26

Als Dmitri das Motorrad vor dem Bete Noire zum Stehen brachte, konnte ich es kaum fassen, dass er mit dem vielversprechenden „Ich bring dich nach Hause“ tatsächlich die Absteige der Redbacks über dem Fetischclub gemeint hatte. Trotz meiner Enttäuschung ließ ich mich widerstandslos die Treppen hinauftragen, und auch als er mich vorsichtig auf ein Bett legte, das eindeutig nach Irinas billigem Parfüm stank, sagte ich keinen Ton. Dann huschte Dmitri aus dem Zimmer, kramte in den Badezimmerschränken und kam kurze Zeit später mit Verbandsmull und Desinfektionsmittel in den Händen zurück. Zu meiner Verwunderung hatte er sich das T-Shirt ausgezogen. Als er meinen verdutzten Blick bemerkte, erklärte er mit einem Schulterzucken: „Ich musste es ausziehen, es war vollkommen mit deinem Blut beschmiert …“

„Ist es nicht sinnvoller, wenn du mich zu mir nach Hause bringst, Dmitri?“, krächzte ich. „Dein Rudel ist immer noch nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen.“

Dmitri schüttelte den Kopf. „Dort würde man dich als Erstes suchen. Was für ein Retter wäre ich denn bitte schön, wenn ich dich erst aus der Höhle des Drachen befreie, um dich ihm danach auf dem Silbertablett zu präsentieren?“

„Ein verdammt lausiger …“, antwortete ich mit einem müden Lächeln. Langsam ließ er etwas Desinfektionsmittel auf einen Mullstreifen laufen und begann meine Stirn abzutupfen. Gleich bei der ersten Berührung zuckte ich aber so heftig zurück, als sei ich in einen Elektrozaun gelaufen. „Verdammt!“, schrie ich auf und stieß seine Hand weg. „Da warte ich doch lieber, bis das von allein heilt!“

Mit zusammengepressten Lippen griff Dmitri nach einem Spiegel auf dem Nachttisch und hielt ihn mir vors Gesicht. „Schau dich bitte mal an, Luna. Von allein wird das sicher nicht so schnell gehen.“

Das Gesicht im Spiegel erkannte ich kaum: Meine Wangen waren geschwollen, auf meiner Stirn klaffte eine blutende Wunde, und mein rechtes Auge wirkte wie ein formloser blau-schwarzer Fleischklumpen, der für alles Mögliche, aber nicht zum Sehen taugte. Ganz offensichtlich hatte Joshua in den letzten fünfzehn Jahren nichts von seinem Handwerk verlernt.

„Oh mein Gott“, stöhnte ich und drückte den Spiegel zur Seite. „Schau mich nicht an, ich sehe schrecklich aus!“

„Ich bitte dich, Luna!“, schnaubte Dmitri. „Wenn es deine Zickigkeit bisher nicht geschafft hat, dass ich die Augen von dir lasse, werden mich auch ein paar blaue Flecke nicht davon abhalten!“ Er tränkte einen frischen Mullstreifen mit Desinfektionsmittel und reichte ihn mir. „Hier, mach jetzt lieber deine Wunden sauber. Der Blutgeruch treibt mich sonst noch in den Wahnsinn.“

„Wieso das denn? Kommt da etwa das triebhafte Verlangen nach jungfräulichen Hälsen und die Angst vor frischem Knoblauch in dir hoch?“, scherzte ich, während ich meine eingerissene Lippe abtupfte. Das Desinfektionsmittel brannte dort noch schrecklicher als auf der Stirn, sodass ich vor Schmerz aufjaulte.

„Nein“, antwortete Dmitri und entfernte sich dabei so weit wie möglich von dem Bett, auf dem ich lag, „nach jungfräulichen Hälsen sehne ich mich nicht so sehr.“

Ich legte das Stück Mull zur Seite und schaute ihm tief in seine verschleierten und unergründlichen Augen. Dann hob ich meine Nase und holte tief Luft, wobei ich unwillkürlich Dmitris Witterung aufnahm, als sei er ein Beutetier. „Tu das nicht, Luna!“, warnte er mich mit gerunzelter Stirn, aber es war schon zu spät. Als das Adrenalin meiner Flucht mit seinen Pheromonen kollidierte und die Luft über dem Bett zu knistern begann, überrollte mich eine Welle der Erregung. Offenbar hatte es auch Dmitri erwischt, denn er stöhnte kurz auf, bevor er den Mund öffnete und zu stammeln begann: „Luna … äh … ich glaube, das ist eine ziemlich blöde Idee. Es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“

„Nein, bleib!“, flüsterte ich. Es war einer dieser Momente, in denen nicht nur das eigene Leben, sondern auch das gesamte Glück auf Erden von der nächsten Sekunde abzuhängen scheint. Falls Dmitri noch etwas für mich empfand, würde er bleiben. Wenn er jetzt aber ging, hatte ich nicht nur ihn, sondern auch alles, was wir einst geteilt hatten, unwiederbringlich verloren. Bei genauerer Betrachtung war es eine erschreckend einfache, fast animalische Logik – aber wahrscheinlich ist genau das der Grund dafür, warum Werwölfe keine Paartherapien brauchen.

„Geh nicht, Dmitri“, flüsterte ich noch einmal. „Bitte!“

Zähneknirschend schlug er mit der Faust seitlich gegen den Türrahmen. „Verdammt, Luna! Wenn ich bleibe, kann ich für nichts garantieren.“

Rasch stellte ich das Fläschchen mit dem Desinfektionsmittel zur Seite und setzte mich im Schneidersitz mit leicht geöffneten Schenkeln in die Mitte des Betts. „Schon in Ordnung, ich nämlich auch nicht“, antwortete ich und forderte ihn mit einem vielsagenden Blick auf näher zu kommen. Langsam begann die Wölfin auf Dmitris Geruch zu reagieren, und ich fühlte, wie mein Herz das erhitzte Blut plötzlich mit doppelter Geschwindigkeit durch meine Adern pumpte.

Tief in mir flüsterte eine Stimme unaufhörlich, dass das Ganze eine verdammt schlechte Idee war, aber das Tier in mir kümmerte sich nicht darum. Wenn sein Entschluss einmal feststand, war es durch logische Argumente nur schwer aufzuhalten. Als Dmitri meinen Blick bemerkte, kam er mit großen Schritten zum Bett und fiel über mich her. Entschlossen, aber nicht brutal, drückte er mich mit dem Rücken gegen das Kopfende, schloss die Augen und sog den Blutgeruch meiner Wunden durch seine weit geblähten Nasenflügel ein.

„Bleib bei mir!“, flüsterte ich ihm ins Ohr. Aber statt zu antworten, stieß Dmitri nur ein markerschütterndes Knurren aus. Dann öffnete er die Lider, und ich sah, wie sich eine pechschwarze Flüssigkeit über das Weiß seiner Augen legte. Erst in diesem Moment wurde mir klar, dass wir möglicherweise einen sehr gefährlichen Zeitpunkt für unsere Versöhnung gewählt hatten. Doch nun war es zu spät, um umzukehren, denn im nächsten Augenblick küsste mich Dmitri mit dieser unwiderstehlichen Leidenschaft, die ihm schon früher das Tor zu meinem Herzen geöffnet hatte. Während er das Blut von meinen Lippen leckte, führte er meine Hand an den Reißverschluss seiner Hose. Er war dabei so fordernd, dass ich ihn erschrocken anblickte. Selbst seine Pupillen waren nun in der dunklen Flüssigkeit versunken, aber eigenartigerweise machten mir die pechschwarzen Abgründe unter seinen rötlichen Augenbrauen keine Angst. Ab jetzt wird alles anders, schwor ich mir und schloss die Augen in der Gewissheit, dass es Dmitri war, den ich in den Armen hielt. Dämonenblut hin oder her – jetzt war er mein.

Energisch erwiderte ich seinen Kuss und ergab mich dann seinem Ansturm. Nachdem ich Dmitri hastig von seiner Hose befreit hatte, riss ich ihn stöhnend an mich. Er hingegen gab keinen Ton von sich, sondern zerrte nur weiter an meiner Kleidung, bis sie Stück für Stück nachgab und in Fetzen von mir abfiel. Seine Dringlichkeit überraschte mich, da er sich früher immer Zeit genommen hatte, um unsere Berührungen auszukosten und mich mit zärtlichen Liebkosungen allmählich in den Wahnsinn zu treiben. Jetzt schien sein Handeln von der Angst getrieben, mich schon im nächsten Moment verlieren zu können.

„Keine Angst, ich werde dich nicht verlassen“, flüsterte ich, aber Dmitri antwortete wieder nicht. Stattdessen packte er mich so fest, dass sich seine Finger in meine Schultern gruben. Dann stieß er sein Becken ruckartig nach vorn, um in mich einzudringen. Ich wimmerte kurz auf, weil es heftiger schmerzte, als ich erwartet hatte, umschlang dann aber seine Hüften umso enger mit meinen Schenkeln. Bei jeder neuen Bewegung rissen meine Fingernägel tiefere Wunden in seinen Rücken, aber Dmitri ließ sich nichts anmerken, sondern ließ mich nicht aus den Augen. Schon nach kurzer Zeit hatte sich unser Atmen in ein lustvolles Stöhnen verwandelt. Als Dmitri dann abermals das Tempo seiner Stöße erhöhte und meine Brüste umklammerte, drohten unsere Körper kurz vor dem Höhepunkt außer Kontrolle zu geraten. Mit geschlossenen Augen genoss ich das explosionsartige Gefühl in meiner Brust und schlang meine Arme um Dmitri, als ich spürte, wie auch er in mir kam.

Sein keuchender Atem hatte einen nassen Film auf meine Wangen gezaubert, und als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich, wie sich langsam das Schwarz aus seinen Augen zurückzog. Allmählich nahmen sie wieder ihre tiefgrüne Farbe an, während sich in seinen Augenwinkeln ein paar Tränen sammelten. Noch bevor sie sich ihren Weg bahnen konnten, ließ ich sie mit zwei Küssen verschwinden. Ich fragte ihn nicht weiter danach, denn ich wusste, dass auch ich auf der Stelle aus dem gleichen Grund hätte losheulen können.

Erschöpft ließ ich mich auf die Matratze sinken und tauchte nach kurzer Zeit in einen nervösen Halbschlaf ab, in dem sich die Geräusche aus den Nachbarwohnungen mit unruhigen Traumfrequenzen paarten. Immer wieder packte mich die Angst, dass Dmitri verschwunden sein könnte, wenn ich erwachen würde. Als ich nach einer Weile schlaftrunken herumfuhr, um mir mit halb offenen Augen Gewissheit zu verschaffen, umspielte ein keckes Lächeln seinen Mund.

„Keine Angst, bin noch da.“

„Hatte auch nicht angenommen, dass du einfach so verschwindest“, antwortete ich und fühlte mich ertappt, als Dmitri mit einem selbstsicheren Grinsen aufstand und sich eine Jeans überstreifte. Auf seinen Schulterblättern prangten blutige Striemen, die eindeutig von meinen Fingernägeln stammten. „Tun die Kratzer sehr weh?“, fragte ich kleinlaut.

„Ziemlich … aber es ist ein angenehmer Schmerz“, antwortete er mit einem Lächeln. „Willst du vielleicht was trinken? Wenn ja, müsstest du dich allerdings zwischen Leitungswasser, Bier und Jack Daniel’s entscheiden. Sojamilch und Yogi-Tee sind mir dummerweise ausgegangen.“ Ganz offensichtlich hatte Dmitri seine Gefühle schon wieder im Griff, zumindest so weit, dass er problemlos das selbstbewusste Alpha-Männchen mit den coolen Sprüchen raushängen lassen konnte. Ich entschloss mich, ihn vorerst nicht auf das eben Geschehene anzusprechen, und suchte stattdessen meine Klamotten zusammen. Mein Höschen war vollkommen hinüber, und so musste ich mich wohl oder übel mit blankem Hintern in meine Jeans quälen. Beim Anziehen merkte ich schlagartig, dass mein Körper sich noch lange nicht von Joshuas Prügeln erholt hatte. Außerdem machten sich neben den alten Blessuren nun auch die Kratzer und Schrammen bemerkbar, die unsere feurige Begierde verursacht hatte.

„Dmitri, ich glaube, ich sollte verschwinden, bevor Irina hier aufkreuzt. Ihr Gekeife würde ich mir gern ersparen.“

Mit einer Handbewegung versuchte er meine Bedenken zu zerstreuen. „Keine Bange, sie wird frühestens morgen zurück sein. Ich glaube, sie ist mit den Ältesten unterwegs.“

„Das weiß ich auch, du Schlaumeier“, erwiderte ich und wünschte mir noch im selben Augenblick, dass die Worte ungehört in der Luft verpuffen würden. Wie gewohnt, gingen meine Wünsche aber nicht in Erfüllung- Dmitri war auf dem Weg zum Bad wie angewurzelt stehen geblieben. Noch bevor er nach fragen konnte, entschied ich mich für die Flucht nach vorn. „Sie haben mir einen Besuch abgestattet.“

„Was zum Teufel meinst du damit?“, fuhr er mich an.

Tausend Flüche tobten durch meinen Kopf, und ich fragte mich, wann ich wohl endlich lernen würde, die Klappe zu halten.

„Erzähl mir sofort, was passiert ist!“, forderte er mit dem eisigen Ton, den er eigentlich nur bei rangniedrigeren Rudelmitgliedern anschlug.

„Irina, Sergej und Jelena“, begann ich zu erklären. „Sie haben mich in meinem Cottage besucht … und … äh … na ja … jedenfalls haben sie mir die fiesesten Sachen angedroht, wenn ich auch nur auf die Idee käme, an dich zu denken.“

Ich ahnte, dass es sinnlos sein würde, Dmitri mit der gekürzten Version abspeisen zu wollen, denn er kannte mich nur allzu gut.

„Und weiter?“, knurrte er.

„Nun“, begann ich um Worte zu ringen und schaute dabei verlegen auf meine Zehennägel. „Ich … äh … ich hab so eine Art Deal mit ihnen geschlossen.“

In Sekundenbruchteilen verfinsterte sich Dmitris Gesicht. „Was für einen Deal, Luna?“

Verzweifelt versuchte ich, mir selbst einzureden, dass es möglicherweise gar nicht so schlimm werden würde und Dmitri vielleicht sogar dankbar für meine Unterstützung sein könnte -aber ich wusste, dass es vergebens war. Genauso gut hätte ich darauf hoffen können, dass dem Fairlane über Nacht Flügel wachsen würden, um mit ihm in die Karibik zu fliegen.

„Ich habe ihnen gesagt, dass ich dich bis zum nächsten Vollmond von der Dämonenblut-Infektion heilen werde“, platzte es aus mir heraus.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich den Mut aufbrachte, Dmitri wieder ins Gesicht zu blicken. Als sich unsere Blicke dann endlich trafen, wünschte ich mir, dass ich einfach weiter auf meine Zehennägel gestarrt hätte. Nur mit Mühe vermochte Dmitri den Ausdruck unbändiger Wut in seinem Gesicht zu kontrollieren, und ich konnte von Glück sagen, dass mich sein wild funkelnder Laserblick nicht auf der Stelle entzweischnitt.

Es dauerte eine Zeit, bis er wieder etwas sagte. „Verdammt, Luna, wie konntest du das nur tun?“

„Was hätte ich denn sonst machen sollen?“, schrie ich. Die anfängliche Reue über meine Tat verwandelte sich schlagartig in eine sture Abwehrhaltung. „Wäre es dir lieber gewesen, wenn sie mich in Stücke gerissen und meine Reste mit Nudeln und süß-saurer Sauce beim Chinesen um die Ecke angeboten hätten?“

Dmitri stürmte so schnell auf mich zu, dass ich nicht viel mehr als seine rotbraunen Haare und die funkelnden grünen Augen ausmachen konnte. Vor Wut schäumend packte er meine Schultern, hob meinen Körper in die Luft und schüttelte mich so heftig, dass meine Zähne klapperten. „Du glaubst also, dass man mich heilen müsste, als wenn ich einen gottverdammten Virus hätte, wie? Welchen Part spielst du eigentlich bei der ganzen Sache? Die selbstlose Krankenschwester, die aufpasst, dass alle normal sind und keiner aus der Reihe tanzt?“

„Lass mich los“, knurrte ich ihn an und spürte dabei, wie die Wölfin aus ihrer Höhle lugte. „Ich habe nie vorgehabt, die Heldin zu spielen …“

„Gib es doch zu, Luna, für dich bin ich nichts weiter als eine willenlose Bestie!“, schrie mir Dmitri ins Gesicht, während sich seine Augen erneut pechschwarz verfärbten. „Ein Monster, das von Instinkten getrieben durch die Nacht schleicht und nur Probleme verursacht. Und dann kommst du ins Spiel: Luna Wilder, die Heldin mit dem großen Herzen, die alles wieder ins Lol bringt. Dass ich nicht lache!“

„Ich glaube, dass gerade der Dämon aus dir spricht“, wandte ich ein, aber Dmitri ließ mich nicht ausreden.

„Was du nicht sagst!“ Seine Stimme klang so aggressiv, dass ich zusammenzuckte. „Hier kommt ein kleiner Tipp für die Samariterin: Wenn du das nächste Mal jemanden mit einer Wunderheilung beglücken willst, solltest du vorher nicht mit ihm in die Kiste springen und den Betroffenen vielleicht erst mal fragen, ob er überhaupt geheilt werden will!“

„Ich wollte nur helfen. Sergej und Jelena hätten uns beide getötet“, flüsterte ich eingeschüchtert.

„Nicht alle Probleme auf dieser Welt sind auch deine Probleme, Luna! Vielleicht solltest du mal versuchen, nicht ständig andere in deine Kreuzzüge mit reinzuziehen.“

Eine feurige Hitze stieg mir ins Gesicht, und dieses Mal hatte es nichts mit körperlicher Erregung oder Schamgefühlen zu tun. Entschlossen packte ich Dmitris Handgelenke und stieß ihn mit der ganzen Kraft der Wölfin von mir, sodass er nach hinten fiel. Zähnefletschend hockte er am Boden und starrte mich mit seinen schwarzen Augen an.

„Zur Hölle mit dir, Dmitri!“, explodierte ich. Mittlerweile war es mir nämlich gleichgültig, ob er mich zu Hackfleisch verarbeiten würde. „Ich versuche, dir zu helfen, und falls du es noch nicht gemerkt hast – ich bin die Einzige, die das tut! Aber weißt du was, vergiss es einfach. Du verdienst meine Hilfe nicht, du Scheißkerl! Meinetwegen kannst du langsam verrotten und dich in dieses … in dieses Ding verwandeln. Lass dich ruhig nach Kiew verfrachten, damit sie dich da bis ans Ende deiner Tage in einen Bunker sperren!“

Ich meinte es todernst, und anscheinend ahnte er das, denn als ich meine restlichen Klamotten vom Fußboden aufsammelte, bemerkte ich ein kleines grünes Schimmern in seinen pechschwarzen Pupillen.

„Luna, warte …“, flüsterte er, aber es war zu spät.

„Zur Hölle mit dir, Sandovsky!“, schrie ich und schlug die Tür hinter mir zu.

Die ganze Taxifahrt über kauerte ich mit feuchten Augen auf der Rückbank, und als ich endlich zu Hause ankam, ließ ich mich aufs Bett fallen. Schluchzend rollte ich mich zu einer Kugel zusammen. Nach dem Debakel mit Irina und den Rudelältesten hatte ich gedacht, dass es mich nicht mehr viel schlimmer erwischen konnte, aber jetzt merkte ich, wie falsch ich damit gelegen hatte. Damals war Dmitri noch nicht ganz verloren gewesen; mit genügend Kraft und Ausdauer hätte ich ihn zurückgewinnen können – zumindest hatte ich mir das immer wieder eingeredet.

Meine Gedanken wurden kurz durch das Klingeln des Telefons unterbrochen. Nachdem ich den Hörer vom Apparat geschlagen hatte, flüchtete ich mich wieder in mein Kissen und heulte weiter wie ein Schlosshund.

Langsam dämmerte mir, dass ich Dmitri nun endgültig verloren hatte – wenn auch nicht an die Redbacks oder an Irina. Der Mann, den ich liebte, war dem Dämon zum Opfer gefallen, der in ihm tobte, und mir blieb nur die bittere Erkenntnis, nichts dagegen tun zu können.

Der Gedanke an das definitive Ende unserer Beziehung schmerzte so sehr, dass ich sicher war, nie wieder aufstehen zu können. Also blieb ich mit eng umschlungenen Knien liegen und versuchte, den schrecklichen Verlust durch reine Willenskraft wieder rückgängig zu machen, was natürlich ein sinnloses Unterfangen war.

Irgendwann muss ich mich dann in den Schlaf geflüchtet haben, denn als ich durch ein Klopfen erwachte, war es draußen schon dunkel. Gleichgültig hörte ich, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte und jemand die Tür aufstieß.

„Luna? Bist du zu Hause?“ Ich erkannte die Stimme sofort, es war Sunny. „Was ist mit deinem Telefon los?“

Als Sunnys Schritte auf der Treppe zu hören waren, tastete ich besorgt mein zerschundenes Gesicht ab, aber noch bevor ich es hinter der Bettdecke verstecken konnte, hatte sie bereits die Tür zu meinem Schlafzimmer aufgestoßen und das Licht angeschaltet. „Ach du grüne Neune!“, rief sie, während ich versuchte, mein Gesicht mit der Hand zu bedecken.

„Wenn dich das schon erschreckt, müsstest du erst mal den anderen sehen“, versuchte ich zu scherzen, aber meine vom Weinen erschöpfte Stimme taugte nicht zum Witze reißen.

Sofort setzte sich Sunny neben mich, schob meine Hand beiseite und musterte mich mit einem Blick, der irgendwo zwischen tiefem Entsetzen und berechtigtem Zorn lag. „Wer hat dir das angetan?“, wollte sie wissen. „Dem Typen werd ich die Nudel frittieren!“

„Schon passiert“, erwiderte ich und begann über die Komik der Situation zu kichern. Dieser Tag war zu lang und zu schrecklich gewesen, als dass er ohne ein wenig Spaß zu Ende gehen durfte.

Mit verwunderter Miene half mir Sunny dabei, mich aufzurichten, und breitete eine Decke über meine Beine. „Ich mach dir mal schnell einen Tee“, kündigte sie mit ernster Stimme die unvermeidliche Therapie mit ihrem Allheilmittel an. Einen Augenblick später war sie aus dem Zimmer gehuscht, und ich sank in einen leichten Schlaf. Ich hätte schwören können, dass ich in meinem Schlummerzustand den verführerischen Geruch eines chinesischen Rindfleisch-Nudelgerichts wahrnahm. Und tatsächlich, als ich die Augen öffnete, stand Sunny mit einem Tablett in der Tür, auf dem neben einer dampfenden Tasse Tee auch ein Teller mit dem erträumten Nudelgericht stand. Geruchshalluzinationen musste ich also noch nicht auf die lange Liste meiner Leiden setzen.

„Auf der Fahrt ist mir eingefallen, dass du vielleicht hungrig sein könntest, also hab ich beim China-Imbiss angehalten“, erklärte Sunny, während sie mir eine Serviette unter das Kinn schob und die Kissen aufschüttelte.

„Danke, Sunny!“, seufzte ich und probierte vorsichtig von den Nudeln. Sie waren köstlich, und mein knurrender Magen signalisierte mir, dass ich sie dringend nötig hatte.

„Warum liegt der Hörer neben dem Telefon?“, fragte Sunny besorgt, und ich versuchte, mit einem Mund voller Nudeln zu antworten.

„Äh … hab mich mit Dmitri gestritten.“

„Mit Dmitri?“ Sunny runzelte die Stirn. „Was ist denn aus deinem Möchtegern-Rocker, diesem Trevor, geworden?“

Ich dachte kurz an unser letztes Telefongespräch und die daraus resultierende Funkstille zwischen Trevor und mir. „Gute Frage … mit dem habe ich mich auch gestritten.“

„Hat mich sowieso gewundert, dass du es so lange mit diesem Typen aushältst. Aber erzähl schon, was ist mit Dmitri?“

Nachdenklich legte ich die Gabel beiseite. „Nun, ich habe einem Deal zugestimmt, den ich nicht erfüllen konnte, und er hat dem Dämon zu viel Leine gelassen, und dann ist die ganze Sache außer Kontrolle geraten. Dazu kam noch, dass mich kurz vorher einer von O’Hallorans Totschlägern in die Mangel genommen hat, sodass ich nicht wirklich klar denken konnte.“ Ich hoffte zwar, dass Sunny mir die Kurzversion der Geschichte abkaufen würde, wusste aber, dass das eigentlich gar nicht ihre Art war.

Sunny biss sich auf die Lippen. „Hmm … dann steh ich wohl jetzt wie ein Volltrottel da, nachdem ich so große Stücke auf die O’Hallorans gehalten habe.“

„Vergiss es! Wie hättest du das auch wissen sollen?“, erwiderte ich und legte den Kopf zur Seite, um meine Erleichterung über das ausgebliebene Kreuzverhör zu überspielen. Dann erklärte ich ihr die Einzelheiten des Falls und die Geschichte des Schädels.

Mit einer flinken Handbewegung schnappte sich Sunny eine Nudel von meinem Teller und kaute nachdenklich auf ihr herum. „Also, wenn ich das richtig verstehe, haben die O’Hallorans den Schädel des Mathias von den Blackburns gestohlen?“

Ich nickte.

„Das ist gar nicht gut“, sagte Sunny und massierte ihre Schläfen.

„Das Beste kommt erst noch: Die O’Hallorans stehen kurz davor, das Geheimnis zu lüften, wie man den Schädel einsetzt. Ist schon ziemlich ironisch das Ganze – da passiert jahrelang nichts, dann klauen die vermeintlich guten Jungs den vermeintlich bösen Jungs die Superwaffe, und plötzlich steht die Welt vor dem Abgrund.“

„Hmm, scheint in der Natur vieler Menschen zu liegen, nicht immer das zu tun, was sie eigentlich tun sollten“, sagte Sunny leise. „Du bist ein gutes Beispiel dafür, Luna.“

„Das hat gesessen“, sagte ich leicht beleidigt, aber ich wusste, dass Sunny recht hatte – wieder einmal. Langsam hatte ich den Verdacht, dass sie es sich zum Hobby gemacht hatte, mich auf meine Fehler hinzuweisen.

Da Sunny nichts erwiderte, dachte ich wieder über meinen Fall nach. Wenn Seamus O’Halloran erst mit der Dämonenmagie umzugehen wusste, würde ihn nichts und niemand mehr aufhalten können. Ehrlich gesagt, hatte ich sogar Zweifel daran, ihn jetzt als „einfachen Casterhexer“ aufhalten zu können. An einer Sache hatte ich allerdings keine Zweifel mehr: Der Fall hing mir zum Hals raus. Ich hatte genug von Dämonen, genug von Asmodeus, genug von Dmitri und genug von dem verdammten Schädel.

Derart in Gedanken versunken, verschluckte ich mich an einem Stück Rindfleisch, sodass mir Sunny auf den Rücken klopfen musste. „Was ist los, Luna?“

„Bei den Hex Riots, warum ist mir das nicht eher eingefallen“, murmelte ich. Sofort glitt ein breites Grinsen wie ein Sonnenstrahl über mein von Sorgenfalten verdunkeltes Gesicht. Aus dem Chaos in meinem Kopf hatten sich zwei Gedanken herauskristallisiert. Erstens: Seamus O’Halloran musste am Einsatz der Dämonenmagie gehindert werden. Zweitens: Dmitri konnte nur mit Dämonenmagie geholfen werden. Die Schlussfolgerung lag auf der Hand.

„Luna?“, fragte Sunny ungeduldig. „Nun spuck schon aus, was dir durch den Kopf geht.“

„Nichts lieber als das, Cousinchen.“ Ich ergriff ihre Hand. „Du musst mir dabei helfen, den Schädel des Mathias zu stehlen.“