10
Sechsundachtzig konnte nicht schlafen. Er lag in stockfinsterer Nacht auf dem Bauch und wusste nicht, wie spät es war, glaubte aber, dass es bald dämmern würde. Er fürchtete sich vor dem Licht ebenso wie vor der Dunkelheit, denn beide verbreiteten Angst und Schrecken. Die Bürden des Tages wurden in der Nacht zu den Dämonen, gegen die er ankämpfen musste.
Er konnte sich wegen seiner Schmerzen nicht auf den Rücken drehen, und auf einmal kam ihm wieder ins Bewusstsein, dass er ins Bett gemacht hatte.
Die anderen Kinder um ihn herum schnarchten und warfen sich in ihren qualvollen Träumen hin und her. Bald würde Schwester Veronica durch den Schlafsaal fegen und wie wild auf die große Triangel einschlagen. Bald würde sie die Bettdecken zurückschlagen und nach Anzeichen »unangemessenen Verhaltens im Bett« – wie sie es nannte – Ausschau halten. Bald müsste er sich entweder das nasse Laken umbinden oder es in der Wanne draußen waschen. Das hing von ihrer Stimmung ab.
Und auf einmal war er bereits mitten in dem trostlosen Geschehen, das er sich eben erst vorgestellt hatte. Sechsundachtzig sprang aus dem Bett und nahm Haltung an, sein Herz hämmerte und seine Kehle war wie ausgedörrt. Zusammen mit den anderen Jungen zitterte er beim Anbruch eines neuen Tages, dessen einzelne Minuten und Stunden sich elendig in die Länge ziehen würden und die er irgendwie ertragen musste.
Die Nonne kam langsam an den Bettreihen näher, sie beugte sich vor, untersuchte die Laken und schnupperte mit zuckender Nase. Zehnmal landete ihr Stock auf dem Hinterteil eines Jungen, wenn er Anstoß erregt hatte. Am Bett vor dem seinen hielt sie an.
»Du schon wieder, Vierundachtzig! Das dritte Mal in dieser Woche. Du wirst es nie lernen! Komm hierher!«
Mit dem Stock deutete sie vor das Bett. Vierundachtzig zog das Nachthemd über den Kopf und bückte sich pflichtbewusst, um die Schläge auf seinen nackten Hintern entgegenzunehmen.
Die anderen standen mucksmäuschenstill, als die Hiebe niedergingen und versuchten, nicht hinzusehen, sondern starr geradeaus zu blicken. Alle zählten mit und litten unter jedem Hieb; alle wussten, wie erniedrigend es war, das Bett genässt zu haben und die Demütigung der gnadenlosen Nonne ertragen zu müssen. An einem Morgen wachte man erleichtert auf einem makellos trockenen Laken auf und am nächsten auf einem nassen. Man konnte nichts dagegen tun, man konnte nur beten.
»Was ist das, Sechsundachtzig?« Die Schwester zeigte auf sein blutverschmiertes Laken.
»Ich weiß es nicht, Schwester«, stammelte der Junge.
Er hielt den Kopf gesenkt, wie immer, und sah auf seine nackten Zehen hinunter, die auf dem kalten Boden inzwischen schon blau geworden waren. Draußen krächzte ein Rabe im heulenden Wind.
»Bück dich. Lass mich mal sehen.« Das hatte er nicht erwartet. Er hätte alles getan, nur damit sie ihn nicht untersuchte. Er konnte jetzt schon das beleidigende Lachen beim Frühstück hören. Hätte sie ihn doch einfach nur geschlagen und er hätte es hinter sich. In dieser Notlage tat er das Einzige, was er konnte. Er begann zu weinen.
»Sechsundachtzig, ich sage es nicht noch einmal. Komm jetzt hierher!«
Sie schlug mit dem Stock gegen das Bettende. Sofort sprang er dorthin und zerrte sein Nachthemd ungeschickt in die Höhe. Die Nonne beugte sich herab. Beim Anblick der tiefen Wunden auf dem Gesäß des Kindes schreckte sie zurück. Wieder krächzte der Rabe, als mache er sich über ihn lustig. Sechsundachtzig zitterte in seiner Blöße und betete darum, dass es schnell vorübergehen würde.
»In Ordnung.« Ihre Stimme war nicht mehr hart. Er beugte sich automatisch vornüber und wartete mit schmerzhaft verkrampften Muskeln auf die Stockhiebe.
Aber nichts geschah.
»Nein, Sechsundachtzig. Wie ich sehe, hast du deine Strafe schon gestern Abend bekommen.«
Er konnte den Anflug von Mitleid in ihren Augen nicht sehen, als er das Nachthemd wieder herunterließ. Er schämte sich so sehr für das eben Erduldete, dass er nicht zu ihr hochsah.
»Und jetzt bring dein Laken zum Waschen.«
Sie ging zum nächsten Bett.
Von den zwanzig Jungen, die ins Bett gemacht hatten, mussten sich siebzehn die nassen Laken um die Taille knoten und sie zur Strafe den ganzen Tag herumtragen. Die übrigen drei hatten mehr Glück, denn sie mussten ihre nur auswaschen. Sie standen an der Pumpe im kalten Hinterhof, ihre Vergehen lagen als durchweichte Haufen vor ihnen im Waschzuber.
Schwester Veronica pumpte Wasser in die Wanne – ein brausender Schwall, mit dem die Jungen ihre Verderbtheit wegwaschen sollten. Sie packten die Karbolseife mit ihren kleinen Händen und rieben sie mit wunden Fingerknöcheln in den rauen Stoff.
Doch die Blutflecken waren schwer herauszubekommen, und so war Sechsundachtzig wieder der Letzte. Der Letzte, der sein tropfnasses Laken über den Stacheldrahtzaun zum Friedhof hängte, der Letzte in der Schlange für den Löffel Lebertran und das dürftige Frühstück.
Ihm war es egal. Er konnte sowieso nichts essen.
Der Lebertran wurde allen sechsundneunzig Jungen vom selben Metalllöffel verabreicht; er legte sich zähflüssig auf sechsundneunzig Zungen und jeder Junge wollte nichts mehr, als ihn Schwester Mary ins Gesicht zu spucken. Sechsundachtzig hatte gelernt, ihn schnell herunterzuschlucken, nicht darüber nachzudenken, seine Schüssel für den Schlag klumpigen Haferbrei hinzuhalten und sie sofort zum nächsten freien Platz im langen Speisesaal zu tragen.
Er ließ sich vorsichtig auf die Holzbank nieder. Doch bei der Berührung mit der harten Sitzfläche durchschoss ihn der Schmerz, ein Schmerz so erbarmungslos und brennend, dass es sich anfühlte, als läge er wieder in Keaneys Zimmer auf dem stinkenden Bett und müsse noch einmal seine brutalen Schläge ertragen. Er schloss die Augen und hielt den Kopf über die Schüssel gebeugt. Mit den Hinterbacken nur halb auf der Bank versuchte er zu essen.
Vierundachtzig, der sich des gleichen Vergehens schuldig gemacht hatte, saß genauso neben ihm. Er trug das Abzeichen des chronischen Bettnässers: ein nasses Laken um den Bauch. Ein kleiner Junge mit großen Augen und einem Geburtsmal, das wie rote Tinte über seinen blassen Hals lief. Sie hätten im selben Alter sein können – wer wusste so etwas schon? –, aber sie hatten jedenfalls die gleichen Verhaltens weisen, für die sie die gleichen Strafen erdulden mussten. Direktor Keaney mochte die Jungen klein und schwach. Wenn sie sich noch nicht wehren konnten und in ihren verängstigten kleinen Seelen eingesperrt waren.
Schwester Mary patrouillierte wie eine große Krähe mit hinter ihr herschleifenden Röcken im Saal auf und ab. Sie passte auf, dass kein Essen auf den Boden fiel und keine Fußkämpfe unter den langen Tischen ausgetragen wurden. Sie musste nur die dichtbesetzten Reihen gesenkter Köpfe hinuntersehen, um zu erkennen, welcher der Jungen am vorangegangenen Abend in den Genuss von Keaneys »Aufmerksamkeiten« gekommen war. Denn die wollten nichts essen; sie schluchzten hinter vorgehaltener Hand und tauschten ihre Schüsseln mit den Hungrigen neben ihnen, die Gewinn aus ihren Qualen zogen.
Sie sah, wie Vierundachtzig und Sechsundachtzig ihre Schüsseln mit den Jungen ihnen gegenüber austauschten, aber sie mischte sich nicht ein. Sie hielt sich aus den Angelegenheiten der Männer heraus. Schließlich waren diese Kinder in Sünde geboren – sollten sie etwa nicht verdient haben, was sie bekamen?