22

Obwohl der Highway nach Basin Lake ein zweispuriger Albtraum war, der sich in scheinbar unendlichen Kurven und Serpentinen den Berg hinaufwand, raste ich wie eine Besessene. Durch Hügel und Vegetation verdeckt, zeigte sich der riesige See zuerst nur stellenweise, als sei er ein Geist, dessen rasche Bewegungen man nur flüchtig aus dem Augenwinkel wahrnehmen konnte. Gelegentlich erkannte ich den Umriss eines SWAT-Hubschraubers durch die Baumkronen, sonst aber schien ich mutterseelenallein auf dem Highway unterwegs zu sein.

Nachdem ich endlich die letzte Kurve hinter mir gelassen hatte, erreichte ich ein kleines, heruntergekommenes Dorf, das außer einer Tankstelle und einem Supermarkt nichts zu bieten hatte, den Touristen aber Jahr für Jahr aufs Neue als idyllisches Urlaubsstädtchen verkauft wurde. Unter mir breitete sich in friedvollem Blau der Basin Lake aus. Nur noch wenig erinnerte an die Katastrophe vor vielen Jahren. In Anbetracht der unzähligen Opfer, die die Wassermassen damals nach dem Bruch der Staumauern unter sich begraben hätten, wirkte die Schönheit des Sees heute fast schon zynisch.

Das Dorf wurde von einer zweiten Straße durchzogen, die den Highway auf Höhe des Supermarktes kreuzte. In die eine Richtung führte sie zu einem öffentlichen Bootsanleger, in die andere hingegen zu einem rustikalen Holztor, an dem ein nicht minder rustikales Schild mit der Aufschrift PRIVAT prangte. Obwohl das Tor aus imposanten Baumstämmen bestand, machte es insgesamt einen eher verrotteten Eindruck. Es wunderte mich, dass das Anwesen der O’Hallorans so nachlässig gesichert war. Nach dem, was ich im O’Halloran Tower gesehen hatte. hatte ich erwartet, eine Hochsicherheitsfestung vorzufinden.

„Sechsundsiebzig, hier ist Tactical One“, krächzte eine Stimme aus dem Funkgerät am Armaturenbrett, als der SWAT-Hubschrauber über mich hinwegschoss, um noch eine Runde über dem See zu drehen.

„Tac One, was gibt’s?“

„Haben gerade die Bestätigung des Durchsuchungsbeschlusses vom County Sheriff über Funk erhalten“, teilte mir der unbekannte SWAT-Officer mit.

„Verstanden, Tac One.“ Auch wenn es nach meiner Suspendierung eigentlich egal war, erleichterte es mich doch zu wissen, dass ich dank des Durchsuchungsbeschlusses keine Gefängnisstrafe für das unbefugte Betreten des O-Halloran-Anwesens kassieren würde. „Das Team wird hinter dem Gebäude landen und vom Heliport aus eingreifen“, krächzte es aus dem Funkgerät. „Voraussichtliche Ankunft in zehn Minuten.“

Zehn Minuten? So lange konnte ich nicht warten. Die Entführer hatten Valerie mittlerweile seit vollen drei Stunden in ihrer Gewalt. Falls sie das arme Mädchen noch nicht getötet oder bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt hatten, würden sie es sicherlich tun, sobald sie den Hubschrauber hörten.

„Verstanden, Tac One. Zehn Minuten.“ Ich hängte das Mikro zurück in die Halterung und schaltete den Funk aus. Dann legte ich den Rückwärtsgang ein und setzte mit dem Fairlane zurück auf den Parkplatz des Supermarktes. Gewissenhaft überzeugte ich mich mit zwei Blicken nach links und rechts, dass mir weder ein vollbeladener Holzlaster noch ein betrunkener Angler in die Quere kommen konnten, trat die Kupplung und legte den ersten Gang ein. „Tut mir leid“, entschuldigte ich mich bei meinem Wagen, bevor ich das Gaspedal voll durchtrat.

Der Sechszylinder röhrte wie ein Kampfjet beim Start, und die Nadel des Drehzahlmessers tanzte aufgeregt um die 4000. Als Ich meinen Fuß von der Kupplung nahm, schnellte der Fairlane nach vorn, überquerte in Sekundenbruchteilen die Straße und durchbrach mit einem ohrenbetäubenden Knall das Holztor der O’Hallorans. Durch den heftigen Aufprall nach vorn geschleudert, verlor ich nicht nur die Kontrolle über das Lenkrad, sondern hatte auch mit dem Sitzgurt zu kämpfen, der meinen Körper einschnürte.

Trotz des Klingelns in meinem Kopf gelang es mir, den Wagen wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen, bevor ich durch den kleinen Graben neben der Schotterstrecke raste. Mit einem lauten Krachen riss ein Teil des Unterbodens ab, verkeilte sich und wurde noch einige Meter unter ohrenbetäubendem Quietschen mitgeschleift. Als er sich löste und der Wagen mit einem leichten Hüpfen über das Teil hinwegrollte, zuckte ich unweigerlich zusammen.

Wütend schaltete ich hoch und schoss mit Vollgas den Weg hinauf, sodass die Hinterreifen des Fairlane jede Menge Schottersteine und anderen Dreck durch die Gegend schleuderten. Obwohl es eigentlich schon zu spät dafür war, kramte ich dennoch das rote Licht aus dem Handschuhfach, befestigte es auf dem Dach des Wagens und raste mit heulender Sirene und zuckendem Rotlicht auf die Lodge der O’Hallorans zu.

Es war eines dieser auf alt getrimmten Ferienhäuser, denen man den schlechten Geschmack seiner Besitzer schon von Weitem ansieht. Mit der stillos dekorierten Veranda und den für eine Blockhütte viel zu penibel angeordneten Holzstämmen der Seitenwände wirkte das Haus in seiner Gesamtheit keineswegs wie eine Lodge, sondern eher wie ein übergroßes Minigolf-Hindernis. Wahrscheinlich würde sogar Qualm aus dem Schornstein aufsteigen, wenn man den Ball durch die Tür bugsierte.

Zu meiner Überraschung war keine Menschenseele im oder am Haus zu sehen. Lediglich ein schwarzer Hummer-Gelände wagen in der Auffahrt wies darauf hin, dass jemand anwesend sein musste. Selbst nachdem ich den Motor ausgeschaltet hatte, blieb bis auf das Gekreische einiger Wasservögel vom See alles ruhig. Die Stille jagte mir eine Heidenangst an. Eine Begrüßung durch die schwer bewaffneten Sicherheitsleute von Seamus wäre mir definitiv lieber gewesen als diese Totenstille, die ansonsten wahrscheinlich nur an Orten wie Tschernobyl die Luft erfüllte.

Kaum hatte ich die Wagentür einen Spaltbreit geöffnet, spürte ich dass das gesamte Anwesen von einer Aura böser Magie umgeben war, die mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Man konnte den bösen Charakter dieses Ortes förmlich riechen – als ich meine Nase in die Luft streckte und Witterung aufnahm zog sich die Wölfin in mir eingeschüchtert in ihre Höhle zurück.

Ganz langsam und bedächtig kroch ich aus dem Fairlane und stahl mich zum Kofferraum, wo ich mir sofort mit zittrigen Händen meine kugelsichere Weste anlegte und in Deckung ging. Auch wenn ich mir sicher war, dass bei einem Schusswechsel mindestens ein Gegner auf die Idee kommen würde, auf meinen Kopf zu zielen verlieh mir die Weste das Gefühl von Sicherheit. Mit einem kurzen Blick auf die Glock überprüfte ich, dass das Magazin voll war, und verstaute die Ersatzmagazine aus dem Schulterholster in meiner Gesäßtasche.

Aus der Ferne konnte ich bereits die gedämpften Rotorgeräusche des SWAT-Hubschraubers hören. Eigentlich war mir während meiner Ausbildung immer wieder eingebläut worden, dass ich in solch einem Fall auf den Helikopter warten müsse, damit mir das SWAT-Team einen Weg bahnen könne – aber ich hatte keine Zeit mehr. Vor meinem geistigen Auge tauchte im Sekundentakt das Bild der verstümmelten Valerie Blackburn auf, das mich förmlich dazu zwang, endlich zu handeln. Mit schweißnassen Händen umklammerte ich die Glock und arbeitete mich in Hockstellung über die offene, mit Kieselsteinen bestreute Fläche zum Vordach des Hauses vor, wo ich hinter einem der baumgroßen Pfosten erneut in Deckung ging.

Mein Herz hämmerte wie verrückt, und unter der fast zwanzig Kilogramm schweren Schussweste begann der Schweiß in Strömen zu fließen. Obwohl ich nicht mehr Angst als bei anderen Einsätzen dieser Art hatte, ließ mich dieses nur schwer greifbare Gefühl, es mit einer bösen Macht zu tun zu haben, am ganzen Körper zittern. Ganz allmählich breitete es sich in mir aus und brachte sogar meine Sinne aus dem Gleichgewicht.

„Polizei!“, schrie ich. „Kommen Sie mit erhobenen Händen aus dem Gebäude!“ Eigentlich hatte ich mit diesem Spruch noch nie Erfolg gehabt, aber diese routineartige Vorgehensweise machte mir Mut. Im Inneren der Lodge war nichts zu hören. Mithilfe meines Werwolfgehörs lauschte ich noch einmal etwas genauer, konnte aber außer leisem Gemurmel und vereinzelten Schritten nichts Ungewöhnliches wahrnehmen. Aber zumindest wusste ich nun mit Sicherheit, dass sich jemand in der Lodge aufhielt.

Mit ein paar schnellen Schritten huschte ich zur Tür hinüber und versuchte dabei, so gut es ging, unterhalb der beiden großen Panoramafenster links und rechts vom Eingang zu bleiben. Energisch hämmerte ich mit dem Pistolengriff gegen die Tür. „Polizei, wir haben einen Durchsuchungsbefehl!“ Von „wir“ konnte zwar noch lange keine Rede sein – schließlich blieb ich bis zur Ankunft des SWAT-Teams auf mich allein gestellt –, aber vielleicht würde mein Bluff ja gelingen.

Die massive Eingangstür der Lodge bestand aus breiten Pinienbrettern, die mithilfe von Eisenbeschlägen fest miteinander verbunden waren. In den Türrahmen waren die gleichen sigillenhaften Wächtermarkierungen eingebrannt wie im O’Halloran Tower. Auch wenn mich die Markierungen nicht aufhalten würden, konnte ich das Ding selbst mit den Kräften der Wölfin nicht einfach im Dirty-Harry-Stil eintreten.

Aus reiner Gewohnheit drückte ich den klobigen Türgriff hinunter, und siehe da, die Tür öffnete sich mit einem ächzen den Knarren! Erschrocken sprang ich zurück und zielte mit der Glock in die Dunkelheit. Aber nichts passierte. Keine Kugeln, die mir um die Ohren flogen; keine Sicherheitsleute, die sich auf mich stürzten – wieder nur unheimliche Stille. Beruhigt atmete ich auf. Bis hierher war dieser Einsatz in etwa so spannend wie einer von Sunnys Meditationskursen.

„Polizei, wir haben einen Durchsuchungsbefehl!“, rief ich noch einmal halbherzig, bevor ich in den Vorraum der Lodge stürzte. Über mir durchzogen jede Menge grob behauene Querbalken die kuppelförmige Decke, und der Boden war mit unansehnlichen Kacheln gefliest. Der gesamte Raum versprühte eine derart kalte Leere, dass ich langsam daran zu zweifeln begann, dass hier tatsächlich Menschen wohnten.

Meine Sinne waren in höchster Alarmbereitschaft, und meine Hände klebten förmlich am Griff der Glock. Die Wölfin in mir versuchte, mich mit aller Macht zum Umkehren zu bewegen, und auch mein Flieh-oder-kämpf-Instinkt schrie unentwegt, dass ich aus diesem Gebäude, dessen fauliger Geruch mit jedem Schritt unerträglicher wurde, lieber schnell verschwinden solle. Ich ging trotzdem weiter und betrat nach einigen Augenblicken die anscheinend selten genutzte Küche des Ferienhauses, in der mich vereinsamte Arbeitsflächen und leere Schränke angähnten. Am anderen Ende der Küche führte eine Tür in eine Art Galerie, die dank einer großflächigen Fensterfront einen Panoramablick auf den See gewährte. Muss eine Scheißarbeit sein, die Bude bei solchen Riesenfenstern warm zu kriegen, ging es mir durch den Kopf. Doch bevor ich darüber nachdenken konnte, warum mein Gehirn in brenzligen Situationen ständig mit aller Gelassenheit dumme Kommentare hervorbrachte, wurde ich vom Gewirr verschiedener Stimmen aufgeschreckt.

„Schreib schon, du dumme Schlampe!“, sagte ein Mann im Nebenraum. Trotz der harschen Worte schrie er nicht, sondern sprach mit einer leisen und unbekümmerten Stimme, als wäre er es gewohnt, dass ihm alle Welt ohne Widerworte gehorchte.

„Ich kann nicht. Ich weiß nicht, wie ich es übersetzen soll“, antwortete ihm ein junges Mädchen. Kaum hatte ich Valeries Stimme erkannt, fiel ein Teil der tonnenschweren Sorge von mir ab. Mit einem Seufzer der Erleichterung lehnte ich mich gegen den Rahmen der Küchentür, denn ich war noch nie so froh gewesen, die Stimme eines anderen Menschen zu hören. Sie war am Leben und allem Anschein gesund genug, um noch sprechen zu können. Nocturne City würde vorerst also nicht in den Flammen eines alles vernichtenden Kriegs zweier Hexenclans aufgehen.

Der Knall einer Ohrfeige schallte bis in die Küche, und die anfänglich so ruhige Stimme schrie: „Karl, du Vollidiot, lass sie zufrieden!“ Diesmal war der Ton so scharf wie eine Rasierklinge, sodass ich für einen Moment sogar Mitleid mit Karl hatte.

„Warum funktioniert dieser Zauber nicht bei ihr, verdammt noch mal?“ rief Karl entnervt. „Es ist doch ganz offensichtlich, dass sie uns anlügt!“

„Nur Geduld, der Zauber hat noch nie versagt“, antwortete die Stimme wieder ruhig und gefasst. Wenn ich nicht so aufgebracht gewesen wäre, hätte ich schwören können, dass mir die Stimme vertraut war. Aber wahrscheinlich bildet man sich allerhand Dinge ein, wenn man in einer unheimlichen Küche hockt, während keine fünf Meter entfernt zwei miese Typen eine Geisel malträtieren.

„Wir sollten die Göre einfach umlegen und uns den Alten schnappen“, murrte Karl. „Hab ja von Anfang an gesagt, dass uns das Mädchen nichts nützen wird.“

„Zweifelst du jetzt etwa meine Entscheidungen an?“, fragte die erste Stimme gereizt. Danach war es kurzzeitig ruhig, „Gut, Valerie … würdest du jetzt bitte diese Seite lesen und die Inschriften übersetzen?“

„Ich kann nicht“, entschuldigte sie sich erneut. „Ich weiß wirklich nicht, wie man das übersetzt.“ Für jemanden, der von den Schlägern seines Erzfeindes festgehalten wurde, klang Valerie verdammt ruhig. Vielleicht war es aber auch einfach nur ihre Art, mit einer lebensbedrohlichen Situation umzugehen.

Der Mann mit der selbstsicheren Stimme begann zu fluchen: „Valerie, glaub mir, ich sag das jetzt nicht zum Spaß … Du hast keine Ahnung, wie schlimm es für dich werden wird, wenn du dich weiterhin so anstellst, du Miststück!“

Du hast ja keine Ahnung, wie schlimm es für dich werden wird, wenn du jetzt wegrennst, du Miststück!, hallte es durch meinen Kopf. Bestimmte Dinge wie Bilder, Gerüche und Ausdrücke brennen sich für alle Ewigkeit ins Gehirn ein, und wenn man zu einem späteren Zeitpunkt auf diese Erinnerungen gestoßen wird hat man das Gefühl, von einem Vierzigtonner überrollt zu werden.

Erst als ich mit dem Schrei „Polizei, keine Bewegung!“ durch die Tür stürmte und das vergnügte Lächeln auf seinem Gesicht sah war ich sicher, dass ich mit meiner Vermutung richtiggelegen hatte – der Mann mit der ruhigen Stimme war tatsächlich Joshua.

„Ich habe mich schon gefragt, wie lange es dauern würde, bis die Herren und Damen in Blau hier auftauchen“, begrüßte er mich gelassen, und als er mir in die Augen sah, nahmen meine ohnehin schon weichen Knie endgültig die Konsistenz von Pudding an.

Aus dem Augenwinkel nahm ich noch ein halbes Dutzend Männer wahr. Alle trugen die schlecht sitzenden Anzüge des Sicherheitsdienstes der O’Hallorans. Valerie saß an einem Tisch und hielt einen Notizblock und einen Stift in den Händen. Hinter ihr stand Karl, der mich mit einem wenig beeindruckten Gesichtsausdruck musterte.

Nachdem ich mir einen Überblick verschafft hatte, konzentrierte ich mich wieder auf Joshua. Er war älter geworden. Die Kulten unter den Augen und um den Mund herum verliehen ihm eine gewisse Ernsthaftigkeit, die sein jugendliches Gesicht vor fünfzehn Jahren vermissen ließ. Statt eines struppigen Kurzhaarschnitts trug er sein dunkelblondes Haar nun in einem akkuraten Pferdeschwanz, und anstelle der Motorradkluft steckte er jetzt in einem Armani-Anzug. Ansonsten schien er aber der Joshua von damals zu sein – die brennenden dunklen Augen und die dünnen Lippen verliehen seinem Gesicht noch immer dieselbe unverwechselbare Mischung aus Grausamkeit und Gemeinheit.

„Bei den sieben Toren der Hölle, Luna! Was für eine Überraschung! Dass uns das Leben noch einmal zusammenführt, hätte ich mir nicht träumen lassen. Du sicherlich auch nicht, oder?“ Mit einem falschen Lächeln tat er einen Schritt auf mich zu. Reflexartig riss ich meine Pistole hoch, sodass die Mündung direkt auf den Punkt zwischen seinen Augen zeigte. Der menschliche Teil meines Gehirns befand sich nach wie vor in einem Schockzustand, aber die Wölfin in mir kannte seinen Geruch und wusste genau, was zu tun war. „Einen Schritt weiter, und ich puste dir das Gehirn aus dem Schädel!“

Mit einem spöttischen Grinsen hob Joshua beide Hände. „Ganz ruhig, Miss Wilder, wer wird denn gleich mit dem Ballermann herumfuchteln? Ich und meine Freunde tun schließlich nichts Verbotenes.“

Sein arroganter Ton brachte das Fass zum Überlaufen. „Hände hinter den Kopf!“, brüllte ich ihn an. Spätestens jetzt hatte eine unbändige Wut den anfänglichen Schock und das Gefühlschaos verdrängt, das das Wiedersehen mit meinem De facto Rudelführer nach fünfzehn Jahren grauenhafter Albträume und schmerzender Einsamkeit hervorrief. „Das gilt für alle!“, fügte ich hinzu als einer der Sicherheitsleute auf dem Ledersofa nach seiner Waffe griff.

Joshua machte eine beschwichtigende Geste. „Keine Angst, Jungs. Die bellt nur, beißt aber nicht.“

Allerhöchste Eisenbahn …, dachte ich, als ich durch die Fensterfront sah, wie das SWAT-Team auf dem Grundstück der O’Hallorans landete.

Ich wandte mich Valerie zu. „Alles okay bei dir?“ „Ja alles okay. Warum sollte es mir auch schlecht gehen?“, antwortete das Mädchen phlegmatisch. Ihre Augen waren glasig und ganz und gar ausdruckslos. Es schien fast so, als habe jemand mit einem Radiergummi jegliche Emotion aus ihnen entfernt.

Ich richtete meine Waffe wieder auf Joshua. „Was hast du mit ihr angestellt?“ Anscheinend war Valerie in dem gleichen Zauber gefangen, der auch schon Benny Joubert zum Selbstmord gezwungen hatte, denn auch sie blickte mich mit diesen leeren entrückten Augen an, die nichts Menschliches mehr besaßen.

„Ich? Überhaupt nichts!“, sagte Joshua unschuldig. „Ist dir überhaupt klar, was du da zu implizieren versuchst? Ich verwehre mich aufs Schärfste gegen derartige Anschuldigungen.“

Ich konnte meinen Ohren kaum trauen – implizieren … Der Joshua, den ich damals an einem Lagerfeuer in San Romita kennengelernt hatte, war nicht einmal in der Lage gewesen, einen einfachen Hauptsatz zu bilden.

„Weißt du, Luna, eigentlich hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben, dich noch einmal wiederzusehen“, begann er ruhig auf mich einzureden, während er erneut mit bedächtigen Schritten auf mich zukam. Mit konzentriertem Blick fixierte er meine Augen, und ich war wie gebannt von dem gelben Funkeln, das In ihnen brannte, obwohl er nicht mal ansatzweise verwandelt war. „Und jetzt, da ich dir gegenüberstehe, bin ich ziemlich enttäuscht – sehr enttäuscht, um ehrlich zu sein. Die Luna, die ich kannte, wäre niemals zu den Bullen gegangen und hätte im Leben nicht daran gedacht, eine Waffe auf den Mann zu richten, der sie zur Werwölfin gemacht hat und damit ihr rechtmäßiger Partner ist.“

Einen halben Meter vor mir blieb er stehen, ohne den Blickkontakt auch nur eine Sekunde unterbrochen zu haben. Langsam wurden meine Glieder schwerer, und ich konnte fühlen, wie sich meine Gedanken den seinen unterordneten und er mir allmählich seinen Willen aufzwang. Sehr enttäuscht …, rasten seine Worte durch meinen Kopf und stimmten mich urplötzlich traurig. Mit einem Schlag gab es nur noch einen Gedanken: Ich muss die Sache wieder in Ordnung bringen, muss ihm zeigen, dass ich ein würdiges Mitglied seines Rudels bin …

Das SWAT-Team stürmte mit wildem Gebrüll ins Zimmer und rang die Sicherheitsleute im Handumdrehen zu Boden. Ich nahm sie aber nur am Rande wahr, da mich Joshuas Blick noch immer gefangen hielt.

„Gutes Mädchen“, raunte er in einem Ton, in dem man rosafarbene Zwergpudel nach einem gelungenen Kunststück loben würde. „Vielleicht können wir jetzt doch noch das zu Ende bringen, was wir vor so vielen Jahren begonnen haben.“

Im nächsten Moment versuchte er mich anzugreifen, aber ich kam ihm mit einer raschen Bewegung zuvor und packte sein rechtes Handgelenk genau dort, wo sich die Schlangentätowierung befand. Von einem Moment auf den nächsten war das Band zwischen uns zerrissen. Joshuas Wille wurde von einer Welle aus Erinnerungen an die verhängnisvolle Nacht vor fünfzehn Jahren, in der mir Panik und Todesangst die Brust zugeschnürt hatten, aus meinem Kopf gespült.

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass er gerade versucht hatte, mich zu dominieren – und gottverdammt, es wäre ihm beinah gelungen. Wütend hob ich die Waffe, zielte links an seinem Ohr vorbei und ließ eine Kugel in die Holzvertäfelung hinter seinem Kopf krachen. Sofort sprangen die Männer des SWAT-Teams brüllend in Deckung und richteten ihre Waffen auf uns, während den mit Handschellen gefesselten Schlägern des Sicherheilsdienstes nichts anderes übrig blieb, als dem Schauspiel mit weit aufgerissenen Mündern zuzusehen.

Ich schaute Joshua erneut in die Augen, und diesmal zerbröselte sein Versuch, mich zu dominieren, unter meinem wuterfüllten Blick zu Staub. „Die nächste Kugel reißt ein Fünf-Zentimeter-Loch in deine Hühnerbrust!“, warnte ich ihn. Er versuchte, meine Drohung mit einem Lächeln abzutun, aber sein zuckender Unterkiefer verriet mir, dass er innerlich kochte. Mit einer müden Geste gab ich einem SWAT-Officer zu verstehen, dass er sich um Joshua kümmern solle.

„Schaffen Sie ihn mir aus den Augen, Officer!“

„Einige Dinge ändern sich nie“, hörte ich ihn sagen, als er in Handschellen gelegt und abgeführt wurde. „Immer noch die hochnäsige kleine Schlampe von früher.“

Erschöpft ließ ich mich auf einer Lederbank nieder, da mich plötzlich das Gewicht der Weste und der Pistole zu erdrücken schien. Auch meine Gliedmaßen fühlten sich an wie Blei. Joshua …, dachte ich und versenkte mein Gesicht in den Händen. Eigentlich hatte ich die ganze Zeit über gehofft, dass er tot, im Knast oder an irgendeinem weit entfernten Ort sei, sodass ich ihm nie wieder über den Weg laufen würde.

 

„Detective, wir haben ein Problem“, teilte mir der Einsatzleiter des SWAT-Teams mit.

„Was gibt’s, Captain …“

„Fuller, Ma’am. Mein Name ist Füller, und ich bin Sergeant.“

„Oh, entschuldigen Sie, Sergeant Füller. Wo liegt das Problem?“

Fr zeigte auf Valerie, die immer noch in dieser übertrieben aufrechten Haltung dasaß, als sei sie eine mit Valium zugedröhnte Abschlussballkönigin. „Die junge Frau behauptet steif und fest, dass sie nicht gegen ihren Willen festgehalten worden ist.“

Sofort war ich wieder auf den Beinen. „Wie bitte? Das kann unmöglich ihr Ernst sein. Sie ist entführt worden, verdammt noch mal!“

„Das ist Ihre Version, Detective“, sagte Sergeant Füller gelassen. „Aber Miss Blackburn behauptet, dass sie weder gegen ihren Willen hierhergebracht noch hier festgehalten worden sei.“

Der Zauber hatte sie also noch voll in ihrer Gewalt. Verzweifelt sah ich auf den Sergeant und das Dutzend hartgesottener SWAT-Officer. Denen etwas von Dämonenmagie, Hexen, Werwölfen und einer Blutfehde zwischen Caster- und Bluthexen wegen eines vollgekritzelten Schädels zu erzählen, erschien mir in diesem Moment aussichtslos.

„Wir müssen wohl oder übel alle freilassen“, erklärte Füller mit einem Seufzer. „Kein Verbrechen, keine Verhaftung. Tut mir leid, Ma’am.“ Unbeholfen gab er mir einen Klaps auf die Schulter und schenkte mir dann ein mitfühlendes Lächeln. Anscheinend dachte er, dass ich jeden Moment überschnappen würde – womit er gar nicht so falschlag.

Mit einem hämischen Grinsen im Gesicht kam Joshua, dem man mittlerweile die Handschellen abgenommen hatte, auf mich zugeschlendert. „Vielleicht klappt’s ja beim nächsten Mal, Miss Detective.“

„Halt dich besser fern von mir, Joshua!“, warnte ich ihn. „Ich glaube nämlich nicht, dass es mir irgendjemand in Nocturne City verübeln würde, wenn ich deine schmierige Visage mit ein paar Kugeln durchlöchere.“

„Außer Seamus O’Halloran vielleicht“, antwortete er wieder in diesem ruhigen Ton, der mich langsam, aber sicher zur Weißglut brachte. „Ich bin nämlich leitender Sicherheitschefin den Objekten der O’Hallorans.“

„Da haben sich ja zwei Schleimbeutel gefunden“, entgegnete ich ihm knurrig.

„Äußerst charmant. Langsam frage ich mich wirklich, was ich damals an dir gefunden habe. Ah, klar … ich erinnere mich, du warst leicht rumzukriegen.“ Nachdem er sich mit einem fiesen Lächeln verabschiedet hatte, gab er seiner Truppe ein Zeichen und ging.

Seine Bemerkung machte mich zwar weder ärgerlich noch wütend, wusste mich aber gehörig zu verletzen. Nur allzu gern hätte ich behauptet, dass ich in diesem Moment etwas kaputtschlagen oder ihm das Nasenbein hätte brechen wollen, aber es war zwecklos – seine Worte hatten mich aus der Bahn geworfen und schmerzten fast so sehr wie der Anblick von Dmitri und Irina vor dem Bete Noire. Ich konnte es nicht mehr leugnen: Joshua war ganz einfach ein Teil von mir. Sein Blut war mein Blut. Er war in der Lage, mich, wann immer er wollte, emotional in Stücke zu reißen, und eigentlich gab es nur zwei Möglichkeiten, sich seinem Einfluss zu entziehen: Entweder ich würde mich einem anderen Rudel anschließen oder meinem Leben ein Ende setzen.

Da vorerst keine der beiden Optionen infrage kam, rannte ich zum Fairlane, ließ die Scheiben hochfahren und schrie mir so lange die Kehle aus dem Hals, bis mir schwarz vor Augen wurde.