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»Hierher, Sechsundachtzig.«

Die Stimme – boshaft, dunkel und drohend – rollte wie Donnergrollen auf den Jungen zu. Er traute sich nicht aufzublicken, sondern hielt den Blick auf seine nackten, schmutzverkrusteten Füße gesenkt und schlurfte weiter voran. Er hörte, wie der Regen ans Stabkreuzfenster prasselte und das Feuer im Kamin knackte und zischelte. Bei dem gefürchteten Befehl spannte er die Bauchmuskeln gegen den Schlag an, der unweigerlich folgen musste.

Er ging so langsam wie möglich über die verblassten Kolibris und Pfauen des Teppichs auf die Stimme zu.

Er kannte das Zimmer gut, denn er war schon oft in diese muffigen vier Wände gezerrt worden. Die düstere Einrichtung war ihm vertraut: die dunkle, klauenfüßige Anrichte mit dem silbernen Service, das immer klirrte, wenn die Tür geschlossen wurde, das Velourssofa mit den gebrochenen Federn und den abgewetzten Armlehnen, der Farn in seinem kupfernen Übertopf.

Doch besser als alles andere kannte er das Bett in der Ecke hinter den Samtvorhängen. Er hatte jede Delle und jede Wölbung der Matratze zu spüren bekommen, kannte jede Furche in der Chenille-Steppdecke und den atemraubenden Gestank der gestreiften Nackenrolle nach Schweiß und Haaren. So oft war sein Gesicht dort hineingedrückt worden.

»Komm näher.«

Die Stimme war etwas höher geworden, nur ein klein wenig – und der Junge wusste trotz seiner Unschuld, dass das zu diesem grausamen Erwachsenenspiel gehörte. Er war die in die Enge getriebene Maus, mit der die Katze eine Weile spielen würde. Langsam schob er den Fuß auf den Kopf des zweiten Pfaus. Er hatte nur noch anderthalb Vögel vor sich.

»Ich höre, du bist wieder böse gewesen, Sechsundachtzig. Und das nach all dem, was die guten Schwestern in dieser Schule für dich getan haben.«

Der Junge begann zu weinen. Der Pfau verschwamm und wirbelte in seinen Tränen herum. Er schluckte salzige Schluchzer herunter und hoffte, dass sein erbärmliches Aussehen etwas Mitleid erregte, vielleicht sogar einen der seltenen Strafaufschübe erreichen konnte. Er weinte herzzerreißend, er wollte seinen Schmerz zeigen, bis er keine Tränen mehr hatte, bis seine Kehle wund war. Aber nichts geschah, die Stimme blieb stumm. Der Raum vibrierte mit seinem Kummer, aber nur er selbst bemerkte es. Es war sinnlos, das wusste er.

Nach einer Weile hörte er auf, wischte sich die Augen mit dem ausgeleierten Ärmel seines Pullovers und ergab sich in sein Schicksal. Er war schuldig. Auch wenn er Hunger gehabt hatte und die Steckrübe wirklich um ein Haar aus dem Sack gefallen wäre.

»Eine Rübe, eine ganze Rübe, du gieriges Schwein!« Die Stimme hob sich bei den letzten beiden Worten und peitschte wie eine Welle um das Kind.

»Komm her. Jetzt.«

Er ging schnell zum letzten Pfau, weniger als einen halben Meter von seinem Ankläger entfernt, aber er blickte weiter nach unten und war wieder kurz davor, in Tränen auszubrechen. Der Atem des Mannes stank nach saurer Milch und Fischköpfen; er spürte, wie der faulige Geruch über sein Gesicht strich. Wenn er den Blick hob, würde er gewiss ohnmächtig werden.

»Hast du etwas zu deinen Gunsten zu sagen, Junge?«

Er versuchte, den Kopf zu heben, aber das tat weh. Der sicherste Weg, sich vor brennenden Blicken zu ducken, war, den Kopf gesenkt zu halten, das schützte auch vor Schlägen direkt ins Gesicht. Bis jetzt hatte ihm das Waisenhaus mit seinen gefliesten Fußböden, kiesbestreuten Höfen und grasigen Gärten ein wenig Sicherheit geboten, nicht aber der alte Teppich mit seinen verblassten Vögeln. Es stand immer schlecht um ihn, wenn er wieder einmal auf den Teppich herabstarrte.

»Ich hatte Hunger, Sir«, platzte er zur Verteidigung heraus, hob schließlich doch sein tränenverschmiertes Gesicht und sah in die rotgeäderten Augen seines Peinigers. Er kannte die Züge des Mannes sehr genau, es waren die des schwarzen Mannes aus seinen Alpträumen.

Die Nase war spitz und porös wie ein Steinkeil. Ein schiefer Mund mit grässlichen Zähnen – wie ein Schlitz in einem Getreidesack – war zu einem halben Grinsen verzogen. Bei dem blassen, klumpigen Fleisch musste er an die Haut auf seinem Haferschleim beim Frühstück denken. Es fiel von den Wangenknochen in schlaffen Falten auf den Hals des Mannes herab. Das weißlich gelbe Haar war überraschend üppig und mit Öl zurückgekämmt, sodass man die Spuren des Kamms erkennen konnte. Seine großen, schrumpeligen Ohren standen wie Blumenkohl vom Kopf ab.

»Du leugnest nicht einmal, Sechsundachtzig?«

»Nein, Sir.«

Der Junge zitterte. Angst wühlte in seinen Eingeweiden. Der schwarze Rohrstock grinste ihn hinterhältig aus der Ecke an. Er betete, dass es wenigstens schnell vorbeigehen würde.

Aber dann klopfte es laut und unheilverkündend an der Tür. Im Zimmer dröhnte das Klopfen nach. Der Junge hielt die Luft an.

»Ja? Was ist los?« Bei den Worten klirrte das Silber in der Anrichte. Die Tür öffnete sich.

»Direktor Keaney, können Sie bitte mitkommen? Es gab einen Vorfall im Hof. Schon wieder Zweiunddreißig.«

Mutter Vincent stand empört in ihrer schwarzen Tracht in der Tür, das strenge, vom gestärkten Schleier gerahmte Gesicht unbewegt wie das der Pikdame. Sie sah zwischen Keaney und dem Jungen hin und her. Etwas Grausames bäumte sich zwischen den beiden auf, dann fiel es in sich zusammen.

Keaney erhob sich.

Die Frau hatte sein Spiel verdorben, sie hatte eine Karte aufgedeckt, die nicht für ihre Augen bestimmt war. Der Junge dankte Gott und der Direktor verfluchte ihn.

»Ich bin sofort da, Mutter Oberin. In der Zwischenzeit bitte ich Sie, dafür Sorge zu tragen, dass der Junge den Boden des Speisesaals scheuert – an den nächsten fünf Abenden.«

Mit voller Wucht schlug er dem Jungen die geballte Faust ins Gesicht. Der Junge krümmte sich. Blut schoss ihm aus der Nase. Keaney schubste ihn auf die Nonne zu.

»Raus mit dir, du nutzloser Bettler!«

Sechsundachtzig konnte nicht glauben, dass ihm die Grausamkeit des Rohrstocks erspart geblieben war. Zum Dank hätte er hundert Böden an hundert Abenden geschrubbt.