30
Jamie lag in seinem zerwühlten Bett. Neben ihm saß Paddy und zu dessen Füßen sah Shep hoffnungsvoll zu seinem Herrn auf.
»Dieser kleine Hund da, das ist mein einziger Freund, Paddy.« Jamie stützte sich auf einen Ellenbogen und sah Shep liebevoll an. »Dieser kleine Hund, du und Rose.«
»Ach weißte, Jamie, ich und Rose helfen dir doch immer gerne.«
Drei Wochen waren seit der Begegnung mit Miss Devine vergangen und zwanzig Tage seit dem Telefonanruf in ihrem Haus. Der Anruf, bei dem er brüsk von einer fremden Frau vor den Kopf gestoßen worden war. Er hatte daraus geschlossen, dass Miss Devine nicht ehrlich mit ihm gewesen war. Sie hatte ihm eine falsche Nummer gegeben, um ihn loszuwerden.
»Jamie, es is nich gut für dich, wenn du den ganzen Tag im Bett liegen bleibst.«
Paddy schüttelte eine Zigarette aus der Packung, steckte sie in den Mundwinkel und reichte seinem Freund eine.
»Im Fluss schwimmen noch mehr Forellen, weißt du. Du könntest doch auf eine andere Anzeige antworten. Schaden kann’s doch nich, oder?«
»Nee, Paddy, das Ganze nochmal durchstehen? Das könnt ich nich.« Jamie setzte sich auf und zog an der Zigarette. »Sie und ich, wir sind so gut zurechtgekommen, ich kann mir nich vorstellen, dass ich noch mal so eine treffe.«
Seit dem Anruf bei Lydia, als er von der rüden Frau zurechtgewiesen worden war, hatte er die ganze Welt für sein Scheitern verantwortlich gemacht. Am meisten aber Gott und das vermaledeite Toupet. Er sagte seine Gebete nicht mehr. Das Haarteil hatte er ins Feuer geworfen und zugesehen, wie es geschmolzen und geschrumpft, schließlich zu Asche geworden und durch den Schornstein verschwunden war.
Er aß nichts, dafür trank er umso mehr. Er hatte sich auch nicht mehr um die Tiere gekümmert, bis Paddy eingeschritten war.
»Rose hat einen Termin für dich bei Dr. Brewster gemacht, Jamie.«
»Ich geh nich in die Nähe von irgendeinem Arzt, Paddy.«
»Aber Jamie, es dauert doch nur ... ’ne Stunde oder so. Rose hat mich geschickt ... sie hat mich geschickt ... damit ich dich zu ihm fahre. Und sie sagt ... sie sagt, wenn du nich hingehst, bringt sie den Arzt dazu, dass er hierherkommt.«
Paddy rauchte. Jamie war alarmiert.
»Ich denke mir, dass du nich willst, dass der Doktor hier zu dir nach Hause kommt und dich hier im Bett liegen sieht und dann das alles hier ...«
Paddy sah sich bedeutungsvoll im Zimmer um, das von Jamies Abscheu vor Ordnung und Sauberkeit zeugte. Der Boden war mit Staubmäusen, Hühnerfedern, Brotkrümeln und Knochen übersät – letztere hatte Shep ins Zimmer geschleppt, um darauf herumzukauen. Unter dem Bett stapelten sich Stiefel, einzelne Schuhe, Socken, zerdrückte Guinness-Dosen, zwei leere John-Powers-Whiskeyflaschen und unzählige Gallaghers-Green-Zigarettenpackungen.
Auf dem Tisch neben dem Bett standen eine Untertasse und eine Schüssel, die Jamie beide als Aschenbecher dienten; der Tisch und alles, was darauf lag, war mit Asche überzogen. Jamie schien eine ganze Menge Sachen im Bett zu brauchen: eine Zuckertüte, aus der ein Löffel herausragte, eine Flasche Hustensirup von Dr. Clegg, eine Packung Kopfschmerztabletten, ein Kobold, dessen Bauch als Wecker diente und den er in Portaluce gekauft hatte, eine angeschlagene Tasse, in der ein Schraubenschlüssel und eine kleine Wasserwaage steckten. Über der Tasse hing ein Rosenkranz mit Holzperlen, davor stand eine Gipsfigur des heiligen Judas und auf der großen um den Fuß herumlaufenden Inschrift war zu lesen: Schutzheiliger der hoffnungslosen Fälle.
»Tja, da hast du wohl recht«, stimmte ihm Jamie widerwillig zu. Es schien keinen Ausweg zu geben, er musste zum Arzt gehen.
»Du hast bestimmt wieder so eine winzig kleine Depperession, was ja auch klar is, so wie die Frau mit dir umgesprungen is.«
»Du brauchst jetzt nichts mehr zu sagen, Paddy. Ich hab nie gedacht, dass es so schlimm sein kann.«
Jamie strich sich mit der Hand über den kahlen Schädel, als erinnere er sich daran, was für ein Opfer er gebracht hatte. Seine Kopfhaut war noch immer rot und vernarbt von dem Toupet-Klebstoff, und noch beschämender war, dass er die Auswirkungen seiner Torheit nicht verbergen konnte. Die Haarsträhnen zum Hinüberkämmen gab es nicht mehr. Ein weiterer Grund, warum er sich nicht bei seinen Freunden in der Kneipe sehen ließ. Er konnte doch keine dreckige alte Kappe am Samstag abend tragen, wenn alle anderen sich gut anzogen, und zur Messe genauso wenig, falls er in der Stimmung gewesen wäre, sonntags in die Kirche zu gehen.
Paddy stand auf.
»Ich sammel jetzt die Eier ein und fütter die Tiere, und wenn ich zurück komme, bist du fertig und wir fahren los, ja?«
»Tja, wie’s aussieht, hab ich gar keine Wahl.« Jamie gähnte und rieb sich die Augen.
Shep folgte Paddy mit tapsenden Pfoten übers Linoleum hinaus. In der Tür drehte er sich um und sah Jamie bittend an. Er wollte seinen alten Herrn zurückhaben.
»Na, lauf schon«, sagte Jamie und scheuchte Shep hinaus, dann hievte er sich aus dem Bett. »Ich bin ja gleich da.«
Eine Stunde später saß Jamie in Dr. Brewsters Wartezimmer. Außer ihm wartete nur eine Mutter mit einem Baby im Kinderwagen. Die junge Frau sah genauso müde und deprimiert wie Jamie aus, auch wenn er sich vorstellen konnte, dass sie andere Gründe dafür hatte. Das Kind kreischte jedes Mal los, wenn das Telefon klingelte, und sein Geheul ließ erst nach, wenn die Sprechstundenhilfe auflegte.
Das Baby erinnerte Jamie an eine schlimme Zeit, es zwang ihn, durch die Zeit hindurch auf sich zu sehen, als er klein gewesen war. Eine Zeit, an die er nicht denken wollte. Doch dieses schreiende Kind hatte eine Mutter, die es versorgte. Er hatte niemanden. Die ganze Wut, die er auf seine gesichtslose Mutter hatte, kam zurück. Ihretwegen war er jetzt in diesem beklagenswerten Zustand. Auf einmal wollte er die auf und ab gehende junge Frau schlagen. Sie trug das Baby herum, um es zu beruhigen. Er wollte sie schlagen und alles, wofür sie stand, für all die Jahre, in denen er gelitten hatte, für die Prügel, die er von den Frauen in Schwarz bekommen hatte, für die Unschuld, die ihm die Männer geraubt hatten. Aber Jamie wusste, dass er seine Wut nie zum Ausdruck bringen konnte, und so tat er das Einzige, was er konnte. Er senkte den Kopf, starrte auf den Boden und weinte innerlich.
»Gut, Sie zu sehen, James.« Dr. Brewster saß wie gewöhnlich hinter seinem Schreibtisch und sah ihn über seine Gleitsichtbrille hinweg an. »Wie geht es Ihnen? Was ist mit dem Ischias?«
Jamie setzte sich kleinlaut und nahm die Kappe ab. Er war unsicher, was er sagen sollte.
»Ach, dem Rücken geht’s gut, aber es is ...« Er starrte nach unten, verdrehte die Kappe und konnte den Satz nicht beenden.
Der Arzt schob die Brille hoch und beugte sich vor. »Sie sehen nicht gut aus, James.« Jamies Gewichtsabnahme beunruhigte ihn, und nicht nur das, sein Patient schien auch unter einer merkwürdigen Kopfhautinfektion zu leiden.
»Ich kann nichts essen und auch nich schlafen, Doktor, ich hab an nichts Interesse.«
»Hört sich an, als sei die Depression zurück.«
Er sah in seine Aufzeichnungen. Mr McCloone hatte sich seit Wochen kein Valium mehr verschreiben lassen.
»Und das ist auch kein Wunder, denn ich sehe hier, dass Sie Ihre Medi kamente nicht mehr nehmen.«
»Ich dachte, ich bräuchte sie nich mehr, Doktor.«
»Ach James, wie oft haben wir diese Unterhaltung schon geführt? Sie dürfen Ihre Medikamente doch nur mit meiner Einwilligung absetzen. Es ist gefährlich, wenn Sie es auf eigene Faust tun.«
»Ja, ich weiß.« Jamie starrte immer noch auf seine Hände. Er schaffte es nicht, dem Arzt den wahren Grund für seinen schlechten Zustand zu nennen.
»Haben Sie die Ferien am Meer gemacht, die ich Ihnen empfohlen hatte?«
Der Arzt erinnerte sich daran, dass Gladys Millman ihn dafür getadelt hatte, Leuten wie James McCloone das Ocean Spray zu empfehlen. Er hatte zurückgegeben, dass James’ Geld so gut wie das anderer Leute sei, und wegen dieses Kommentars hatte Gladys stundenlang geschmollt, was ihm wiederum nicht das Geringste ausgemacht hatte, denn so hatte er fast den ganzen Nachmittag ungestört Golf sehen können.
»O ja, Doktor! Es war toll im Ocean Spray.« Als er an die beiden sorglosen Tage dachte, hellte sich seine Stimmung auf. »So ein feines Haus.«
Dr. Brewster lehnte sich in seinen Lederstuhl zurück und nahm die Brille ab.
»Wissen Sie, James, es wäre vielleicht nicht verkehrt, noch einmal Ferien zu machen. Und dieses Mal länger zu bleiben, eine Woche oder so.«
»Ach nein, das kann ich im Moment nich. Es is nich so gut, wenn man immer allein ist.«
Jamie seufzte. Er sah am Arzt vorbei auf die sonnige Hauptstraße hinaus. Es schien keine Trennung zu geben zwischen dem Jungen, der er einmal gewesen war, und dem Mann, der er jetzt war. Er war wieder in Keaneys Zimmer und starrte durchs Fenster auf die windgepeitschten Lorbeerbüsche des Friedhofs. Und saß wieder in Mutter Vincents Büro und sah zu, wie sich eine kleine Schneeverwehung auf dem Fensterbrett hinter ihrer Schulter ansammelte.
Jamie schien es, als habe er seit dieser Zeit gar keine Entwicklung durchgemacht. Vielleicht hatte sich die Szene hinter der Fensterscheibe verändert, vielleicht hatten sich die Umstände seines Lebens verbessert und der Erwachsene im Stuhl vor ihm war mitfühlender, aber im Kern hatte er sich nicht verändert. Er war immer noch der furchtsame, einsame Junge, der er einmal gewesen war, und der sich nach der Mutter sehnte, die nie kam. Er war immer noch hilflos und allein.
»Ich habs satt, allein zu sein«, sagte er und starrte zu Boden. »Ich habs einfach satt.«
»Unsinn! Sie sind ein junger Mann. Denken Sie positiv, die besten Jahre des Lebens liegen noch vor Ihnen. Sie brauchen einfach mehr Selbstvertrauen.«
Der Arzt beugte sich über den Tisch und faltete die Hände, als wollte er beten.
»James, ich weiß, dass Sie es nicht leicht hatten, aber Sie sind ein guter Mann und wären ein echter Schatz für eine Frau. Aber Sie müssen die Pillen nehmen. Sie sehen doch, was passiert, wenn sie sie weglassen. Sie verlieren den Glauben an sich, und das ist nicht gut. Verstehen Sie, was ich Ihnen zu sagen versuche, James?«
»Ja, Doktor.« Jamie fühlte sich schon besser. Er erinnerte sich daran, dass die weisen Worte des Arztes ihm über manche schlechte Episode weggeholfen hatten.
»Depression ist nichts, wofür man sich schämen müsste«, fuhr Dr. Brewster fort. »Irgendwann erwischt es jeden, mal mehr, mal weniger. Das Leben ist nicht leicht. Gott weiß, wenn es so wäre, dann bräuchte man Menschen wie mich nicht, und zum Glück gibt es Medikamente, die uns über die schweren Zeiten hinweghelfen.«
Er griff nach dem Rezeptblock.
»Ich erhöhe Ihre Dosis.« Er schrieb Jamies Heilmittel auf. »Und ich will Sie hier in zwei Wochen wiedersehen, damit ich weiß, wie es Ihnen geht.«
Er reichte ihm das Rezept. Jamie bemühte sich darum, nicht vor dem Arzt in Tränen auszubrechen. Er erinnerte sich daran, wie Richard Lance in Broken Lance gesagt hatte, dass echte Männer nicht weinten. Wie eine Beleidigung, die noch nach Jahren in ihm brannte, hatte er jetzt diese Worte im Ohr, als er sich zum Gehen anschickte.
»Nicht so schnell, James«, sagte Dr. Brewster. »Ich würde mir mal gerne diesen bösen Ausschlag auf Ihrer Kopfhaut ansehen.«
Jamies Hand schoss nach oben. Plötzlich war ihm bewusst, wie entsetzlich er aussehen musste.
»Ach, das ist nichts weiter, Doktor. Ich bin gegen die Wand gestolpert, als ich den Stall ausgemistet hab.«
»Wirklich?« Dr. Brewster lächelte in sich hinein. Er kannte die Nachwirkungen von Toupet-Klebstreifen nur allzu gut, denn als er jünger und eitler gewesen war – so wie Jamie jetzt –, hatte er auch damit gekämpft.
»Sie brauchen nur eine antiseptische Seife«, sagte er und holte eine aus dem Schrank hinter seinem Schreibtisch. »Bitte sehr, Jamie.«
»Und denken Sie daran«, er tätschelte Jamies Arm und lächelte, »in zwei Wochen sehen wir uns wieder, und da sind Sie wie neugeboren.«
Nachdem die Tür zugefallen war, stand der Arzt noch eine Weile da und starrte auf die Stelle, an der Jamie gestanden hatte.
Es machte ihn traurig, dass er diesem Farmer nicht das geben konnte, was er am meisten brauchte: Wurzeln, eine Basis, eine Familie. All dieses war ihm von frühester Kindheit an vorenthalten worden. Wie sollte es möglich sein, etwas Solides aufzubauen, wenn man keine Steine fürs Fundament hatte?
Das Medikament, das er ihm verschrieben hatte, war nicht die Antwort; es half ihm einfach nur zu vergessen, was er niemals hatte. Das Einzige, was James glücklich gemacht hätte, wäre das Auftauchen seiner Mutter gewesen. Und darauf könnte er wohl bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten, musste sich der Arzt eingestehen.
Auf dem Rückweg bestand Paddy darauf, dass Rose Jamie noch etwas zum Abendessen machte.
Er sorgte sich um seinen Freund, seit er entdeckt hatte, dass das Essen, das er ihm mitgebracht hatte, unberührt in Jamies Küche stand. Er hatte es in den Schweinetrog geworfen und sich über die Verschwendung aufgeregt, denn es war wirklich ein erstaunlicher Querschnitt aus der Küche seiner Frau. Was für eine Schande, dachte Paddy, all diese herrlichen Gerichte: Irish Stew, Marmorkuchen, Backpflaumen mit Speckscheiben, Schweinebäckchen in Apfelsauce, Rhabarberkuchen, Würstchen-Lauch-Quiche – von den vielen Brötchen und Keksen gar nicht zu sprechen. Jetzt hatte Rose kaum noch Geschirr und brauchte ihre Teller und Schüsseln zurück. Und die klapperten nun fröhlich auf dem Rücksitz des Morris Minor, als die beiden Freunde den holprigen Weg zum Bauernhaus der McFaddens hochfuhren.
Rose stand an einer brutzelnden Pfanne mit Kartoffelbrot, Eiern und Schinken. Sie hatte Jamie seit dem Ereignis im Hotel nicht mehr wiedergesehen und war entsetzt über den Anblick, der sich ihr bot.
»Gott, Jamie, du siehst ja sowas von gar nich gut aus!«, rief sie erschrocken.
Jamie stand mit der Kappe in der Hand in der Tür. Plötzlich erinnerte er sich mit qualvoller Klarheit, dass es Rose gewesen war, die alles getan hatte, damit er die geheimnisvolle Frau traf. Und dass es letzten Endes alles umsonst gewesen war.
Er konnte nichts sagen, und deswegen tat er etwas, was er seit seiner Kindheit in Anwesenheit eines Erwachsenen nicht mehr getan hatte. Er brach weinend zusammen.
»Aber, aber, Jamie, du Ärmster.«
Rose lief schnell zu ihm, nahm ihn beim Arm und führte ihn zu einem Sessel.
»Setz dich, ich mach dir eine schöne Tasse Tee.« Sie signalisierte Paddy, den Kessel aufs Feuer zu stellen, und nahm die Bratpfanne von der heißen Platte.
»Dir geht’s schlecht, weil du beim Arzt warst, Jamie«, sagte sie verständnisvoll. »Meine Güte, wer geht schon gern zum Arzt. Was die sich auch alles anhören müssen!«
Aus ihrer Schürzentasche zauberte sie ein Taschentuch hervor und reichte es Jamie. Er wischte sich die Augen trocken, konnte sie aber nicht ansehen. Die Scham über seine Tränen versetzte ihn zurück an den dunkelsten Ort seines Lebens. Einen Ort, von dem er nicht flüchten konnte. Jedes Mal, wenn er gescheitert war, war er ihm ein kleines Stückchen nähergekommen. Und jetzt konnte er keinen Widerstand mehr mobilisieren.
»Nein, am Doktor liegt es nich, Rose«, sagte er schließlich. »Es ist einfach alles. Ich will nich mehr leben. Ich habs satt. Mir gelingt einfach nichts.«
»Aber, aber, Jamie, alles lässt sich irgendwie hinkriegen.«
Sie zog den bestickten Hocker heran, setzte sich auf die Kuppe des Mount Errigal und legte Jamie die Hände auf die Knie. Aus der Küche hörten sie Paddy Tee machen.
»Nichts is so schlimm, wie’s aussieht, Jamie. Jeder kriegt mal so ’ne olle Degression. Aber wir haben doch Gott und die Tabletten, zum Segen. Weißte, als ich neunzehnhundertzweiundsechzig die Fehlgeburt hatte, wollte ich mich auch umbringen. Mein Paddy kann’s dir erzählen, um ein Haar hätte ich ihn auch umgebracht. Ich war so schlecht drauf, du kannst es dir nich vorstellen. Stimmt’s etwa nich, Paddy?« Rose hob die Stimme, als Paddy mit einem klirrenden Tablett mit Tassen und allen möglichen guten Sachen hereinkam.
»Ja, das stimmt, Jamie. Sie war wie der Teufel in Person.«
Rose reichte Jamie ihr Allheilmittel – einen Becher Tee.
»Nun trink das erst mal, Jamie, und dann geht es dir schon viel besser. Und weißte, Jamie, es is noch nich aller Tage Abend. Was die Dame angeht, meine ich. Ich hab lange gesessen und ’ne harte Nuss ausgeknackt. Vielleicht haste nur die falsche Nummer gewählt. Vielleicht haste in der Aufregung die Zahlen vertauscht. Und vielleicht – Gott hilf uns – hat se sich auch einen ganzen Stall Männer angeguckt und hat sich nich richtig an dich erinnert, Jamie. Dann wärst du der falsch gemerkte Mann, und sie sitzt neben dem Telefon und wartet, dass du endlich anrufst, und fragt sich, was eigentlich los is.«
»Tja, vielleicht. Vielleicht auch nich. Woher soll ich das wissen, Rose?«
»Paddy, bring doch mal den Teller mit den Kokosmakronen, die ich heute Morgen für unseren Jamie gemacht hab.«
»Also, wenn du mir die Nummer gibst, dann ruf ich da an und finde raus, was los is. Denn in meinen Augen war Miss Devine wirklich eine feine Dame. Ich kann mir nich vorstellen, dass sie irgendwas tut, um dich zu beleidigen. Und du weißt doch, wie man so schön sagt, Jamie: Wenn du dem Wolf ’n Schafspelz überstreifst, dann bleibt er doch ’n Wolf. Na ja, Lydeea hat jetzt kein Schafspelz getragen, eher so glatte Baumwolle, um der Wahrheit die Ehre zu geben, aber Wolf bleibt Wolf, und sie is kein Wolf, Jamie. Sie is eine richtige Lady.«
»Aber Rose, ich kann mich jetzt sowieso nich sehen lassen vor ihr, so ohne Haare.« Jamie fing wieder an zu weinen und dachte daran, wie lange es wohl dauern würde, bis seine Haare wieder lang genug zum Drüber kämmen wären. »Sie würde mich doch jetzt, so wie ich aussehe, gar nich angucken.« Er biss in eine Makrone und Kokosraspeln rieselten wie Schnee auf sein Hemd herab.
»Aber Jamie, was zählt, is das Herz, nich der Kopf.« Sie tätschelte seine Knie. »Selbst ein Blinder mit Krückstock würde gar nich merken, dass was mit deinen Haaren nich stimmt, und wenn es hart auf hart kommt, kaufen wir dir eben noch ’ne neue Kappe.«
»Haare hin, Haare her«, fuhr sie fort, »du bist ein Geschenk für jede Frau, Jamie. Wie meine Großtante Brigid – Gott sei ihrer Seele gnädig – immer gesagt hat, und ich bin sicher, sie is langsam aus’m Fegefeuer raus, denn weißte, sie konnte fürchterlich knatschig sein, wie ein Wiesel mit Zahnschmerzen, Gott vergib mir, aber sie is schon so lange tot, dass sie jetzt wirklich schon im Himmel sein müsste. Na, ich komme ab, aber was sie immer gesagt hat, is, alles, was ein Mann braucht, is ein sauberes Hemd, ein gutes Gewissen und ein, zwei Pfund inner Tasche. Und Gott schütze uns, Jamie, aber hast du nich alles drei? Und is es nich nur die Frau, die dir fehlt?« Rose nahm einen Schluck Tee. »Das haben wir bald, Jamie. Hast du denn die Telefonnummer hier bei dir?«
Jamie zog sein Portemonnaie aus der Tasche und gab es ihr.
»Sie ist irgendwo da drin, Rose. Aber ich möchte nich, dass du sie jetzt anrufst.«
Statt einer Antwort bekam er noch eine Kokosmakrone von Rose.
»Nein, Jamie«, sagte sie zufrieden, weil er sich hungrig über ihr Gebäck hermachte. »Ich kann dich gut verstehen. Ich ruf sie morgen oder übermorgen an, wenn’s dir recht is, ja?«
»Na gut«, seufzte Jamie.
Rose fand Lydias Telefonnummer in Jamies Portemonnaie neben einem fadenscheinigen Leinentuch, das mit ausgeblichenen Kleeblättern gesäumt war. Sie fragte sich, was es damit wohl für eine Bewandtnis hatte, wollte aber nicht neugierig erscheinen.
»Und jetzt trink deinen Tee, Jamie, und dann essen wir Abendbrot.« Sie schlug ihm freundschaftlich auf die Oberschenkel. »Du bist nich im Zustand nach Hause zu gehen, und deswegen bleibst du bei uns. Ich mach dir das Gästezimmer fertig und ich will kein ›Nein‹ von dir hören. Und noch was, Jamie, wenn du Hilfe brauchst, dann weißt du doch, wo du sie finden kannst, oder?«
Sie klatschte ihm die Hände auf die Schenkel.
»Hier, genau hier: bei mir und meim Paddy.«
Jamie trocknete seine Tränen und Rose stand auf und stellte die Pfanne wieder an.
Als die Bratgerüche das Zimmer durchströmten, hob sich auch Jamies Stimmung. Rose und Paddy sorgten sich um ihn und ihm wurde warm ums Herz wie selten in seinem Leben. Sie waren es, die ihn vor der grässlichen Dunkelheit bewahrten, die ihn zu überwältigen drohte.