30

Ich überlegte noch eine ganze Weile, ob ich den Schädel zurücklassen und Seamus mit einem Bluff übertölpeln sollte, aber dann dachte ich an Shelby, Victor und Valerie und entschied mich gegen das Risiko. Kurz bevor die zweistündige Frist abgelaufen war, steckte ich den Schädel in den Stoffbeutel, schob die 38er in meinen Hosenbund und machte mich auf den Weg zum O’Halloran Tower.

Obwohl zu Beginn des Arbeitstages großer Betrieb im Tower hätte herrschen sollen, war die Lobby des Gebäudes wie leer gefegt, und auch von den Fahrstühlen war nur einer in Betrieb. In der beklemmenden Stille wirkte es fast so, als habe er nur darauf gewartet, mich hinauf in die Höhle des Löwen bringen zu können.

Während der Fahrt in die sechzigste Etage zog ich den Revolver hervor und strich wieder und wieder über den Abzugsbügel. Ich ahnte zwar, dass mir die Waffe nicht viel nützen würde, aber das Gewicht in meiner Hand und die wohlvertraute Form unter meinen Fingern gaben mir ein Gefühl der Sicherheit. Ich dachte kurz an das Versprechen, das ich mir seit fünfzehn Jahren jeden Tag aufs Neue gegeben hatte, und trat dann, ohne zu zögern, aus dem Aufzug. Seit dem Tag meiner Verwandlung in eine Werwölfin hatte ich mir bei dem Gedanken an meinen Tod immer wieder geschworen, mit wehenden Fahnen und kämpfend von dieser Welt zu gehen. Nun, da ich kurz davorstand, meinem Schicksal zu begegnen, war ich fester denn je dazu entschlossen.

Kaum hatten sich die Fahrstuhltüren hinter mir geschlossen, stürmten zwei Sicherheitsmänner auf mich zu und durchkreuzten meinen Plan, indem sie mir den Revolver aus der Hand rissen.

„Was wolltest du denn damit anstellen, Süße?“, schnaubte einer der beiden mit einem verächtlichen Grinsen.

„Eigentlich wollte ich dir damit ein drittes Nasenloch verpassen“, knurrte ich ihn an, woraufhin er eine ängstliche Grimasse schnitt, um sich über mich lustig zu machen. Dann deutete er auf den Beutel in meiner Hand und fragte: „Ist da der Gegenstand für Mr O’Halloran drin?“

„Hast du vielleicht noch blödere Fragen?“, pöbelte ich ihn an. „Vielleicht, ob ich öfter hier zu Besuch bin?“

Ohne zu antworten, nickte er seinem Kollegen zu, der mich aus dem Vorzimmer in das private Apartment von Seamus O’Halloran führte. Dort angekommen murmelte er: „Sie ist jetzt da, Mr O’Halloran“, und verschwand dann wieder mit eiligen Schritten.

Als Seamus’ imposante Gestalt quasi aus dem Nichts vor mir auftauchte, konnte ich dem Sicherheitsmann seine überhastete Flucht nicht im Geringsten verdenken. Das Familienoberhaupt der O’Hallorans brauchte weder eine aufwendige Robe mit eingestickten Pentagrammen noch einen übertriebenen Kopfschmuck, um seine Macht als Hexer zu demonstrieren. Das entschlossene Gesicht und die einfache, komplett schwarze Kleidung reichten vollkommen aus, um jeden Gesprächspartner einzuschüchtern.

„Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben und vor Ablauf der Frist gekommen sind, Detective“, begann er das Gespräch und neigte leicht seinen Kopf. „Des Weiteren möchte ich Ihnen dafür danken, dass Sie keine dummen Tricks versuchen …“

Ich schluckte kurz und sah ihm in die Augen. „Das mit den dummen Tricks wissen Sie doch noch gar nicht.“

Seamus lächelte nur über meinen Kommentar. Es war kein böses Lächeln und auch nicht dieses herablassende Feixen, das zuweilen unter den Schnurrbärten einiger Schlipsträger hervorblitzte. Es war einfach nur ein kleines, zufriedenes Lächeln, um mir unmissverständlich klarzumachen, dass er die absolute Kontrolle besaß.

Selbstgefälliger Schleimbeutel!

„Doch, Detective“, antwortete er schließlich, „das weiß ich sehr wohl, denn schließlich wollen wir beide ja, dass unser kleiner Handel möglichst reibungslos abläuft, nicht wahr? Und jetzt zeigen Sie mir bitte den Schädel.“

„Zuerst will ich Shelby, Valerie und Victor sehen“, forderte ich und drückte den Stoffbeutel fester an meinen Körper.

„Sie sind nicht hier“, antwortete Seamus gelassen. „Glauben Sie mir, Detective, auch ich habe jede Menge Spionagefilme gesehen und weiß, was bei einer Geiselübergabe alles schiefgehen kann. Die drei befinden sich in einem sicheren Raum im Keller, der früher mal als Luftschutzbunker gedient hat. Sehr schwer zu erreichen und praktisch schalldicht. Wegen der Schreie … Sie wissen schon. Aber keine Angst, meine Liebe, Ihre Freunde sind am Leben. Das versichere ich Ihnen bei meiner Ehre als Hexer.“

Mit einem scharfen Blick versuchte ich, die Lüge in seinen Augen zu entdecken, aber sein Gesicht gab nichts preis. Anscheinend war er tatsächlich ein ehrwürdiger Hexer – böse, machtgierig und verdorben zwar, aber nichtsdestotrotz ein Hexer, der es, wie alle Vertreter seiner Zunft, todernst mit Begriffen wie Ehre nahm.

„Also gut“, sagte ich und zog den Schädel aus dem Beutel. „Dann lassen Sie uns endlich mit diesem dämlichen Certamen-Dingsda beginnen.“

Fordernd streckte Seamus seine Hand aus, und ich drückte ihm die unheilvolle Reliquie in die Hand. „Sehr gut“, sagte er leise, während er zum Safe ging und den Schädel wieder in den Glaskasten stellte. Dann verneigte er sich vor mir und wies mit einer Handbewegung auf einen magischen Kreis, der in die farbenprächtigen Bodenfliesen gearbeitet war. „Bitte sehr, Detective. Lassen Sie uns beginnen.“ Nachdem wir gleichzeitig mit einem großen Schritt in den Kreis getreten waren, presste Seamus seine Handflächen zusammen und murmelte ein paar Worte, um den Zirkel zu schließen und die Energien zu aktivieren.

Mit einem klatschenden Geräusch schnappte der Kreis über uns zusammen, und sofort spürte ich das gewaltige Gewicht von Seamus’ magischer Energie auf meinem Körper. Sie war viel stärker als die von Sunny und auch mächtiger als die meiner Großmutter Rhoda. Selbst die mörderischen Kräfte von Alistair Duncan nahmen sich im Vergleich zu der magischen Energie meines jetzigen Gegners eher blass aus.

„Nach den 1597 in Rouen festgelegten Regeln eröffne ich nun unseren Kampf um Ehre und Prestige auf dem neutralen Boden dieses magischen Kreises“, leierte Seamus die auswendig gelernte Floskel herunter. Es klang fast so, als würde er nach zweiwöchigem Fasten in aller Eile ein Tischgebet aufsagen, um sich endlich auf die Speisen stürzen zu können.

„Treten Sie freiwillig als Kombattant in diesen Kreis, und unterwerfen Sie sich diesen Regeln bis ans Ende des Wettkampfs, dann antworten Sie mit Ja.“

„Äh …“, sagte ich zögernd, „… ja, das tue ich.“

Seamus nickte. „Sehr gut. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ich nicht vorhabe, mich an die Regeln zu halten!“

Kaum hatte ich den Sinn seiner Worte begriffen, brach seine gesamte magische Kraft wie eine alles zermalmende Flutwelle über mich herein und warf mich zu Boden. Seine Magie manifestierte sich in Form von blauen Flammen, die über mir zu knistern begannen und mir nicht nur Haut und Kleidung zu versengen drohten, sondern auch an meiner Seele züngelten. Erst jetzt wurde mir klar, wie blind ich gewesen war. Durch die Sorge um Shelby und die Blackburns hatte ich nicht erkannt, dass der Ehrenkodex der Hexen keine Bedeutung mehr für Seamus hatte, sobald er den Schädel in den Händen hielt. Auch mein Leben war nach der Übergabe der Reliquie wertlos geworden.

Mit dem Mut der Verzweiflung kämpfte ich gegen die Energie des Hexers an und versuchte, sie in mich aufzunehmen, wie ich es beim Abschreiben der Runen getan hatte, aber es war zwecklos. Selbst die Kräfte, mit denen mich Asmodeus ausgestattet hatte, schienen von der Magie des Hexers zu Asche zu verbrennen. Verbittert schrie ich auf, als mir die Aussichtslosigkeit meiner Lage bewusst wurde.

„Ihre kleinen Tricks werden Ihnen in diesem Kreis nicht weiterhelfen, Detective. Finden Sie sich besser damit ab, dass es jetzt zu Ende geht“, raunte Seamus.

„Verdammt … sollen Sie …“, presste ich stöhnend hervor und spürte, wie mein Herzschlag zunehmend unregelmäßiger wurde. Auch das Atmen fiel mir mit jedem Augenblick schwerer, und schon nach kurzer Zeit kämpfte mein ganzer Körper ums nackte Überleben. Innerlich aber tobte ich über meine eigene Arroganz, den unnützen Deal mit Asmodeus und die Tatsache, dass mich jemand wie Seamus O’Halloran ohne großen Aufwand aufs Kreuz gelegt hatte.

Während ich weiter bewegungsunfähig am Boden lag und über mir die blauen Flammen knisterten, durchbrach Seamus den Kreis und ging zum Schädel, ohne sich um mich oder den gebrochenen Zirkel zu kümmern. Warum auch, er hatte ja, was er wollte.

„Tatum lucidium“, begann er mit ehrfurchtsvoller Stimme die Inschriften auf dem Schädel vorzulesen. „Tatum nocturnum. Infine mortis, lucium est.“ Während er weiter den fremdartigen Singsang intonierte, rutschte ich unaufhaltsam in eine Art Schwebezustand ab, der mich endgültig paralysierte. Auf einmal sah ich ein hellgelbes Licht, das alles im Raum mit einem goldenen Nebel einzuhüllen schien und von einer eisigen Kälte begleitet wurde. So fühlt sich also der Tod an, dachte ich. Dieses kühle Nichts, das so anders als die unbeschreiblichen Schmerzen beim Abschreiben der Runen war, sollte nun also das Ende sein. Je mehr sich die Kälte in mir ausbreitete, desto klarer wurden meine Gedanken, und desto unumstößlicher wurde die Gewissheit, dass ich versagt und Seamus gewonnen hatte.

Nein, nein, nein!, schrie ich innerlich. Du darfst jetzt nicht aufgeben! Meine Gedanken konzentrierten sich auf die Wölfin. Sie wird mich nicht sterben lassen. Nicht so. Auch wenn ich daran zerbreche und als Wrack durchs Leben gehe – die Wölfin wird nicht zulassen, dass mich dieser Kreis ins Jenseits schickt. So darf, kann und wird es nicht enden!

„Nein“, winselte ich. Mehr brachte ich nicht zustande. „Nein!“

Als er meine Worte hörte, unterbrach Seamus sein mantraartiges Gemurmel und drehte sich um. „Was in drei Teufels Namen ist hier los?“, rief er. „Das hätte Sie eigentlich töten sollen!“

Ich konnte selbst kaum glauben, dass mir tatsächlich ein paar Silben über die Lippen gekommen waren. Schließlich hatte ich eben noch darauf gewartet, dass meine Seele jeden Moment in Richtung Decke schweben und ich das ewige Licht sehen würde. Aber nichts von dem passierte.

Wisse, dass ich dir geholfen habe, Insoli, rasten mir die Worte von Asmodeus durch den Kopf. Die mörderische Kälte in meinem Inneren war also nicht der nahende Tod, sondern der Schutz des Dämons gewesen, mit dem er mir das Leben gerettet hatte – was für eine Ironie!

„Ich weiß“, murmelte ich, während sich die Überreste der Dämonenmagie ein letztes Mal in mir aufbäumten und dann endgültig aus meinem Körper verschwanden. Danach fühlte ich mich unglaublich elend, und meine Glieder schienen so schwer, dass ich jeden Moment durch den Fußboden zu brechen glaubte. Aber das alles spielte keine Rolle mehr, denn ich war am Leben. Angebrannt, aber am Leben!

„Verdammter Drecksack!“, schimpfte ich, während ich aus dem Kreis kroch und mich langsam aufrichtete. „Sie haben gerade meine letzte Jacke mit Ihren dämlichen Flammen angekohlt!“

Beim Aufstehen bemerkte ich, dass das goldfarbene Licht mich immer noch wie eine flackernde Aura umgab. Ich schüttelte mich kurz, um auch die letzten Resten der Magie loszuwerden, und ging dann mit entschlossenen Schritten auf Seamus zu. Ungläubig starrte er mich mit seinen nun vollkommen schwarzen Augen an, bis ich fast vor ihm stand. Seine Haut hatte sich in eine wachsartige Oberfläche verwandelt, auf der sich die Inschriften des Schädels abzeichneten und mit ihren pulsierenden Bewegungen den Anschein machten, als seien sie zu neuem Leben erweckt worden.

Während wir uns anstarrten, wurde mir klar, dass es zu spät war. Anscheinend hatte ich mir zu viel Zeit mit meiner Wiederauferstehung gelassen, um Seamus noch von seinem Vorhaben abhalten zu können.

Dann wirbelte er urplötzlich herum und lief durch die Tür hinauf zum Dach. Den Schädel hatte er einfach zu Boden fallen lassen. Offensichtlich brauchte er ihn nicht mehr.

Ich folgte Seamus, der seinen nervtötenden Singsang sogar beim Laufen fortsetzte. Als ich die Tür zum Dach aufstieß, bot sich mir ein bizarrer Anblick: Seamus stand mit ausgestreckten Armen mitten in der Kiesfläche und starrte auf die dunklen Wolken, die sich über uns zusammenballten.

„Infinitum obscura!“, schrie er, und im nächsten Augenblick verdichteten sich die Wolken vor der Sonne, sodass ganz Nocturne City in ein blaues Dämmerlicht getaucht wurde. Es schien fast so, als habe ein rachsüchtiger Gott von einem Moment auf den anderen das Licht ausgeknipst.

„Seamus!“, schrie ich, um mich durch den Krach des tosenden Winds verständlich zu machen.

„Ist das nicht herrlich, Detective?“, brüllte er mit einem Grinsen. „Mathias hatte eine Vision für diese Welt, und wir haben jetzt das unschätzbare Glück, miterleben zu dürfen, wie sie umgesetzt wird! Er war ein Gott!“

„Wenn Mathias ein Gott war, dann sind Sie ein Nichts! Ein kleiner Wurm, der nach der Macht eines toten Mannes geifert!“

„Wie falsch Sie doch liegen, Detective“, erwiderte Seamus. Obwohl er nicht mehr schrie, konnte ich seine Stimme so deutlich hören, als würde er mir ins Ohr flüstern. „Ich bin sein rechtmäßiger Erbe. Ich bin die Inkarnation dieses Gottes!“

Was für ein Käse! Wenn ich bei jedem abgehalfterten Straßenjunkie, der genau diese Phrasen drosch, eine Münze beiseitegelegt hätte, könnte ich in Las Vegas bis an mein Lebensende die einarmigen Banditen füttern.

„Passen Sie auf, ich beweise es Ihnen!“, rief Seamus, während er mit ausgestreckten Armen rückwärts auf den Dachsims stieg. Ohne seinen Blick von mir zu wenden, machte er einen Schritt nach hinten, und anstatt in die Tiefe zu fallen … schwebte er über dem Abgrund. Dabei raste er nicht etwa in Superman-Manier durch die Gegend, sondern glitt mit sehr graziösen Bewegungen durch die Luft.

„Na, glauben Sie mir jetzt, Detective?“, schrie er hysterisch lachend. „Ich bin ein Gott! Ich bin ein verdammter Gott!“ Dann stieg er weiter empor und flog in Richtung Highlands Avenue davon.

Während ich ihm nachsah, jagten zwei Gedanken durch meinen Kopf. Erstens: Die Magie des Schädels hatte Seamus definitiv um den Verstand gebracht. Zweitens: Nocturne City war hoffnungslos verloren, wenn ich Seamus nicht bald stellte.

„Warum bleibt dieser Scheiß immer ausgerechnet an mir hängen?“, fluchte ich und hastete zum Fahrstuhl.

Mit zuckendem Rotlicht auf dem Dach und durchgetretenem Gaspedal verfolgte ich Seamus erst durch den dichten Verkehr der Highlands Avenue und dann auf dem Magnolia Boulevard nach Süden. Er ritt auf einer rasenden Sturmwolke scheinbar ziellos durch die Stadt und hinterließ dabei eine Spur der Verwüstung. Durch die ihn begleitenden tornadoähnlichen Winde zerbarsten nicht nur die Fenster der Häuser, auch Autos wurden umgeworfen, als seien sie Spielzeug, und Bäume knickten um wie Streichhölzer.

Mac nahm sofort nach dem ersten Klingeln ab. „Wilder! Woher wusste ich nur, dass Sie was damit zu tun haben?“, dröhnte seine verzerrte Stimme aus dem Hörer.

„Danke für die Blumen!“, erwiderte ich. „Ich glaube aber, es gibt im Moment wichtigere Dinge. Falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten, es bricht gerade eine gewaltige Katastrophe über unsere Stadt herein!“

Seamus schlug einen Haken auf die Cannery Street hinüber und jagte dann am Ufer der Siren Bay entlang in Richtung Norden.

„Bringen Sie alle verfügbaren Kräfte zum Hafen. Ich glaube, der Showdown findet auf der Siren Bay Bridge statt“, schrie ich in den Hörer und warf dann das Handy auf den Beifahrersitz. Mit voller Konzentration jagte ich den Fairlane mit hundert Sachen die Cannery Street hoch und manövrierte ihn dabei unter Missachtung sämtlicher Verkehrsregeln durch den morgendlichen Berufsverkehr. Am Zubringer zur Siren Bay Bridge legte ich dann unfreiwillig den spektakulärsten Stunt der ganzen Fahrt hin: Ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, steuerte ich den Wagen mit mehr Glück als Verstand auf zwei Rädern um die Kurve.

Als ich fast in der Mitte der Brücke angekommen war, traf ich auf Seamus. Langsam schwebte er hinunter auf den Asphalt. Unter ihm schlug das von ihm aufgepeitschte Wasser gegen die riesigen Brückenpfeiler.

Ich trat mit voller Kraft auf die Bremse und riss das Steuer herum, sodass der Wagen ausbrach und mit quietschenden Reifen quer auf der Fahrbahn zum Stehen kam. Als ich ausstieg, war Seamus bereits gelandet und starrte regungslos auf die Stadt. Seine Hände ruhten auf einem hüfthohen Geländer, das vor dem Sturz in die sechzig Meter tiefer tobenden Fluten schützen sollte.

Die Brücke ächzte schwer, da die tragenden Stahlkabel durch den heulenden Wind zum Schwingen gebracht wurden. Das unheimliche Wehklagen der Konstruktion passte zum verdunkelten Himmel und den aufgewühlten Wassermassen unter uns.

„Sehen Sie sich Nocturne an, Detective!“, rief er mir zu. „Die ganze Stadt muss ausradiert werden, um sie nach den Vorstellungen von Mathias neu erschaffen zu können.“

„Sie meinen wohl, nach Ihren Vorstellungen?“, fragte ich und näherte mich ihm vorsichtig.

„Natürlich“, stimmte er zu. „Zuerst werde ich die Aussicht etwas verschönern.“ Seamus streckte seinen Arm aus und versuchte mit einer bloßen Handbewegung und der Kraft seiner Magie die Frachtschiffe in den Docks des Hafens beiseitezuschieben. Als aber nichts passierte, schrie er frustriert: „Das kann nicht sein! Warum versagen seine Kräfte plötzlich? Muss ich etwa noch einmal diese gottverdammten Inschriften bemühen?“ Mit einem ironischen Lächeln fügte er hinzu: „So etwas passiert einem immer dann, wenn man sicher ist, an alles gedacht zu haben, nicht wahr, Detective?“

Schweigend hielt ich den Schädel des Mathias in die Höhe, den ich im Tower vorsichtshalber eingesteckt hatte. „Aber man denkt niemals an alles, Seamus!“

„Geben Sie mir den Schädel!“, schrie er mit geballten Fäusten.

„Auf einmal?“, spottete ich. „Erst erzählen Sie mir, dass Sie ein Gott unter den Menschen wären, und jetzt wollen Sie wieder mit dem guten, alten Mathias spielen? Ich fürchte fast, daraus wird nichts.“

„Sie haben ja keine Ahnung, mit wem Sie sich anlegen“, drohte Seamus mit plötzlich ganz ruhiger Stimme, die mir weitaus mehr Angst einjagte als sein wahnhaftes Gebrülle.

„Geben Sie mir den Schädel, oder …“ Um seine geballten Fäuste zuckten bereits die blauen Flammen, die mich in seinem Apartment fast ins Jenseits befördert hätten. Mir war klar, dass ich eine erneute Attacke nicht überleben würde, da er seine Kräfte durch die Macht des Schädels um ein Vielfaches vergrößert hatte.

Auf der Westseite der Brücke sah ich schon die blau-roten Rundumleuchten auf den Dächern der auf uns zurasenden Streifenwagen, aber ich konnte nicht länger warten. Ich musste sofort handeln, um Seamus aufzuhalten. Allerdings wusste ich noch nicht mal ansatzweise wie – allein mit meinen schönen Augen und meinem unwiderstehlichen Charme würde ich ihn ganz gewiss nicht stoppen können.

Just in diesem Moment stieg mir eine salzige Brise in die Nase, und als ich nach unten auf das Wasser schaute, fiel mir mein Gespräch mit Asmodeus wieder ein: Ich würde das Ding in der Siren Bay versenken

„Entweder Sie geben mir jetzt den Schädel, oder ich hole ihn mir!“, brüllte Seamus. Ohne lange zu überlegen, griff ich mit einer Hand nach dem Stahlseil über mir, stieg auf das schmale Metallrohr des Geländers, streckte meinen freien Arm aus und hielt den Schädel über das windgepeitschte Wasser der Siren Bay.

„Dann versuchen Sie es doch!“, forderte ich ihn mit ruhiger Stimme heraus. Trotz meiner weichen Knie und des heulenden Winds hatte ich das Gefühl, ganz genau zu wissen, was ich tun musste, um diesen Albtraum ein für alle Mal zu beenden.

Verdammter Adrenalinjunkie, anscheinend bist du wirklich erst zufrieden, wenn alles um dich herum im Chaos versinkt!, schoss es mir durch den Kopf, aber ich ließ mich nicht beirren. Entschlossen drückte ich den Schädel an mich, ließ das Stahlseil los und stürzte mich in die Tiefe.

Eigentlich hatte ich bei einem freien Fall über sechzig Meter erwartet, dass der so oft zitierte Lebensfilm vor meinen Augen ablaufen würde. Stattdessen sah ich aber nur eine blau-graue Fläche, die mit der zunehmenden Geschwindigkeit meines Sturzes immer mehr verwischte, während der Lärm der vorbeirauschenden Luft meine Ohren betäubte.

Als ich mich gerade darauf eingestellt hatte, in Kürze auf der Wasseroberfläche aufzuschlagen, ging ein Ruck durch meinen Körper, und im nächsten Augenblick hing ich senkrecht in der Luft. Es war so, als hätte ein besonders grausamer Racheengel seine Hand ausgestreckt, um mich nicht einfach so davonkommen zu lassen. Als ich nach oben blickte, sah ich anstelle eines Engels Seamus, der über mir schwebte und meinen freien Arm gepackt hatte. Seine Gesichtszüge hatten sich so stark verzerrt, dass sie kaum noch menschlich schienen. „Geben Sie mir den Schädel, oder ich lasse Sie fallen“, knurrte er.

„Denken Sie wirklich, dass ich davor Angst hätte?“, erwiderte ich sachlich, da mir im Angesicht des Todes keine Beleidigungen mehr einfallen wollten.

„Dann werde ich mir den Schädel eben nehmen und Sie danach in Stücke reißen, Sie verdammtes Dreckstück!“, schrie Seamus und streckte seine Hand nach dem Schädel aus. Durch seine Drohung provoziert, übernahm mein Flieh-oder-kämpf-Instinkt die Kontrolle. Mit einer schnellen Bewegung riss ich meinen Arm aus seinem Griff los und packte Seamus am Hals.

Obwohl ich nicht annähernd so fest zudrückte, um ihm die Luft zum Atmen zu nehmen, begann er sofort zu würgen. Gleichzeitig raste der gleiche Schmerz durch meine Glieder, der mich beim Abschreiben der Runen fast getötet hatte – nur war er diesmal lange nicht so intensiv und wurde von einem Adrenalinrausch begleitet. Als ich auf meine Hand am Hals des Hexers blickte, fühlte ich plötzlich, wie meine Sinne explodierten.

„Bei den Göttern!“, schrie Seamus, als wir, immer noch in der Luft schwebend, ins Wanken gerieten und langsam zu sinken begannen. „Was tun Sie da?“

Der Schmerz in meinen Gliedern hatte sich in ein euphorisches Gefühl verwandelt und steigerte sich zu einem grenzenlosen Rausch, der meine Furcht verdrängte, als wir schneller zu fallen begannen. Seamus hingegen war außer sich vor Angst und schrie nun wie besessen, während sich seine Magie einen Pfad suchte und in meinen Körper floss. Mit einem Blick auf die heranrasende blau-graue Fläche unter uns holte ich tief Luft und schloss die Augen. Nachdem wir mit einem ohrenbetäubenden Knall in das eiskalte Wasser eingetaucht waren, war auf einmal alles still. Ich spürte, wie sich meine Hände entkrampften und sowohl Seamus als auch den Stoffbeutel freigaben. Gleichzeitig verlor sich mit jedem Meter, den ich in die Tiefe sank, die von Seamus absorbierte Energie. Nach und nach fiel sie von mir ab, und ein wohliges Gefühl der Erleichterung machte sich in mir breit. Erst die unerträgliche Kälte und der Sauerstoffmangel rissen mich aus diesem traumähnlichen Zustand. Wenig später kämpfte ich mit jeder Faser meines Körpers darum, nach oben zu gelangen.

Schreiend und japsend brach ich durch die Wasseroberfläche an die rettende Luft. Mein rechter Arm schien gebrochen, und der Schmerz in meinen Fußgelenken ließ mich Ähnliches vermuten. Da ich mich aber durch ungestümes Paddeln an der Oberfläche zu halten vermochte, konnte es nicht ganz so schlimm sein.

Erst jetzt begriff ich, dass ich den Sturz in das eiskalte Wasser überlebt hatte. Der Schädel des Mathias hingegen war auf den Grund der Siren Bay gesunken und für immer verloren – und das war das Einzige, was zählte.

Die Erschöpfung und die eisige Temperatur des Wassers machten mir zu schaffen, sodass ich mich auf der Suche nach Hilfe in alle Richtungen umsah. Hinter mir entdeckte ich einen reglosen Körper, der mit dem Gesicht nach unten an der Oberfläche trieb. Es war Seamus. Langsam schwamm ich zu ihm und schaffte es trotz meines gebrochenen Arms, ihn umzudrehen und seinen Körper in den Rettungsgriff zu nehmen.

Ich wusste, dass es jetzt vorbei war. Seamus war gescheitert – ein weiterer machtbesessener Hexer, der kläglich an seinen wahnsinnigen Plänen zerbrochen war.

Das Heulen einer Sirene und laute Motorengeräusche rissen mich aus meinen Gedanken. Als ich mich umdrehte, sah ich ein Boot der Wasserschutzpolizei, das schnell näher kam. Nachdem man mir eine Rettungsweste zugeworfen hatte, hievte die Besatzung erst mich und danach den leblosen Körper des Hexers aus dem Wasser. An Bord brach ich sofort zitternd zusammen und war froh über die wärmende Decke, die mir jemand von hinten um die Schultern legte.

„Eine Frau mit Hypothermie und ein Toter. Der Rettungsdienst soll am Dock auf uns warten“, informierte der Mann am Funkgerät zu meiner Linken die Kollegen an Land.

Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und fühlte, wie sich mein Körper das erste Mal seit Tagen ein wenig entspannte. Mit dem Schädel war auch die Gefahr, die von Seamus und seinesgleichen ausging, in den unerreichbaren Tiefen der Siren Bay verschwunden.

Nachdem das Boot an der Anlegestelle der Wasserschutzpolizei festgemacht hatte, kümmerten sich die Rettungssanitäter um mich. Die Kälte, der Schock und das Adrenalin hatten meinen Körper in einen unkontrollierbaren Schüttelfrostanfall geworfen, der mir erst so richtig bewusst machte, dass ich eigentlich hätte sterben müssen. Umso besser fühlte es sich an, doch noch unter den Lebenden zu weilen und auch morgen noch diese trostlose Welt durch meine müden Augen betrachten zu können.

Unter Einsatz seiner Ellbogen bahnte sich McAllister seinen Weg durch die Traube der Uniformierten vor der Anlegestelle. Als er vor mir stand, nahm er mein Gesicht in seine Hände und kniete sich vor mich. „Wilder, Sie müssen unbedingt damit aufhören. Ich werde langsam zu alt für solche Sachen!“, flüsterte er. „Gott sei Dank sind Sie am Leben und unversehrt!“

„Na … na … na … natürlich“, presste ich vor Kälte schlotternd hervor. „Ich bin doch bis jetzt immer lebend davongekommen … oder haben Sie etwa was anderes erwartet?“

Ohne zu antworten, schaute Mac auf den durchnässten Körper, der auf den Holzbohlen der Anlegestelle lag. Zwei Rettungssanitäter versuchten, ihn mit einer Herz-Lungen-Massage ins Leben zurückzuholen, aber ihre Anstrengungen schienen vergebens. „Sagen Sie mir jetzt bitte nicht, dass das Seamus O’Halloran ist.“

„War“, erwiderte ich mit einem müden Lächeln. „Das war Seamus O’Halloran.“

„Okay, okay, okay“, sagte Mac und presste eine Hand gegen die Stirn, als würde er gerade einen heftigen Migräneanfall erleiden. „Ersparen Sie mir die Einzelheiten. Ich werde mich in den nächsten Tagen noch zur Genüge mit dieser ganzen Geschichte beschäftigen müssen …“ Ein leichtes Lächeln huschte über sein kantiges Gesicht, und es schien fast so, als würde mein Lieutenant mich umarmen wollen. „Im Moment bin ich einfach nur froh, dass Sie am Leben sind, Wilder. Für das, was wir Ihnen zahlen, würden wir nämlich im Leben keinen gleichwertigen Ersatz finden.“

„Passen Sie mal auf, Mac …“, begann ich mich über seinen Kommentar zu beschweren, als mich ein Schrei unterbrach. Er kam von einem der Rettungssanitäter an der Anlegestelle. Mit einer blutenden Wunde am Hals kroch der arme Kerl schreiend auf den Holzbohlen entlang. Einen Moment später fuhr der Oberkörper des totgeglaubten Seamus in die Höhe. Er hielt ein Messer in der Hand, das ich erst auf den zweiten Blick als die krumme Klinge von Victor Blackburn erkannte.

„Du …“, fauchte er wie von Sinnen und zeigte mit zitterndem Finger auf mich. „Das ist dein Ende!“

Als er dann mit hasserfülltem Gesicht auf mich zustürzte, sah ich vor meinem geistigen Auge bereits, was als Nächstes passieren würde. Es war wie eine Vision: Der kalte Stahl der krummen Klinge würde sich in meinen Hals bohren, und während ich auf den Holzbohlen der Anlegestelle verblutete, hätten Mac und die Rettungssanitäter keine andere Wahl, als hilflos zuzusehen, wie Seamus entkam.

Nicht mit mir, du Schleimbeutel!

Ohne zu zögern, ergriff ich eine Schere, die ich aus dem Augenwinkel in der Sanitätertasche neben mir gesehen hatte, schnellte nach vorn und rammte sie mit aller Kraft in den rechten Oberschenkel von Seamus, als der sich gerade auf mich stürzen wollte. Wie ein angeschlagener Boxer taumelte er zurück, während über meinem Kopf drei Donnerschläge die Luft zerrissen. Nicht mal einen Sekundenbruchteil später schossen drei Blutfontänen aus der Brust des Hexers, und er fiel rückwärts von der Anlegestelle ins Wasser.

Als ich mich umsah, senkte Mac gerade den Lauf seiner Glock. „Eines Tages müssen Sie mir mal verraten, warum alle Welt ständig so verdammt sauer auf Sie ist, Luna!“