14

»Slope, die nächste Runde für meine beiden Freunde hier und für dich geht auf mich!« Jamie schlug mit einem Zehn-Pfund-Schein auf den Bartresen.

Er feierte seinen Entschluss, sich ins Lot zu bringen, den Alkohol und das Fettgebratene einzuschränken und einen anderen Mann aus sich zu machen. Morgen wäre er im Fegefeuer, sagte er sich, also konnte er heute Nacht doch dem Himmel einen Besuch abstatten.

Es war Samstagabend, aber noch früh; O’Sheas Bar war noch nicht voll. Neben Jamie saßen Paddy McFadden und Matty Dougan. Im Hinter zimmer spielten ein paar junge Männer Darts, unter ihnen auch Minnie Sproules unberechenbarer Sohn Chuck.

»Hast Du ’ne Fußballwette gewonnen oder was?« Slope drückte zwei Gläser unter die Black-Bush-Ausgießer, ganz mit der Bestellung beschäftigt.

»Nee, ich hab nichts gewonnen, nur das Recht, mich zu amüsieren«, sagte Jamie etwas wehmütig. »In dieser letzten Nacht vor meiner Diät, bevor ich hiermit aufhöre.«

Er nahm das Glas, sah begierig in die bernsteinfarbene Flüssigkeit und schwenkte sie mit einer Art selbstvergessener Ehrerbietung hin und her.

»Himmel, du bist ja übergeschnappt! Bis zur Fastenzeit isses noch sieben verdammte Monate hin!« Slope nahm den Schein an sich und legte Jamie das Wechselgeld an den Ellenbogen. »Aber wie sollst du das auch wissen, wenn du nicht zum Gottesdienst gehst.« Er machte Maisie Ryan nach und starrte spöttisch und vorwurfsvoll an Jamies Ohr vorbei.

»Mann, was ist das für ’ne alte Hexe.«

»Wer denn?«, fragten Paddy und Matty fast einstimmig.

»Diese neugierige alte Hure, Maisie Ryan.« Jamie trank einen Schluck Whiskey.

»Die beachte ich gar nich«, sagte Paddy. »Die is nich zufrieden, außer wenn se austeilen kann. Kein Mann, keine Maus, um die se sich kümmern kann, da liegt der Hase im Pfeffer.«

»Das nächste Mal, wenn se mir vorwirft, dass ich nich im Gottesdienst war«, sagte Jamie, der sich plötzlich durch den Alkohol sehr stark fühlte, »tret ich se in ihren dicken Hintern.«

Slope wurde gerufen und Jamies Absicht, Maisie schlechtzumachen, hing wie Giftgas in der Luft. Matty rettete die Situation und wechselte das Thema.

»Und warum willst du ’ne Diät machen, Jamie? Mit dir is doch nichts falsch, so wie du bist.«

»Och, weißte, da gibt’s ne ganze Menge, was besser werden könnte. Dr. Brewster sagt, wenn ich mir nich mehr so viel Fettes mache, geht’s meinem Herz und meinem Rücken und allem wieder besser.«

Daraufhin starrten sie auf die blau geäderte Resopaltheke und ließen diese Erkenntnis auf sich wirken. Matty sagte als Erster etwas.

»Ich würd mir nich so ’ne Mühe machen. Wir werden doch alle nich jünger und bald genug liegen wir alle inner Kiste.« Matty war ein unverbesserlicher Pessimist; ein Mann, dem es schlecht ging, wenn er sich gut fühlte, weil er Angst hatte, dass es ihm schlechter gehen würde, wenn er sich besser fühlte.

Er sah aus und benahm sich auch so, als sei er nie jung gewesen. Sein kantiges, vernarbtes Gesicht schien von einem Bildhauer zu stammen, der seine Brille verlegt hatte. Seine Wangenknochen stachen hervor, seine Augen lagen tief in den Höhlen, seine Nase war lang und spitz, sein Mund ein gewagter, aber schiefer Hammerschlag, der auch beim Lächeln und Sprechen nicht gerader wurde. Er war Farmer wie Jamie und hatte kein Interesse an Themen, die nicht mit dem Wetter, dem Land und dem Anstieg von Preisen zu tun hatten. Im Gegensatz zu Jamie musste er allerdings nicht abnehmen. Die Kleider schlotterten an ihm wie an einem Besenstiel.

»Na ja, es gibt noch einen anderen Grund, warum ich mich in Form bringen will«, sagte Jamie. »Paddy kennt ihn, aber ich kann mich zum jetzigen Zeitpunkt noch nich dazu äußern.« Er klopfte sich an den Nasen flügel. »Falls du verstehst, worauf ich hinauswill, Matty. Soll keine Beleidigung sein, ganz und gar nich.«

»Hab ich auch nich so gesehn!«

»Jamie, dein Geheimnis is bei mir sicher, kannste dich drauf verlassen.« Paddy rutschte auf seinem Hocker hin und her und unterdrückte ein Gähnen. Der Whiskey machte ihn müde.

»Jeder Mann hat doch das Recht auf sein Privatleben«, sagte Matty und fragte sich, was Jamie wohl vorhatte. Alles Mögliche kam ihm in den Sinn. Für ihn war Jamie ein Mann, der aus demselben Holz wie er selbst geschnitzt war. Sie waren in etwa gleich alt, unverheiratet und hatten keine Kinder, sie lebten beide auf geerbtem Land und ihre Träume waren so vertrocknet wie der von der Sonne aufgebrochene Torf im Moor.

»Haste recht, Matty«, stimmte ihm Paddy zu. »Ich meinte ja nur ...«

Den Satz konnte er nicht mehr beenden, denn in dem Moment hörte man draußen vor der Tür lautes Geschiebe und Gezerre. Ein paar Sekunden später flog die Tür auf. Die drei Freunde schwenkten auf ihren Hockern herum, um die Ankunft von Declan Colt & The Silver Bullets zu verfolgen. Zwei Bandmitglieder schleppten atemlos und mit roten Gesichtern Verstärker herein und nickten dem Trio zu, als sie an der Bar vorübergingen.

Zuletzt kam der Leadsänger, einen Stetson auf dem Kopf, die Arme locker schlenkernd mit einer Zigarette im Mundwinkel. Er trug ein violettes Satinhemd, dessen Kragen flach auflag wie die gespreizten Flügel eines Wanderfalken, dazu eine silberne Weste und eine hautenge weiße Schlaghose, die beide mit Goldbrokat eingefasst waren. Um die Hüften hatte er sich einen ziselierten indianischen Silbergürtel mit den Köpfen von Squaws gebunden, deren Zöpfe und Federn beim Gehen klirrten. An den Füßen mexikanische Rohlederstiefel mit gebogenen Spitzen, roten Fransen und Stahlkappen. In dieser Aufmachung fand Declan sich elegant wie ein irischer Willie Nelson, nur ohne Zöpfe.

»Wie sieht’s aus, Jungs?« Auf dem Weg zum Hinterzimmer nickte er der Gruppe zu. Ihm gefielen das Klirren der Stahlkappen auf dem gefliesten Boden und sein breiter pseudo-texanischer Akzent.

Die Jungs an der Bar antworteten ihm, aber Declan ging an ihnen vorbei. Sein eingebildeter Ruhm war ihm zu Kopf gestiegen; er wogte vor seinen Augen wie das Rad eines Pfaus, durch das er kaum hindurchsehen konnte.

»Ach, Declan!«, rief Jamie seinem glitzernden Rücken hinterher. »Ich hab mein Akkordeon mitgebracht, nur falls du später eine kleine Pause brauchst oder so.«

Declan drehte sich um, die Daumen in den Gürtel gehakt. Das war für ihn von Interesse.

»Spielst ja auch gut, Jamie. Wenns nachher richtig voll wird, brauchen wir dich bestimmt noch.«

Und damit verschwand er.

Jamie fühlte sich jetzt unglaublich wohl. Der Alkohol und der Gedanke an seinen späteren Auftritt lösten ein seltenes Glücksgefühl in ihm aus und er war plötzlich ganz selbstbewusst. Lächelnd und zufrieden wandte er sich seinen Gesprächspartnern zu.

Die drei Freunde rauchten und tranken, zogen über Bekannte her, redeten über ihre Farmen und die Zeit verging. Sie bemerkten kaum, wie sich der Pub füllte. Die Tür in ihrem Rücken war andauernd in Bewegung und ließ zum Großteil Paare ein: glühende Fans von Declan Colt und seiner Band. Die Männer kamen mit glänzenden Gesichtern von Baustellen oder Feldern und freuten sich aufs Zechgelage. Die Frauen lächelten aufgesetzt und fragten sich ängstlich, was für Prügeleien sie zu erwarten hatten.

Jamie und seine Kumpel kannten die meisten Kneipenbesucher, und wenn ein Fremder auftauchte, sahen sie ihn verstohlen an und spekulierten, wer das sein könnte, woher er stammte, was er hier suchte und mit wem, falls er nicht allein gekommen war.

Immer mehr Männer standen um die Theke herum, einige in Sonntagsanzügen, die frauenlosen in Alltagsklamotten. Rauch hing in der Luft, mit erhitzten Gesichtern brüllten Männer trunken in die lärmende Menschenmenge. Ab und an hob einer die Faust, wenn er sich beleidigt fühlte; sie alle hatten sich ihre Meinungen in ihrer Jugend gebildet und die waren nun in Stein gemeißelt und hatten aus ihnen allen uneinsichtige und starre Menschen gemacht.

Slopes Frau Peggy tauchte hinter dem Tresen auf. Hinter ihrem Rücken nannten sie sie ›die Kettensäge‹; sie war eine nüchterne Frau, mager wie ein Zaunpfosten mit einem spitzen Gesicht und einer Nase wie eine Sichel. Ihre aufmerksamen Augen waren überall zugleich, und wenn ein Problem auftauchte, ging sie es ohne Umschweife direkt an. Sie hasste die Kneipe, die Männer und das Saufen, hatte eine scharfe Zunge und hielt Slope an der kurzen Leine. Schon vor Langem hatte sie sich eingestanden, dass er und sein Geschäft die Strafe dafür waren, dass sie mit ihm vor der Ehe ins Bett gegangen war. Sie hatten eine Tochter, die sie alle beide hasste. Also opferte sie sich; ein silbernes Kreuz vom Wallfahrtsort Knock baumelte von ihrem Hals, wenn sie mit ihren abgearbeiteten Händen die Gläser ins Spülbecken tauchte.

»Wie isses, Peggy?«, begrüßte Jamie sie knapp. Er hatte das entspannte Stadium des Rausches erreicht, in dem er sich nur ein paar Worte zu sagen getraute, damit er nicht total betrunken wirkte. Das Akkordeon stand zu seinen Füßen. Jamie ölte sich die Kehle bis zu dem Zeitpunkt, wo er es aufheben und im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen würde.

Peggy sah ihn durch den Wasserdampf an. Ihr gequälter Gesichtsausdruck wich einem widerwilligen Lächeln. »Hältst dich wacker, Jamie?«

»Ach ja, Peggy, mir geht’s ganz gut.«

»Spielst du später für uns?«

Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und sah wieder ins Spülbecken hinab. Die nassen Gläser zum Abtropfen stapelte sie gefährlich hoch aufeinander.

Jamie sah auf ihren gebeugten Kopf. Ihr strohblondes Haar wurde in der Mitte von einer schnurgeraden blassen Linie gescheitelt.

»Klar, gleich kannste mich noch hören«, sagte er.

»Ein Wodka und ’ne Cola!«, unterbrach sie jemand ungehobelt. Chuck Sproule zwängte sich zwischen Jamie und Paddy. Peggy wusch weiter ab und tat, als hätte sie nichts gehört.

Chuck war ein unberechenbarer Neunzehnjähriger, unstet und unhöflich, ein Aussteiger mit einem toten Vater, einer verzweifelten Mutter und vier wilden Geschwistern, die er bis zur Weißglut reizte. Er hatte fettige Haare und eine unreine Haut, trug eine gammelige Jeans, die sich kaum auf seinem mageren Hintern hielt, und dazu ein eingelaufenes, angegrautes T-Shirt, das ihm viel zu kurz war.

»Sie ham gehört, was ich bestellt hab, oder etwa nich?«

Peggy unterbrach ihren Abwasch, trocknete sich langsam die Hände und warf ihm einen wütenden Blick zu.

»Jamie, hast du gerade einen ungehobelten Rüpel was bestellen hören?«

Jamie wollte sich nicht mit dem jungen Chuck anlegen. Denn der hatte eine besondere Begabung, auf den Schwächen von Leuten rumzureiten, bis die vor Wut nicht mehr an sich halten konnten. Mit dem fiesen kleinen Arsch wollte er nichts zu tun haben.

»Ich glaub, er will Wod... Wodkacola, äh, er will ’n Wodka und ’ne Cola, Peggy«, korrigierte Jamie sich schnell.

»Mann, wenn das nich der olle McCloone is!« Chuck stieß Jamie den Ellenbogen in den Rücken, legte ihm den Arm um die Schulter und kam seinem Gesicht ganz nah. »Bist du jetzt so’n beschissener Übasetzer, oder was?«

»Reiß dich zusammen, Sproule«, warnte ihn Peggy, »oder ich schmeiße dich raus. Glaub bloß nicht, dass ichs nicht tue!«

Chuck ließ Jamie sofort los und richtete sich auf. Paddy und Matty untersuchten den Tresen, guckten in ihre Drinks und an die Decke, sahen überall hin, nur nicht zu Peggy. Ihre Freundlichkeit war es nicht gewesen, mit der sie sich ihren Spitznamen eingehandelt hatte. Wer sich mit ihr anlegte, hatte sich geschnitten. Ihre Drohung hatte die ge wünschte Wirkung: Chucks Angeberpose fiel in sich zusammen.

»Ach, Peggy.«

»Kein: ›Ach, Peggy‹! Für dich bin ich immer noch Mrs O’Shea!« Sie ließ ihn nicht aus den Augen. »Also, was willst du?«

»Ein Wodka und ’ne Coke, Mrs O’Shea, bitte.«, sagte er mit kindlicher Fistelstimme und faltete die Hände unter dem Kinn wie ein Messdiener.

Peggy gab nach, wenn auch nur widerwillig, und stellte ihm die Getränke hin. Auf einmal kam ein ohrenbetäubendes Quietschen aus dem Verstärker, als würde ein Schwein zur Schlachtbank getrieben, kurz darauf ein etwas leiseres Echo.

»Eins, zwei ... eins, zwei.« Declan & The Silver Bullets machten den Soundcheck. Gleich begann die Show.

»Declan läuft sich warm«, kommentierte Matty überflüssigerweise. »Kommt, gehn wir rein.«

Paddy schwankte zur Toilette. Jamie bestellte noch eine Runde.

Die Lounge hinter der Bar war ein langer rechteckiger Raum mit einer erhöhten Bühne an einem Ende und einer Tanzfläche davor, nicht viel größer als ein Tischtuch. Früher waren hier ein Lager, eine Toilette und ein Kohlenverschlag gewesen, aber Slope hatte erkannt, dass man hier gut etwas zur Unterhaltung errichten konnte. Mit einem nicht unbeträchtlichen Darlehen von der Tailorstown Credit Union (das er immer noch abzahlte) hatte er seine Vorstellungen umgesetzt und aus den drei Räumen einen geschaffen, den er The-Step-Inside-Lounge nannte.

An den Wänden standen Eisenbahnbänke mit bernsteinfarbenen Bezügen aus einem ausgemusterten Nahverkehrszug von Derry nach Donegal. Slope hatte die aufgearbeiteten Sitzgelegenheiten mit großem Preisnachlass bei einem vom fahrenden Volk aufgetrieben. Vor den Bänken standen kniehohe Resopaltische. Auf dem Teppichboden kämpften lila Streifen gegen wilde gelbe Flecken, sodass bereits mehr als ein Betrunkener nach Hause gegangen war in dem Glauben, sich bereits übergeben zu haben. Die vom Rauch vergilbten Wände waren aus grobem Strukturputz. In regelmäßigen Abständen hingen Lampen mit verstaubten grünen Schirmen von der Decke herab und erzeugten bei den Gästen eine gelbliche Gesichtsfarbe, als befänden sie sich in einem frühen Stadium von Leberzirrhose – eine Krankheit, die sich höchstwahrscheinlich bei nicht wenigen von ihnen in nicht allzu ferner Zukunft einstellen würde.

Die Lounge war brechend voll, als Jamie und seine Freunde ihre Plätze einnahmen, die Declan ihnen direkt an der Bühne reserviert hatte. Gespräche und Gelächter, Zigarettenrauch und Flüche flirrten durch den Raum, Batterien von Flaschen und Gläsern standen auf allen Tischen, aus den übervollen Aschenbechern quollen Streichhölzer und Kippen.

Mary, die jugendliche Tochter der O’Sheas – die die Augen ihrer Mutter hatte (wofür sie dankbar war) und das Kinn ihres Vaters – servierte Drinks und sammelte Gläser ein. Sie war groß, attraktiv und rothaarig und hasste die Samstagabende mit ihrer ekelhaften Mischung aus Rauch, grapschenden Händen, verschwitzten Männern und rüder Anmache. Oft weigerte sie sich, ihren Eltern auszuhelfen, wenn sie nicht im Voraus bezahlt wurde, und da sie so willensstark und unerschrocken wie ihre Mutter war, setzte sie sich fast immer durch.

Declan Colt schwang auf der kleinen Bühne die Hüften zu »Dixieland« in einem tieferen Bariton als Elvis. Den Satinkragen hatte er hochgestellt, den Kopf hielt er gesenkt, dazu kaute er fast auf dem Mikrofon und wischte sich dauernd mit einem großen schneeweißen Taschentuch über die Stirn. Die Silver Bullets sahen dagegen fast schon reglos aus. Der Schlagzeuger bearbeitete seine Trommel und schüttelte den Kopf hin und her wie im Streit. Der Gitarrist schien unter Schock zu stehen und zupfte mit dem Daumen an einer Bassgitarre herum, die Augen starr auf einen Punkt der gegenüberliegenden Wand geheftet.

Nach jeder langsamen Nummer brachten sie einen schnellen Song, um wieder etwas Leben in die Bude zu bringen. Declan hatte gerade mit »Blue Suede Shoes« angefangen und mehrere Paare schoben sich schüchtern über die Tanzfläche. Sie tanzten den Jive unbeholfen und rempelten sich gegenseitig an. Die Männer schwitzten in den langärmeligen Hemden und den Frauen wurde schwindelig. Doch nach und nach wurden sie zuversichtlicher und wirbelten schneller herum, Frauen in geblümten Kleidern begannen zu zucken, Schmuckstücke tanzten auf und ab, sie drehten sich und sahen doch immer wieder auf ihre Schuhe hinunter, als wollten sie prüfen, ob sie nicht in einen Hundehaufen getreten waren.

Als die Pause kam, nickte Declan Jamie zu.

Jamie hatte sich inzwischen genug Mut angetrunken. Er war bereit, schnallte sich sein zweireihiges irisches Horner-Akkordeon vor und kletterte auf den Hocker. Die Leute feuerten ihn begeistert an, hoben ihre Gläser in schwitzenden Händen und toasteten Jamie zu.

»Hol ordentlich was raus aus deiner Quetschkommode, Jamie!«, rief jemand. »Lass hören, was du kannst!«

Sekunden später war Jamie weit weg, »The Boston Burglar« strömte laut und mitreißend aus dem Blasebalg.

Oben auf dem Barhocker saß Jamie in einem hellen Kegel aus Licht. Er schwenkte das Instrument wie ein Krieger das Schild, seine Finger tanzten über die Knöpfe und der Raum füllte sich mit dem satten Klang. Er spielte mit zur Seite gelegtem Kopf, der Schweiß perlte ihm von der Stirn und er hielt die Augen geschlossen, sodass er den Rauch, das gleißende Licht und das Publikum ausblendete. Nichts ließ sich mit der Freude vergleichen, die Jamie in diesen Momenten in dem aufgeheizten Saal empfand, mit den Augen von siebzig Leuten auf ihm, dem Klopfen ihrer Füße, ihrem Klatschen – und er war der Anlass, er war der unangefochtene Mittelpunkt.

Mühelos glitt er von Song zu Song. Eine halbe Stunde Pause für Declan & The Silver Bullets bedeutete eine halbe Stunde Glanz für ihn. Gerade hatte er »The Black Velvet Band« beendet und sonnte sich im Applaus, als irgendjemand vom anderen Ende des Raums zu schreien begann. Es war die Stimme von Chuck Sproule.

»Leute, was ist der Unterschied zwischen Jamie McCloone und einem Eimer Scheiße?«

Ein Japsen ging durch die Menge.

Die Antwort traf Jamie mit ihrer ganzen ordinären Gemeinheit. Und wieder war es der junge Sproule.

»Der Eimer!«, brüllte er, und die Menge brach in Lachen aus. Obwohl Jamie kurz davor war, in einen Wutanfall auszubrechen, riss er sich zusammen, ignorierte die Beleidigung. Er trank schnell etwas von seinem Black Bush, versuchte sich zu beruhigen und begann »I’ll Tell Me Ma« rauszuschmettern, bevor der miese Bastard Zeit für weitere Zwischenrufe hatte.

Die mitreißenden, rhythmischen Töne schwollen an. Jamie wollte gar nicht mehr aufhören, damit Sproule nicht noch eine Breitseite abfeuern konnte. Doch bald darauf blitzte es an der Tür metallisch auf und er wusste, dass Declan & The Silver Bullets zurück waren und seine Zeit fast abgelaufen war. Jamie beendete »Danny Boy«, aber nicht ohne den Refrain in die Länge zu ziehen. Aus der Menge schlugen ihm begeisterte Rufe entgegen, als er den Barhocker freigab und das Akkordeon abschnallte. Dann hörte er die verhasste Stimme wieder über das Gemurmel hinweg.

»Hey, Jamie! Wie spannt man ’n Idiot auf die Folter?«

Im Saal wurde es still, die Ungehobelteren unter den Gästen kicherten erwartungsvoll. Jamie schob Paddy das Instrument auf den Schoß.

»Halt das mal kurz, Paddy«, sagte er.

Das Akkordeon protestierte laut wie ein dickes Kind, als Paddy den Blasebalg zusammenquetschte. Jamie marschierte schon auf die höhnische Stimme zu. Jetzt kochte er vor Wut. Nur mit seinem Akkordeon konnte er die in ihm schlummernde Gabe freisetzen. Als Kind hatte man ihn mit Füßen getreten, aber bei Gott, kein Erwachsener durfte ihn herab setzen, wenn er zu großer Form auflief!

»Schnell, wir müssen ihn einholen!«, rief Matty.

Im Nu waren sie beide auf den Beinen und zerrten Jamie zurück.

»Wie spannt man ’n Idiot auf die Folter?«, kreischte die schrille Stimme noch einmal. »Ich verrat’s dir übamorgen, Jamie!«

Die Menge krümmte sich vor Lachen. Rasend vor Zorn befreite sich Jamie, indem er seinen Kumpel die Ellenbogen in die Mägen stieß, und Sekunden später hatte er den jungen Chuck schon gepackt. Gläser und Flaschen fielen splitternd zu Boden, als der Tisch umkippte. Jamie zerrte Chuck aus der Gruppe seiner Kumpel. Keiner von ihnen war nüchtern genug, um ihm zu helfen. Dann versetzte Jamie Chuck einen Fausthieb auf die Nase, trat ihm in die Weichteile und riss ihn an den fettigen Haaren wieder hoch.

»Was hast du gesagt, du dreckiger Bastard?«, zischte er ihn an. »Jetzt isses plötzlich nich mehr so komisch, he?«

Die Menge jubelte. Chuck schlug Jamie mit voller Wucht in die Magen grube. Er fiel hinten über und ruderte mit Armen und Beinen wie eine auf dem Panzer liegende Schildkröte.

Und dann wurde es plötzlich ganz still in der Lounge. Jamie öffnete die Augen. Peggy, die Kettensäge, kam wutentbrannt auf sie zu.

»Jamie McCloone, du solltest dich was schämen! Kein Drink mehr für dich.« Sie wandte sich an Chuck, der sich die blutige Nase hielt. »Und du siehst zu, dass du Land gewinnst! Aber dalli! Ich dulde kein Blut auf meinem Teppich! Ein Monat Hausverbot.«

»Er hat mir zuerst eine reingehauen!«, wimmerte Chuck.

»Du hast ihn zuerst beleidigt. Du nichtsnutziger Hampelmann!«

Und damit zerrte sie ihn unter dem Beifall der Menge am Ohr hinaus wie ein Torero einen verwundeten Bullen. Als sie sich der offenen Tür näherten, begann Chuck, sich laut schreiend zu wehren und voller Verzweiflung gegen den Türrahmen zu stemmen, obwohl er nur zu genau wusste, dass man ihn nicht anhören würde.

»Du beschissene alte Schlampe!«, schrie er verbittert mit brechender Fistelstimme. »Dein Gesicht sieht aus wie vonner Sau der Arsch!«

»Das wars! Drei Monate Hausverbot!«, brüllte Peggy und schlug ihm kräftig ins Gesicht.

Slope trat Chuck von hinten in den mageren Rücken und beförderte ihn auf die Straße hinaus. Dann schloss er die Tür hinter ihm ab.

Nun, wo der Störenfried draußen war, normalisierte sich die Situation schnell. Matty und Paddy halfen ihrem Freund auf die Beine und Jamie stolperte auf seinen Platz an der Bühne zurück. Er war sich bewusst, dass die mühsam über die kahle Stelle gebürsteten Haare nicht mehr an Ort und Stelle saßen und er einen schrecklichen Anblick abgeben musste. Er versuchte, sein Haar notdürftig zu glätten, während er sich bei seinen Kumpel entschuldigte.

»Ach weißte, is doch klar, dass du dir den Lümmel schnappen wolltest«, sagte Paddy.

»Hätte ich auch so gemacht«, stimmte Matty ein und stellte Jamie seinen eigenen doppelten Brandy hin, damit der sich wieder abkühlte.

Jamie nahm einen großen Schluck. Die Nacht war so großartig gewesen, bis Sproule sie kaputt gemacht hatte, und bei dem Gedanken musste er fast weinen. Wie gut war alles gegangen – und wie schnell hatte dieser Rabauke das mit seinem Geschrei zunichtegemacht.

»Du hast toll gespielt, Jamie«, sagte Paddy zum Trost.

»Weißte, wenn dieser Lümmel dir nichts zugerufen hätte ... und du ihm keine reinhauen gemusst hättest, dann wäre es ein wirklich super Abend geworden«, wagte Matty sich vor.

Declan Colt, der dem Trio von der Bühne hinunter zugesehen hatte, bemerkte Jamies Niedergeschlagenheit und lief glitzernd und schimmernd auf das Mikro zu.

»Nun hört mal alle her!«, befahl er den Leuten im Raum. »Jamie hat einen großen Applaus verdient. Ich hab selten so ’n gutes Akkordeon gehört wie heute Abend!«

Die Leute standen auf und applaudierten, und Jamie strahlte über das ganze Gesicht und hob sein Glas Brandy zum Toast. Vor seinem inneren Auge sah er seinen Onkel, wie er ihm die Finger über die Elfenbeinknöpfe führte, als er zwölf Jahre alt war. Und spürte wieder die Welle von Glück, die ihn ergriffen hatte, als er merkte, dass er auf dem Instrument eine andere Sprache sprechen konnte als die seines gequälten, verstummten Selbst. All die Mühe hatte sich gelohnt; es war ein Triumph für James McCloone, der Mann zu sein, der bei O’Shea auf einem Barhocker saß und den Leuten mit seinem satten und mitreißenden Spiel einheizte und sie zum Klatschen und Mitsingen brachte.

Als er sah, wie ihm die Leute Beifall spendeten, spürte Jamie, dass er etwas wert war, jedenfalls in diesem Augenblick, und dass die Menschen von Tailorstown hinter ihm standen. Aber er fürchtete sich vor dem Moment, in dem die Hochstimmung verflogen war und ihn der hässliche Zusammenstoß mit Sproule wieder einholen würde.