia stand auf, um den Tee zu machen.

»... Georg-Jensen-Silber und dieses zartrote Rosengeschirr, das deine Tante Hattie so geliebt hat. Weißt du, das gab es neunzehnhundertdreizehn in Belgien, als sie Au-Pair-Mädchen bei den Vansittarts war. Oh, das war eine vornehme Familie, Aristokraten, glaube ich, ...«

»Wirklich ...?« Lydia hörte kaum zu. Sie war an die endlosen Monologe ihrer Mutter gewöhnt. Sie warf einen Blick in den Garten, den sie heute besonders schön fand. Besonders stolz war sie auf ihr Gemüsebeet; das Anpflanzen von Karotten, Kartoffeln, Blumenkohl und Rosenkohl drückte ihre Naturverbundenheit aus und ihr Vertrauen in die Kraft der Natur. Für Lydia beschränkten sich Ordnung und Sauberkeit nicht aufs Haus, sie schrubbte auch den Bürgersteig, schnitt die Hecken und mähte den Rasen.

»... und danach haben wir Flaschendrehen gespielt und dann hat uns Mrs Leslie Lloyd-Peacock Dias von ihrer Reise nach Kanada gezeigt. Oh, Mrs Lloyd-Peacock ist eine wahre Dame! Sie war mit den Rickman-Ritchies bekannt, weißt du, mit den Leinenhändlern. Oh, sehr nobel und wohlhabend und solche guten Freunde von Vaters ...«

»Mmh ...«, murmelte Lydia. Zwischen den Gemüsereihen stachen ihr ein paar hässliche Löwenzahnblüten ins Auge, die in der Mittagsbrise mit den Köpfen nickten, und sie fragte sich, wie sie die um alles in der Welt so lange übersehen haben konnte. Sie nahm sich vor, gleich nach dem Tee Unkraut zu jäten.

Sie servierte den Tee und erlaubte sich einen kurzen Seitenblick den Flur herunter, aber es war immer noch keine Post gekommen. Ihre Mutter durfte die Briefe auf keinen Fall aufheben, denn ihre Anzeige war vor Kurzem erschienen und sie wartete jetzt hoffnungsvoll auf einen Umschlag mit Antworten.

Elizabeth untersuchte die Strickbündchen ihres Pulloverkleides. »... sie war so geschickt, sie konnte jedes Zopfmuster nachstricken, das man ihr vorlegte, Loch-, Perl- oder Patentmuster, keltische Muster, Norweger muster – und über ihre Strickhäschen hat die ganze Gemeinde gesprochen. Was dir nur in den Sinn kam, sie konnte es herstellen ...«

Sie ließ von ihrem Strickbündchen ab und sah Lydia prüfend an, die jetzt Tante Doties Teewärmer hervorkramte – ein erstaunliches Objekt in Gestalt einer gehäkelten Erdbeere.

»Weißt du, bei Mrs Leslie Lloyd-Peacocks Dias musste ich wieder ans Meer denken.«

»Ach, wirklich«, sagte Lydia, die kaum zuhörte. »Wie kommt’s?«

»Ich habe mich nach Ferien gesehnt. Ich möchte mal wieder nach Portaluce. Lass uns nächste Woche zu Gladys fahren, ja?«

»Meinst du das ernst?« Plötzlich war Lydia alarmiert. Sie hatte keine Lust zu verreisen, bevor der Umschlag eingetroffen war. »Du meine Güte, Mutter, du streitest dich doch dauernd mit Gladys.«

»Aber Gladys fängt an! Sie war schon immer sehr aufbrausend.« Mrs Devine sprach zu der Zuckerdose, plötzlich in Gedanken versunken. »Kommt nach ihrer Tante Millicent.« Lydia spürte, dass ihre Mutter in den nächsten Rückblick abdriftete.

»Ich sag dir was, Mutter: Wir fahren übernächste Woche. Was hältst du davon?«

»Warum nicht in der nächsten?«

»Ach, weißt du ...« Lydia wusste nicht, was sie sagen sollte. »Ich bin einfach noch nicht bereit dafür. Ich bin müde.«

»Ich dachte, deswegen macht man Ferien: weil man müde ist.« Elizabeths Augen verengten sich. »Du führst irgendetwas im Schilde.«

»Nein, Mutter. Ich führe gar nichts im Schilde. Außerdem müssen wir Tante Gladys unsere Ankunft eine Woche im Voraus mitteilen. Es ist Hochsaison, weißt du.« Lydia bot ihr eine Platte mit Kirschkuchen an. »Möchtest du ein Stück?«

Doris Crink, die Poststellenleiterin, war eine attraktive Witwe Anfang fünfzig – klein, schlank und gepflegt –, die noch Wert auf ihr Äußeres legte. Ihr Mann war frühzeitig ums Leben gekommen. Sie waren erst vier Jahre verheiratet gewesen, als er von einem Laster überfahren wurde, an dessen Steuer ein kurzsichtiger Rentner saß, der leider gerade ein Zitronen bonbon auspackte. Seit diesem verhängnisvollen Vorfall konnte der bloße Anblick eines solchen Bonbons Doris in Panik versetzen. Doch hatte sie sich von dieser Katastrophe nicht unterkriegen lassen und hatte auch nie die Hoffnung verloren, noch einmal zu heiraten. Sie pflegte sich und hielt so die Flamme der Hoffnung am Brennen. Konnte man denn wissen, wann der richtige Mann hereinschneite und aus der Flamme ein loderndes Feuer wurde?

Doris war überrascht, als Jamie McCloone hereinkam. Da er nur selten Briefe bekam oder versandte, hatte er kaum Grund, die Post aufzusuchen. Allerdings hatte er ein Sparkonto, von dem er zu ihrer Freude nur selten kleine Beträge abhob. Es war eine beträchtliche Summe darauf – dreitausendeinhundertneunundzwanzig Pfund und fünf Pence, um genau zu sein –, die bald nach dem Tod seines Onkels eingezahlt worden war.

Ms Crink hatte das Geschäft von ihren Eltern geerbt und schon immer betrieben. Deswegen kannte sie auch die Geheimnisse der meisten Einwohner der kleinen Ortschaft. So wie eine kluge Hellseherin von der Kleidung eines Menschen und dem, was er sagt, auf dessen Zukunft schließen kann, so konnte Doris auf den Zustand einer Ehe oder die genaueren Umstände von Menschen über die Briefe, die sie bekamen oder die Transaktionen, die sie über ihre wurmstichige Theke laufen ließen, schließen.

»Noch eine rote Mahnung von den Gaslieferanten für die Kennedys in Nummer neun«, sagte sie dann etwa. »Wahrscheinlich hängt Thomas wieder an der Flasche.«

»Die Tochter von Betsy Bap ist wieder arbeitslos«, bemerkte sie bei einer anderen Gelegenheit. »Sie hat diesen Monat schon den dritten Wohlfahrtsscheck eingelöst. Sie kommt eben nach ihrer Mutter: was für eine Hure, und immer gleich mit dem Kopf durch die Wand. Selbst unser Herrgott könnte nicht mit der zusammenarbeiten.«

Diese Spekulationen und die Verleumdungen der Leute von Tailorstown tauschte sie mit ihrer Schwester Mildred aus, die im Kleiderladen nebenan arbeitete, bei Harveys Mode für Sie und Ihn. Beim Abendessen in ihrer beengten Küche hinter der Poststelle ließen sich die beiden Damen die Ereignisse des Tages noch einmal durch den Kopf gehen, wogen ab, was gesagt, getan und gekauft worden war, und trugen Beweismaterial zusammen. Manchmal konnte der Kauf von Seidenstrümpfen und das Abheben von Geld am selben Tag – und durch ein und dieselbe Person – ihre Vorstellungskraft wie eine Rakete in Cape Canaveral anfeuern, nur um gleich darauf das Feuer aus den Triebwerken zu nehmen und sie zur Erde zurücktrudeln zu lassen.

»Ach, komm schon, sie wird doch keine Affäre haben? Sie hat gerade erst geheiratet«, bemerkte eine der Schwestern etwa. Und dann entgegnete die andere vielleicht: »Ein Teufelsbraten wie Mickey McCourt würde seiner Frau doch nie erlauben, so eine Strumpfhose zu kaufen, oder? Irgendwas ist da im Busche, da kannst du aber sicher sein.«

Als Jamie McCloone auf Doris Crink zuschritt, setzte sie die Brille ab, denn sie meinte, ohne besser auszusehen.

»Jamie, ich habe dich aber lange nicht gesehen. Wie geht es dir denn?«

»Ach, ganz gut, Doris. Nur mein Rücken macht mir zu schaffen.«

»Ach, das tut mir aber leid. Das mit dem Rücken macht die Runde. Aggie Coyle hat ihr Rücken fast umgebracht.« Doris sah Jamie freundlich an. Er war vielleicht kein Bild von einem Mann, aber er war immer höflich und er hatte dreitausendeinhundertneunundzwanzig Pfund und fünf Pence auf seinem Sparbuch und keine Frau, die das so nebenher ausgeben konnte ... jedenfalls, dachte Doris müßig, noch keine Frau. »Ist es Rheuma?«

»Nee, der Arzt sagt, es is Ischias. Und er hat mir Tabletten dagegen verschrieben und will, dass ich ein paar Tage an der See verbringe.«

»Das ist ein guter Rat, Jamie. Bestimmt musst du auf der Farm immer schwere Sachen heben.« Sie stützte sich auf die Theke und lehnte sich vertraulich zu ihm rüber. »Weißt du, ich hatte letzten Winter Probleme mit meinen Ohren und Dr. Brewster hat mir genau dasselbe gesagt. Er hat gesagt: Doris, wissen Sie, was Sie wirklich brauchen?«

»Wirklich, hat er dir denselben Rat gegeben?«

»Ja, hat er. Er hat gesagt: ›Doris, mit Ihren Ohren brauchen Sie einen Urlaub an der See in Portaluce‹. Und weißt du was? Ich bin seinem Rat gefolgt und habe eine Woche Ferien gemacht«, sagte Doris und schlug triumphierend auf den Tresen. »Und als ich zurückgekommen bin, war das mit den Ohren wie weggeblasen.«

Jamie schob die Kappe zurück, um seine Kopfhaut zu lüften. Es machte ihn nervös, schmeichelte ihm aber auch, dass eine einfühlsame Frau wie Doris ihm das anvertraute.

»Junge, Junge! Hat er dir dasselbe gesagt. Is ein kluger Mann, der Dr. Brewster. Er weiß gleich, was mit einem nich stimmt, er muss einen einfach nur ansehen.«

»Ja, und ein Gentleman is er auch.« Doris holte tief Luft und schüttelte den Kopf. »Stochert und sticht nicht an einem herum. Wirklich ein ordentlicher Mann, man könnte sich keinen Besseren wünschen, wirklich nicht.«

»Ja, da hast du recht, einen Besseren könnte man nicht finden.« Jamie kratzte sich am Ohr und setzte die Kappe wieder auf.

»Wolltest du Briefmarken, Jamie?«, fragte sie und schlug diensteifrig ihr Buch auf. Ein anderer Kunde hatte den Laden betreten und sie wollte nicht im allzu freundlichen Gespräch mit Jamie gesehen werden, damit sich keine Gerüchte verbreiteten.

»Ja, Doris, zwei Briefmarken und zwei Umschläge. Und dann noch so’n Block von diesem Basildon Bond da drüben.«

Doris hob eine Augenbraue und fragte sich, was Jamie McCloone wohl vorhatte. Sie merkte sich seine Wünsche, um sie nachher mit Mildred zu erörtern.

Sie addierte die Summen mit einem Bleistift. Jamie beugte sich zu ihr herab und flüsterte ihr ins Ohr: »Und ich müsste was abheben für die Reise, du weißt schon.«

»Selbstverständlich, Jamie. Wenn du bitte dieses Formular hier ausfüllst, ich bin gleich wieder bei dir.« Doris sah den Jugendlichen hinter ihm an, alle Gedanken an eine Romanze hatte sie für den Moment beiseitegeschoben.