5
Tailorstown, ein kleines Dorf in der Grafschaft Derry, hatte anfangs aus dem Lebensmittelhändler Flynn, dem Barbesitzer O’Shea, dem Bestatter Duffy, ein paar verstreuten Häusern und der unabdingbaren Gemeindekirche bestanden. Über die Jahrzehnte war es durch die unvermeidlichen Anstrengungen der erwähnten Getreuen und einen steten Zustrom von Händlern und Spekulanten angewachsen. Die Damen aus der Hemdenfabrik lernten die Maurer aus den Sozialsiedlungen kennen und bald füllten sich die Schulen und Kirchenbänke mit den Folgeerscheinungen ihrer Leidenschaften. Tailorstown wurde zu einer aufstrebenden Kleinstadt.
Für Außenstehende war Tailorstown nicht mehr als ein Kaff, das nirgendwohin führte, überragt von den Gipfeln der Slievegerrin-Berge, die weder bei Touristen noch bei Abenteurern hoch im Kurs standen. Wie die meisten kleinen Ortschaften war Tailorstown nichts Besonderes und nur für die Einwohner und die örtliche Geschichtsgesellschaft von Bedeutung. Und die war aus Frustration von einem pensionierten Schuldirektor gegründet worden, der nach all den vielen Jahren, in denen er den Schülern den Verstand aus dem Kopf gehämmert hatte, nun eine Beschäftigung brauchte, die seine Bitterkeit in Schach hielt.
Jamie McCloone machte sein Rad vom Geländer der Arztpraxis los und schob es mit glitzernden Speichen und wie Grillen zirpenden Rädern die Hauptstraße hinunter. Auf der Straße war an diesem sonnigen Morgen kaum jemand zu sehen. Die Mütter arbeiteten in den Küchen, die Väter in den Geschäften oder auf den Feldern und die Kinder tobten in den Gärten und Höfen herum und freuten sich über die ersten Ferientage.
Jamie war friedlich gestimmt und zufrieden, dass er in der Nachbarschaft dieses ruhigen Ortes wohnte. In Momenten wie diesen fühlte er sich wie ein Zweig in einem Fluss. Vielleicht war er abgebrochen und unbedeutend, vielleicht wurde er manchmal über Stromschnellen geschleudert, doch kam er immer wieder frei, um sich von der großen Kraft forttragen zu lassen, von der er ein Teil war. Tailorstown war seine Heimat.
Die Ereignisse des Morgens hatten ihn aufgeheitert – die Entdeckung der »Einsame Herzen«-Rubrik, die gute Nachricht des Arztes und die Aussicht auf ein paar Tage an der See. Das wollte er in einer Kneipe begießen. Aber in welcher? Sie lagen alle nur einen Steinwurf entfernt. Er musste scharf nachdenken, denn er hatte bei allen anschreiben lassen, bei Hickie, Doolan und bei O’Shea. Aber er kam nicht darauf, in welchem Pub er am höchsten in der Kreide stand, wo man ihn also am wenigsten gern sehen würde. Mit gerunzelten Brauen dachte er ein paar Minuten darüber nach, bevor er sich schließlich für O’Shea entschied, weil es am nächsten lag und er ein paar Shilling dabeihatte, außerdem war Slope gar nicht so übel und ...
»Slope« O’Shea – Barbesitzer, Hausmeister, Putzmann und schon seit vielen Jahren Peggys leidender Ehemann – hatte einen Hang, unangenehm aufzufallen, und wenn er getrunken hatte, machte er oft unüberlegte Bemerkungen über seine Artgenossen. Er war gerade dabei, die Kneipe zu öffnen, denn es war eine lange Nacht gewesen und er hatte verschlafen. Jamies Anblick war ihm nicht besonders willkommen. In seinem Kopf hämmerte es und sein Magen zog sich jedes Mal zusammen, wenn er einen Barhocker anhob oder einen Stuhl an einen Tisch zurückstellte.
»Morgen, Slope«, rief Jamie. »Schön heute, nicht?«
Er hievte sich auf einen der Barhocker am Tresen, klemmte die Füße unter die Schiene und stützte sich mit den Ellenbogen auf den blau geäderten Resopaltresen.
»Ja, Jamie, sieht nach ’nem guten Tag aus«, seufzte Slope.
Seiner Berufung getreu hatte Slope über die Jahre hinweg die Kunst verfeinert, geistlose Unterhaltungen endlos in die Länge zu ziehen. Im Moment war er jedoch nicht gesprächig. Nur widerwillig ließ er das Umräumen und öffnete die halbhohe Tür hinter dem Bartresen. Er hatte den schleppenden Gang, die langsame Art und dazu den erstaunten und leeren Blick eines Mannes, der vorzeitig aus einer Irrenanstalt entlassen worden war und sich immer noch klarmachen musste, dass ihm ein Arzt tatsächlich die Entlassungspapiere unterschrieben hatte. Seine nach außen schielenden Augen schienen fest auf ein übernatürliches Unglück in naher Zukunft gerichtet zu sein.
»Wie immer?«, fragte er Jamies linkes Ohr.
»Ja, und einen winzigen Schluck von dem Portwein, wenn du noch welchen hast.«
Jamie erhob sich halb vom Hocker, um das Geld aus der Hosentasche zu klauben. Ein paar Augenblicke später knallte er eine Handvoll Münzen auf die Theke – zusammen mit einer Handvoll Samenkörner, einem Busticket, einer rostigen Flügelmutter, einem gebrauchten Streichholz und ein paar Kekskrümeln.
»Du hast nicht zufällig Barn Potts gesehen, oder?«
»Na ja, ja und nein«, sagte Slope ausweichend. »Suchste etwa nach ihm?«
Er stellte den Black Bush Whiskey vor Jamie und bemühte sich, ihm nicht in die Augen zu sehen – was bei seiner Schielerei nicht schwer war –, daneben einen Krug Wasser und das Whiskeyglas und goss ein Glas Portwein ein.
»Der Mistkerl schuldet mir drei Pfund, die hat er sich schon vor ’n paar Monaten von mir gepumpt.« Mit zitternder Hand goss sich Jamie zwei Zentimeter Wasser in den Whiskey und nahm einen Schluck. »Also, hast du ihn gesehen?«
»Irgendwie ja und dann auch wieder nich, verstehste?«
»Nee, tu ich nich!«
Jamie wischte sich mit der Hand über den Mund und starrte Slope an. Er konnte es absolut nicht ausstehen, wenn man ihn wie einen Idioten behandelte. Slope weidete sich an Jamies Unbehagen und freute sich, dass er den Farmer provozieren konnte. Seit McCloone aufgetaucht war, hatte sich sein fast unerträglicher Kater mit einem verbissenen Hämmern bemerkbar gemacht.
»Also, es war so«, erklärte Slope, »ein Junge kam hier rein und ich dachte, er wärs ... hatte denselben Kopf auf den Schultern wie Potts. Aber als ich zu ihm hin bin, war er’s gar nicht.«
»Hast ihn also nich gesehen?«
»Wenn du mir so kommst, Jamie, sag ich mal, ich hab ihn nich gesehen.« Dann fügte er beiläufig hinzu: »Aber wenn ich ihn sehen sollte, dann sag ich ihm, dass du nach ihm gesucht hast.«
Darauf folgte eine angespannte Stille, in der Slope seinen Triumph auskostete und Jamie wie ein gerupftes Huhn dasaß.
»Warum haste das nich gleich gesagt?«, fragte er ihn.
»Was nich gleich gesagt?«
»Gesagt, dass du Barn Potts gar nich gesehen hast!«
»Na ja, wie ich dir schon gesagt hab, hab ich doch erst gedacht, ich hab ihn gesehen.«
Dabei hätte Jamie es belassen, hätte Slope nicht so triumphierend gegrinst, als habe er die Sache für sich entschieden. Das machte Jamie wütend. Gerne hätte er zurückgegeben: »Warum besorgst du dir eigentlich keine Brille, du schieläugiger Wichser?« Aber er wusste, wenn er so eine Bemerkung machte, würde er wohl auf der Straße landen. Da er noch einen Drink brauchte, entschied er sich dafür, Slope mit seinen Urlaubsplänen zu reizen.
Er nahm noch einen Schluck Whiskey, während der Barbesitzer seine verrückten Blicke über die Kneipe wandern ließ und sich fragte, was sein Kunde als Nächstes sagen würde.
»Könnte sie jetzt gut gebrauchen«, sagte Jamie, als hätte ihre verworrene Unterhaltung nie stattgefunden.
»Was kannste jetzt gut gebrauchen?«
»Na, die drei Pfund, die sich Barn Potts von mir gepumpt hat.«
»Und warum is das plötzlich so eilig? Mann, is ja nich so, als ob du gleich verhungerst, wenn du se nich kriegst.«
»Na ja, der Arzt hat gesagt, ich brauch mal Ruhe am Meer, bei meinem kaputten Rücken und so, und da wär’n die drei Pfund schon ganz gut für die Tage.«
Jamies Äußerung erzielte genau die erwünschte Wirkung.
»Was? Du brauchst Ferien? Mann, dein ganzes verdammtes Leben ist ein einziger Urlaub!«, schnaubte Slope und machte sich wieder ans Aufräumen.
»Wenn du ’ne verdammte Bar betreiben musst und den ganzen Tag Fässer durch die Gegend rollst, dann weißt du aber, was ’n kaputter Rücken is!«
»Ich habs am Ischias«, protestierte Jamie. »Der Arzt hat gesagt, ich brauch Ruhe.«
»Am Arsch! Nix als ’n Hexenschuss! Das ist doch, wenn die Weiber sich auf ’n Besen setzen und dir den Marsch blasen, oder?«
Jamie ignorierte den schlechten Witz. Jetzt wollte er lieber etwas Anteilnahme.
»Stimmt doch, in meinem Alter sollte ich das Ganze mal leichter angehn lassen«, sagte er, stellte das leere Whiskeyglas zur Seite und griff nach dem Portwein. »Und das muss ich auch mal sein lassen.« Er starrte ins Glas, aber es gelang ihm einfach nicht, Schuldgefühle wegen seiner täglichen Gewohnheit aufzubauen. »Aber was soll ich denn dann mit mir anfangen, wenn ich das nich mehr hab, he?«
Er kippte den süßen Wein in einem Zug herunter, knallte das Glas auf den Tisch und rülpste. Sein Gesicht glühte und eine Welle reinen Glücks überschwemmte ihn. Eine Minute lang. Er schwankte leicht auf dem Hocker und wischte sich mit der Hand über den Mund.
»Noch einen Kleinen, bitte, Slope.«
Der Kneipenbesitzer wollte ihn eigentlich wieder loswerden, aber ohne richtig unhöflich zu werden, und so ließ er das Aufräumen sein und ging wieder hinter den Tresen.
»Nur, wenn du dafür zahlst, Jamie.«
Er knallte das Geschirrtuch auf die Theke und begann, sie mit langsam kreisenden Bewegungen abzuwischen, während Jamie mit dem Haufen Münzen vor sich beschäftigt war. Zu Slopes Enttäuschung hatte er genug Geld dabei und so stellte Slope ihm noch ein Glas Portwein hin.
Dann schüttelte er eine Zigarette aus einem verkrumpelten Päckchen und steckte sie an. Er war sich bewusst, dass der Farmer auch eine haben wollte, aber es machte ihm Spaß, ihn soweit zu erniedrigen, dass er um eine bitten musste.
Jamie rutschte unruhig auf seinem Hocker hin und her. Er hatte seine Zigaretten absichtlich zu Hause gelassen, damit Dr. Brewster sie nicht bei ihm finden konnte. Jetzt würde er alles für eine geben.
»Hättest du wohl eine für mich, Slope?«
Die Männer nahmen tiefe Züge, bliesen den Rauch in die Luft und schwiegen angespannt. Es war ein unbehagliches Schweigen, das sich wie ein straffes Seil zwischen ihnen über einen Abgrund aus jahrelanger Abneigung spannte. Aber sie brauchten einander: Slope brauchte Kundschaft und Jamie den Drink. Auf dieser Grundlage basierte ihre Beziehung.
Die Sonne schien so heiß durch das große, fliegenverdreckte Fenster, dass Jamies Augen tränten und Slopes schlampige Bodenpflege deutlich zutage trat. Draußen dröhnte ein Laster auf der Straße nach Killoran vorbei. Jamie spürte die Vibration der Reifen unter seinen Ellenbogen auf dem Tresen, Slope unter seinen Kreppsohlen. Jemand pfiff dem Laster hinterher und kaum war der Pfiff verklungen, kam Miss Maisie Ryan auf ihren orthopädischen Sandalen herein, um das Geld aus der Pater-Pio-Spendenbüchse abzuholen, die Slope auf der Theke aufgestellt hatte.
»Der Sohn von Minnie Sproule is ’n unverschämter Lümmel«, beschwerte sie sich. Kaum hatte sie die Tür geschlossen, stand der Geruch von Mottenkugeln und Pfefferminz im Raum. Sie stellte einen gemusterten Baumwollbeutel auf dem Tresen ab.
»Na, wie geht’s, Maisie?« Slope strich die Asche ab.
»Nicht so gut, Mr O’Shea, mit meiner schlimmen Hüfte und den Ballen zehen, das macht mich fertig. Aber ich bete jeden Morgen um Genesung, mehr kann man nicht tun.” Sie wandte sich an Jamie.
»Und wie geht es Ihnen, Jamie? Ich hab Sie neulich im Gottesdienst gar nicht gesehen.«
»Nee, ich war im Bett, ich habs am Rücken, Maisie. Der Arzt sagt, es ist mein Ischias, und ich hab haufenweise Tabletten gekriegt.«
Slope drehte die Büchse um und begann das Geld zu zählen, wobei er sorgfältig wie ein Croupier Türmchen aus Kupfer- und Nickelmünzen aufstapelte. Maisie sah ihm dabei zu, während Jamie Maisie beäugte. Er sah einen Bullterrier im Tweedmantel mit einer stark spiegelnden Brille. Durch die Brillengläser waren Maisies Augen in dem aufgedunsenen Gesicht riesig, und ihr kleiner Mund war – wie fast immer – verachtungsvoll gespitzt. Sie trug ihre übliche Strickmütze, die sie heute trotz der Sommerhitze bis über die Ohren gezogen hatte.
Maisie hatte sich mit Leib und Seele der Kirche und der Weltverbesserung verschrieben. Sie war die pochende Arterie des Dorftratsches. Mit scharfer Zunge richtete sie über das Leben anderer, und jedes Gemeindemitglied wurde an ihren eigenen, unerreichbar hohen Maßstäben gemessen. Slope ging fast nie zur Kirche, aber er war entschuldigt, denn er war ein verheirateter Geschäftsmann, was bei Maisie mit Respektabilität gleichzusetzen war. Jamie, ein armer Junggeselle mit einem Alkoholproblem, bot eine viel bessere Zielscheibe.
»Wenn Sie mehr Zeit in der Kirche als in der Kneipe verbringen würden, würde Gott Ihnen vielleicht gar keinen kaputten Rücken geben, Jamie«, sagte sie triumphierend.
»Vielleicht ...« Er gab vor, das ernsthaft zu erwägen, während er dachte, was für eine aufdringliche alte Zicke sie doch war.
Auf einmal klopfte es ans Fenster. Die drei sahen Chuck Sproule, den Tunichtgut, draußen feixen.
»Wie sieht’s aus, Maisie?«, brüllte er. »Und du, Jamie? Spielst du Samstag wieder auf der ollen Quetschkommode?«
»Komm vom Fenster, Sproule, aber dalli, sonst komm ich raus und hol dich da runter!«, warnte ihn Slope.
»Hey, Slope!« Sproules Kopf verschwand und schoss dann erneut hoch. »Gesegnet sind die Schielenden, denn sie werden Gott zweimal erblicken!«
Slope schoss zur Tür, aber Sproule raste schon wie ein Jagdhund die Hauptstraße hinunter.
Der Barbesitzer knallte die Tür zu und kehrte mit hochrotem Gesicht hinter den Tresen zurück. Jamie hielt sich die Hand vor den Mund und verkniff sich ein Grinsen.
»Was ist daran komisch, Mr McCloone?« Slope starrte zornig in seine Richtung.
»Ich knöpf mir mal die Mutter von dem Lump vor«, sagte Maisie und warf Jamie einen feindseligen Blick zu. »Aber was soll schon sein. Der Vater hat seine Tage in der Kneipe verplempert und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, das wissen Sie ja auch, Mr O’Shea.«
»Da haben Sie recht, Maisie!« Slope zählte die Münzen in den Beutel. »Hier bitte: sechs Pfund und vier Pence.«
»Vielen Dank, Mr O’Shea.«
»Ich sag Ihnen, was Jamies Rücken kuriert, Maisie«, fügte er hinzu und sah einen Punkt nördlich von Maisies Augenbrauen an. »’Ne ordentliche Abreibung mit einer Ihrer Reliquien. Da würd er Sätze machen wie ein Ziegenbock. Haben Sie grad mal eine zur Hand?« Er grinste und legte eine Reihe gebrochener Zähne frei, das Vermächtnis eines Kunden, den er vor ein paar Monaten beleidigt hatte.
»Ich würde es begrüßen, wenn Sie nicht so grob wären, Mr O’Shea.«
Sie bückte sich, um das Geld in einer Plastiktüte zu verstauen. Jamie verspürte den plötzlichen Drang, ihr in den dicken Tweedarsch zu treten. Aber das spielte sich nur in seinem Kopf ab.
»Tschüs!«, rief sie und wandte sich zu ihm um. »Wenn es Ihrem Rücken wieder besser geht, kommen Sie hoffentlich wieder zum Gottesdienst, Jamie!«
»Na klar, dann komm ich wieder, Maisie.« Als Jamie sie ansah, verwandelten sich ihre riesigen Augen für einen Moment zu Kisten voller Bierflaschen unter einem blauen Himmel.
»Na gut, bis dann«, sagte sie, sehr zufrieden mit ihrer Mission.
»Bis dann«, riefen die Männer im Chor.
Die Tür fiel ins Schloss und auf den Pub senkte sich das übliche angespannte, verrauchte Schweigen.
In der Bücherei herrschte Flaute, als Lydia die Türen öffnete. Sean, ein Teilzeitmitarbeiter – jung, gut aussehend und sich dessen voll bewusst – lümmelte, Kugelschreiber kauend und in die Sportseiten des Derry Democrats vertieft, an seinem Schreibtisch herum. Da er Lydia nicht zu bemerken schien, machte sie durch ein Hüsteln auf sich aufmerksam.
»Oh, hallo, Miss Devine.« Er blickte hoch, machte sich aber nicht die Mühe aufzustehen. »Sie macht grad Pause. Gehen Sie doch einfach zu ihr rein«, sagte er und vertiefte sich wieder in die Zeitung.
»Ihnen noch einen schönen Tag, Sean. Wie ich sehe, arbeiten Sie so hart wie immer.«
Sie ging weiter und freute sich, dass die Beleidigung gesessen hatte. Sie spürte, wie er sich hinter ihr aufrichtete und ihr wütend nachsah, als sie an die Tür mit der Aufschrift »Privat« klopfte.
Daphne war wie immer froh, ihre Freundin zu sehen.
»Was für ein Zufall: Ich habe gerade an dich gedacht, Lydia. Ich hab dich ja seit Urzeiten nicht gesehen«, sagte sie und umarmte Lydia herzlich. »Ich könnte mir vorstellen, eine schöne Tasse Tee käme dir jetzt gerade recht?«
»O nein, vielen Dank, meine Liebe. Ich habe gerade Tee getrunken.« Lydia stellte die Handtasche auf den Boden und ließ sich auf einen Segeltuchstuhl sinken.
»Bestimmt nicht? Er ist eben frisch gemacht.« Sie hielt die Teekanne hoch.
Diese entspannte Haltung schätzte Lydia am meisten an ihrer Freundin. Daphne schien sich nie durch irgendetwas aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen. Sie war solide und verlässlich und scheute sich nicht, den Dingen auf den Grund zu gehen und Lösungen für Probleme zu finden, die Lydia für unlösbar gehalten hatte.
»Ich muss Mutter gleich vom Cut ’n Curl abholen. Aber vorher wollte ich dich noch um einen Rat bitten.« Sie zögerte. »Falls du einen Augenblick Zeit hast.«
Daphne setzte sich in den gegenüberliegenden Stuhl. »Alle Zeit der Welt. Seine Lordschaft sind etwas unterbeschäftigt, wie dir wahrscheinlich auch nicht entgangen sein wird.« Sie deutete mit dem Kopf zur Tür.
Lydia sah ihre Freundin anerkennend an. Sie trug ein korallen farbiges Twinset und einen passenden Baumwollrock. Die Farbe stand ihr, sie unterstrich ihren honigfarbenen Bob und gesunden Teint. Nur die an einer Kette hängende Goldrandbrille schmälerte den mädchenhaften Eindruck. Sie hatte etwas Enthusiastisches an sich, worum Lydia sie beneidete. Sie kam Lydia wie ein Kind vor, das gerade ein Geburtstagsgeschenk öffnete, ein Kind, das beim Versteckspiel immer die anderen suchte, das auf der Suche nach Neuem war, während Lydia in ihrem Versteck ausharrte und nicht gefunden werden wollte.
In der Highschool waren sie enge Freundinnen gewesen, doch danach waren sie getrennte Wege gegangen: Lydia hatte sich in Belfast zur Lehrerin ausbilden lassen und Daphne hatte am Ort einen Sekretariatskurs an einer Fachschule belegt und damit ein Jahr später eine Stellung bei der Bücherei bekommen, bei der sie geblieben war.
Ihre Freundschaft gründete auf gegenseitigen Respekt und Verständnis für die Umstände und Wünsche der anderen. Sie teilten ihren Kummer und zelebrierten ihre Erfolge mit echtem Einfühlungsvermögen und großem Wohlwollen.
Daphne war auch unverheiratet. Aber sie hatte einen Verlobten, einen Farmer namens John, mit dem sie schon mindestens zehn Jahre zusammen war. John weigerte sich zu heiraten, solange seine Mutter lebte, und es gab keine Anzeichen dafür, dass sich daran bald etwas ändern würde. Mit dreiundsiebzig war seine Mutter so rüstig und aktiv wie andere mit Mitte dreißig. Sie hatte nicht die Absicht, ihren einzigen Sohn und ihr Heim – sein Erbe – mit einer anderen Frau zu teilen, selbst wenn diese andere Frau so liebenswürdig und gutmütig wie Daphne war.
Der Gedanke an eine Heirat war einfach unvorstellbar.
»Erinnerst du dich an Heather Price aus der Schule?«, fragte Lydia. »Ziemlich groß, brünett und unscheinbar. Wir haben unsere Ausbildung zusammen gemacht.«
»Meinst du die Tochter von Ettie und Herbie?«
»Ja, genau. Du errätst nicht, was ich heute Morgen im Briefkasten hatte.«
Sie nahm die Einladung aus dem Umschlag und reichte sie ihr herüber. »Sie heiratet.«
»Wirklich? Wie nett!« Daphne setzte die Brille auf und sah die Karte an.
»Wahrscheinlich bekommst du auch eine, Daphne.«
»Hoffentlich! Es ist schon so lange her, dass ich mir mal einen netten Tag gemacht habe. Außerdem hab ich dann eine Entschuldigung, mir was Nettes zu kaufen.« Gedankenverloren setzte sie die Brille wieder ab. »Ich muss John gleich warnen, dass er seine Mutter frühzeitig bearbeitet. Sie kann sehr schwierig sein, weißt du ...« Sie sah von der Karte hoch. »Oh, Lydia, vergib mir, ich hab nur an mich gedacht. Das ist doch eine gute Nachricht. Freust du dich denn gar nicht darauf?«
»Das ist es ja gerade, Daphne. Ich ertrage nicht eine einzige Hochzeit mehr mit meiner Mutter. Ich muss mir eine andere Begleitung suchen. Sonst gehe ich nicht hin.« Sie lehnte sich betrübt zurück.
»Du meinst einen Mann.«
»Ja, natürlich meine ich einen Mann! Eine dieser fremden Kreaturen, die mein Vater missbilligt hat und die meine Mutter für anstößig befindet.« Sie seufzte und sah zum Fenster hinaus. »Oh, wie mich mein Leben deprimiert, Daphne. All meine Schulfreundinnen sind entweder verheiratet oder verlobt, nur ich bin immer noch allein. Ich fühle mich irgendwie verschmäht.« Genau in dem Moment funkelte der Verlobungsring an Daphnes Finger in der Sonne auf. Lydia entging dieser Zufall nicht. »Ich muss jemanden finden, der mich begleitet. Und wie soll ich in acht Wochen etwas schaffen, was mir in den vergangenen zwanzig Jahren nicht gelungen ist?«
»Das ist gar nicht so schwer, Lydia. Die Antwort wartet draußen auf dem großen Schreibtisch.« Sie stand auf und ging zur Tür.
Lydia sah erschrocken auf. »Wirklich, Daphne! Sean ist noch ein Kind, um Himmels willen!«
»Bitte vertrau mir, ich bin gleich wieder da.«
Sie staunte über Daphne, die auf alle Fragen eine Antwort zu haben schien. Und das Beruhigende daran war, dass sie meistens recht hatte. Lydia fand, dass sie viel zu gut für ihren monotonen Job war, wo sie nur Bücher stempelte und in die Regale stellte und die immergleichen Leute begrüßte. Sie hätte Hotelmanagerin werden sollen oder Krankenhausleiterin; so eine Stellung hätte einfach viel besser zu ihrer praktischen, anpackenden Art gepasst. Aber was konnte sie damit gemeint haben, sie hätte die »Antwort«?
Lydia brauchte sich nicht lange den Kopf zu zerbrechen. Daphne warf ihr den Mid-Ulster Vindicator in den Schoß und drängte sie, die zweitletzte Seite aufzuschlagen.
»Einsame Herzen?«, fragte Lydia ungläubig. »Das ist doch nicht dein Ernst, Daphne!«
»Warum denn nicht? Ist mir erst vor ein paar Tagen aufgefallen. Da ist doch nichts Schlimmes dran. Du bist einsam und willst einen anderen Einsamen kennenlernen. Setz eine Anzeige rein und guck, was passiert. Was soll daran verkehrt sein? Du weißt nie, wen du kennenlernen könntest.«
Lydia spielte mit der Idee. Daphne forderte sie heraus, sich zur Abwechslung mal etwas zu trauen. Und es war eine aufregende Vorstellung, diese neuen, ungeahnten Möglichkeiten zu erkunden. Trotzdem zögerte sie.
»Aber ist das nicht irgendwie anrüchig? Und der normale Weg ist das doch auch nicht?«
»Unsinn! Wenn du in einem Kaff wie Killoran lebst und schnelle Erfolge brauchst, dann musst du eben auch mal praktische Maßnahmen ergreifen. Außerdem hast du deinen Spaß dabei, und du kannst doch wirklich nicht wissen, wen du kennenlernst. Riskier doch mal was!«
Es klopfte.
»Kann ich jetzt Mittagspause machen?« Sean sah von Daphne zu Lydia, die beide kicherten.
»Ja, natürlich.«
»O Gott, ist es schon so spät? Mutters Haare! Ich muss sofort los.« Lydia winkte mit der Zeitung. »Kann ich die haben?«
»Natürlich. Du weißt, diese anspruchslose Zeitung könnte für dich den Beginn eines neuen Lebens bedeuten.«
Lydia lächelte. »Na, mal sehen, Daphne.«