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Die Herbstmonate waren für die kleinen Insassen des Waisenheims immer besonders grausam. Jeden Morgen um acht Uhr kam ein Bus in den Hof geklappert und die Jungen mussten sich anstellen und einsteigen. Sie setzten sich auf die nackten Eisensitze, die blassen, traurigen Gesichter unter den zu großen Kappen fast verborgen, die zerbrech lichen Körper in zerlumpten und schmuddeligen Sachen, die vor ihnen schon einige andere getragen hatten. Sie ruckelten hin und her, wurden aneinander gestoßen und setzten sich wortlos wieder gerade hin, als der Bus über das Kopfsteinpflaster durch die Außenbezirke der Stadt fuhr und den dampfenden Pferden und ihren klappernden Fuhrwerken auswich. Sie fuhren an verhüllten Frauen und müden Arbeitern vorbei, über denen hohe Fabrikschornsteine monströse gelbe Wolken in den Himmel bliesen.

Niemand wollte auf die Felder gehen. Niemand wollte matschigen Gruben matschige Kartoffeln entreißen, nur um sie in Körbe zu werfen. Niemand wollte Rückenschmerzen haben oder die Qualen von Splittern in seinen Händen erleiden. Aber sie konnten nur beten, dass es nicht regnete und sie den Farmer nicht verärgerten.

Der Busfahrer, Bartley, war ein harter Mann mit einem eisernen Gesicht und Händen, die wie für Mord und Totschlag gemacht schienen. Ein roher Mann, gezeugt unter Gewalt und Schmerzen – und mit Gewalt und Schmerzen aufgewachsen. Er verachtete die Kinder, die er unter einem finsteren Himmel hin- und herfuhr, wenn in seinem Kopf die grauenvollsten Gedanken schemenhaft Gestalt annahmen.

Er sprach – über das Lenkrad gebeugt – abgehackt, aber manisch mit sich selbst, lachte laut, wenn er mit voller Geschwindigkeit um eine Kurve fuhr und im Rückspiegel beobachtete, wie seine Schutzbefohlenen aus ihren Sitzen flogen und schnell die verlorenen Kappen wieder einsammelten. Er brüllte und schrie in seiner seltsamen Sprache; er fügte anderen gerne Schmerzen zu, weil er selbst auch keinen Frieden finden konnte.

Nach kurzer Fahrt hatten sie die Stadt hinter sich gelassen. Eine leichte Brise strich sanft über Wiesen und Felder und hellte ihre Stimmung auf. In der Ferne lagen Berge, weich und still wie schlafende Rehe.

Alle Jungen nahmen das in sich auf und suchten Trost in dieser Schönheit. Eine kurze Flucht aus dem gnadenlosen, verrohten Leben, das sie führen mussten. Für sie war Glück ein friedlicher Ort außerhalb ihrer Reichweite, den sie durch die verschmierten Fensterscheiben zu erahnen meinten und der jenseits des Reichs der unerbittlichen Nonnen und Männer, die ihre Gegenwart und Zukunft bevölkerten, lag. Denn sie wussten, dass es noch etwas anderes geben musste, wenn sie in dem klappernden Bus mit dem irren Fahrer durch diese freundlichere Welt fuhren, etwas anderes als das harte und unsichere Leben im Waisenheim mit seinen zugigen Räumen und schneidenden Stimmen. Unter diesem Himmel voller Vögel, in dieser menschenleeren Landschaft gab es Frieden.

Sechsundachtzig hielt die Stirn gegen das Fenster gedrückt und klammerte sich an der Gummidichtung fest. Er spürte jede Erhebung und jede Delle in der Straße hinter der pochenden Stirn und in den zitternden Händen. Er wünschte sich, dass die Reise nie enden sollte. Sein kleiner Körper wurde hin- und hergeworfen und er hatte Zeit, seine kleinen Träume zu träumen.

Manchmal sah er weißbraune Kühe auf den Weiden oder hörte das Blöken von Schafen, die beim Vorüberfahren neugierig zum Stacheldrahtzaun angerannt kamen. Er träumte davon, sich eines Tages mit solchen Tieren anzufreunden, dachte, dass sie ihn besser verstehen würden, als ein Mensch es je könnte. Er stellte sich vor, wie er ihr raues Fell streichelte und mit ihnen in ihrer eigenen Sprache sprach – in ihrem gestotterten bäh und mäh. Wenn er daran dachte, klopfte sein kleines Herz schneller, dann verspürte er keine Angst mehr und eine große Ruhe überkam ihn. Er war ganz von einem Gefühl eingenommen, das er noch nicht als Leidenschaft erkannte. Später im Leben sollte er nie in der Lage sein, die Gefühle dieser kurzen Reisen aufleben zu lassen oder sie in Worte zu fassen.

Vor der letzten Kurve lehnten sie sich alle instinktiv nach links, umklammerten die horizontale Stange des Vordersitzes und machten sich auf Bartleys plötzliches Bremsen gefasst. Dann kletterte einer nach dem anderen aus dem Bus, und wer es dabei wagte, Bartley anzusehen, wurde von ihm angespuckt, gekniffen oder geschubst. Sie hatten gehört, dass Bartley früher Insasse des Waisenheims gewesen war, und er war eine lebende Mahnung, was aus ihnen werden konnte. Sein Ich war ihm gestohlen worden, was blieb waren bloß liegende Nerven und schriller Wahnsinn.

Ein scharfer, trockener Wind fegte über das offene Feld, auf dem sie der Morgenkälte trotzten. In ihren dünnen Sachen froren sie, ihre bloßen Knie guckten wie Birkenschößlinge zwischen den kurzen Hosen und den Gummistiefeln hervor.

Das unebene Kartoffelfeld dehnte sich endlos vor ihnen aus. Bei Einbruch der Dunkelheit würde etwa ein Viertel davon umgegraben sein; die Waisen mussten tief nach den Knollen graben, die die Familie Doyle ein Jahr lang sättigen würden. Farmer Doyle fuhr mit dem Trecker in den langen Reihen auf und ab und unter der Drehscheibe kamen die Kartoffeln hervorgeflogen. Hungrige Möwen flatterten im Schwarm hinter ihm her und zankten sich kreischend im Sturzflug um die Ernte.

Die Jungen stellten sich zu zweit auf und Bartley warf ihnen Körbe zu. Sechsundachtzig und Neunundachtzig hielten sich eng beieinander. Sie sprachen nicht, sondern beugten sich sofort zum Arbeiten herunter. In fünf Stunden würden sie mit einem Becher Tee und einem Stück Brot belohnt werden.

Wer für faul befunden wurde oder gesprochen hatte, bekam kein Essen und musste hungrig weiterarbeiten.

Bald bewegten sich alle zwanzig im qualvollen Rhythmus des Erntens über das Feld, ihre Körper bildeten auf dem Feld einen Fries halb runder Figuren. Bartley lief hinter ihnen her und passte auf, dass sie keine Kartoffeln übersahen; ab und an verspürte er den Drang, die Peitsche nieder sausen zu lassen oder mit dem Stiefel in ein hochgerecktes Hinterteil zu treten.

Sechsundachtzig und sein Partner arbeiteten im Gleichklang und teilten stumm ihr Los. Sie suchten im matschigen Erdreich zwischen Würmern und Käfern mit den Händen nach den Knollen, holten sie heraus und warfen sie in die Körbe, die schwerer wurden, je weiter sie die Reihe herunterliefen.

Um ein Uhr der wunderbare Anblick von Mrs Doyle in ihrer geblümten Schürze mit zwei großen Taschen. Sie setzte ihre Last am Tor ab und rief die großen und kleinen Männer zu sich. Die Jungen rannten zu ihr, wischten sich die dreckigen Hände an den Hosen ab und freuten sich auf ihre hart erarbeitete Belohnung.

Mrs Doyle zog die durchweichten Verschlüsse aus Zeitungspapier aus den Teeflaschen und füllte die auf dem Rasen aufgestellten Zinnbecher. Dann packte sie frisch gebackene Brötchen aus und reichte sie herum, jedes dick mit selbstgemachter Butter und Marmelade bestrichen. Was für ein Genuss! So weit entfernt von dem altbackenen Brot mit Sauce entfernt, das ihre tägliche Kost war.

Im Rattern des Busses und später beim Einschlafen war es nicht die mühsame Arbeit des Tages, die die Waisen beschäftigte, sondern das Lächeln von Mrs Doyle, mit dem sie ihnen die Brötchen gegeben hatte.

Ein lächelnder Erwachsener an einem langen, harten Tag – eine Selten heit, ein Geschenk.