12

Ich saß auf der Kühlerhaube des Fairlane und hatte mein Gesicht in den Händen vergraben, als Shelby endlich bei den parkenden Autos vor dem Club auftauchte. Sowohl mein Körper als auch meine Seele waren vollkommen erschöpft. Am liebsten hätte ich mich an Ort und Stelle zusammengerollt und in den Schlaf geflüchtet, um dem Gedanken an Dmitris Verrat an mir – und vor allem an uns – zu entrinnen.

„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte Shelby fürsorglich und riss mich aus meinen jammervollen Gedanken.

„Nein, ganz und gar nicht“, antwortete ich kurz, und da sie nicht weiter nachfragte, beließ ich es dabei. Wie konnte Dmitri das nur tun? Und wie hatte er vor allem den Rudelältesten erlauben können, das zu tun? Den Gesetzen des Rudels blind zu folgen war etwas für Hohlköpfe und Mitläufer – für Wesen, die, wären sie Menschen, früher oder später wahrscheinlich mit rasiertem Schädel und grässlich schlabbrigen Batikklamotten in irgendeiner Sekte landen würden. Genau deswegen hatte ich trotz der Beleidigungen, trotz der quälenden Grübeleien über Dominanz und Unterlegenheit und trotz der fortwährenden Gefahr, von einem dahergelaufenen Rudelführer zur Paarung gezwungen zu werden, beschlossen, eine Insoli zu bleiben. Lieber ständig auf der Flucht, als willenlos unterworfen – das hatte ich mir geschworen.

„Immerhin nehmen wir drinnen eine ganze Menge Leute mit Drogen hoch“, bemerkte Shelby. „War also nicht völlig umsonst, das Ganze.“

„Für unseren Fall war es definitiv umsonst“, murrte ich und rieb mir die müden Augen, sodass meine Hände über und über mit Make-up und Blut verschmiert wurden.

„Detective!“, rief ein Polizist zu uns herüber. Shelby legte ihre Hand auf meine Schulter. „Bleib du hier sitzen. Ich kümmere mich drum.“

Der Polizist hatte einen mit Handschellen gefesselten Mann Im Schlepptau, den ich erst auf den zweiten Blick als meinen Stiefellecker wiedererkannte. Schade], dachte ich, denn eigentlich hatte er wie ein recht anständiger Kerl gewirkt.

Shelby unterhielt sich mit ihm, und als er sie mit seinem zuckersüßen Lächeln ansah, hatte ich erneut das eigenartige Gefühl, seine Visage irgendwoher zu kennen. Mit einem Nicken erlaubte er Shelby, sein Portemonnaie aus seiner Hosentasche zu fingern, da sie anscheinend einen Blick auf seinen Ausweis werfen wollte. Eine Sekunde später wies sie mit einer Mischung aus Schock und Beschämtheit im Gesicht den Polizisten an, dem Stiefellecker die Handschellen abzunehmen. Nachdem sie ihm das Portemonnaie zurückgegeben hatte, schüttelte er ihre Hand, und Shelby ließ ihn mit einem netten Lächeln und einer Entschuldigung zum Abschied ziehen.

„Was war das denn?“, fragte ich erstaunt, als sie wieder bei mir war.

„Ein Fehler“, meinte sie zögernd und rieb sich dabei hektisch die Hände, als habe sie sich gerade dreckig gemacht. „Der Kollege hat einen Fehler gemacht.“

„Die ganze verdammte Nacht ist ein einziger Fehler gewesen“, brummte ich. Ein riesengroßer, beschissener Fehler sogar … Schließlich wurde ich nicht jede Nacht in einem Käfig vermöbelt, nur um dann herauszufinden, dass der einzige Mann, der mir auf dieser Welt wirklich etwas bedeutete, mit einer osteuropäischen Werwolf-Gespielin durchgebrannt war. Die vergangenen Stunden hatten dieser ohnehin schon katastrophalen Nacht die Krone aufgesetzt und sie in die Top Ten meiner schlimmsten Albträume katapultiert.

„Ich hab da vielleicht etwas, womit ich dich ein wenig aufmuntern kann“, sagte Shelby zögernd, während ich meine zerzausten Haare zu einem Zopf flocht. Mit einer eiligen Handbewegung forderte ich sie auf weiterzusprechen, denn ich hoffte, dass ihr Geplapper mir etwas Ablenkung verschaffen würde. Zumindest für einen Moment müsste ich dann nicht mehr darüber nachdenken, wie ich Dmitri und Irina auf möglichst schmerzhafte Weise über den Jordan schicken könnte.

„Wir haben den Namen des offiziellen Besitzers vom Bete Noire herausbekommen“, begann Shelby zu erklären. „Da hier ganz offensichtlich jede Menge Drogen vertickt werden, lohnt es sich vielleicht, den Weg des Geldes zurückzuverfolgen. Möglicherweise erfahren wir ja so was über den Tod von Vincent Blackburn.“

„Gute Idee“, antwortete ich, „aber irgendwie habe ich die Befürchtung, dass die Leute vom Drogendezernat uns nicht gerade mit offenen Armen empfangen werden.“ Die Drogenfahnder waren seit jeher als ein eingeschworener Haufen bekannt, der niemanden auf seiner Spielwiese duldete. Die Hälfte von ihnen hielt sich selbst für verhinderte Doppel-Null-Agenten, und so wurde immer sofort Zeter und Mordio geschrien, wenn man einem ihrer Fälle zu nahe kam. Aus unerfindlichen Gründen konnten sie auf mehr Bundesdatenbanken zugreifen als das Morddezernat, waren aber trotzdem – oder gerade deswegen -sehr kleinlich bei der Preisgabe von Informationen. Ständig ließen sie andere Abteilungen wissen, dass es so etwas wie einen kleinen Gefallen unter Kollegen für sie nicht gab.

Shelby winkte ab. „Wer hat denn was vom Drogendezernat gesagt? Mein Onkel Patrick wird uns helfen. Das Unternehmen meiner Familie kann auf dieselben Daten zugreifen wie das Nocturne City Police Department.“

Was du nicht sagst … Wie jeder, der hin und wieder eine Tageszeitung durchblätterte, hatte ich so etwas schon geahnt. Die O’Halloran Group war einer der mächtigsten Konzerne der Westküste und verdankte ihre weit reichenden Verbindungen in Politik und Wirtschaft dem ewig grinsenden Aushängeschild des Unternehmens – Patrick O’Halloran. Auf mich hatte er immer einen recht schmierigen Eindruck gemacht, aber anscheinend sahen die Zeitungs- und Fernsehleute der Stadt das anders, denn seine aalglatte Visage tauchte alle paar Tage in den Medien auf, um das aktuelle Börsengeschehen zu kommentieren.

„Er wird uns sicher mit Vergnügen helfen“, sagte Shelby. „Ich hin nämlich seine Lieblingsnichte.“

Lieblingsnichte … Das konnte ich mir nur allzu gut vorstellen. Eigentlich passte es mir gar nicht, dass es jetzt noch einen Hexer geben würde, von dem ich mir mit übertriebener Nettigkeit einen Gefallen erschleichen musste. Andererseits schien es mir weitaus weniger erniedrigend, Patrick O’Halloran um einen Gefallen zu bitten, als einen schwitzenden Ermittler vom Drogendezernat um Informationen anzubetteln und dabei seinen mit billigem Parfüm übertünchten durchdringenden Körpergeruch ertragen zu müssen. „Ich denke allerdings, dass er uns nicht wirklich helfen kann, wenn er keine Einzelheiten kennt“, gab ich zu bedenken. „Schließlich können wir ihm nicht sagen, dass wir Drogengeld auf der Spur sind. Er darf ja noch nicht mal wissen, dass wir in einem drogenbedingten Todesfall ermitteln, geschweige denn, dass es überhaupt einen Todesfall gegeben hat. Du hast ja keine Vorstellung, was McAllister mit uns anstellt, wenn er herausfindet, dass wir mit Leuten außerhalb des Polizeiapparats über Ermittlungsdetails plaudern.“ Wahrscheinlich würde Mac uns weder abmahnen noch sonst irgendwie bestrafen, sondern nur wild brüllend Gegenstände durch die Gegend schleudern – aber selbst diese Vorstellung bereitete mir Unbehagen.

„Onkel Patrick wird die ganze Sache natürlich absolut vertraulich behandeln“, versicherte Shelby, und noch bevor ich etwas erwidern konnte, fügte sie hinzu: „Es ist ohnehin schon zu spät, Luna. Ich habe ihn bereits angerufen und uns für morgen einen Termin besorgt.“

Ich warf ihr einen verärgerten Blick zu. „Für dich als Star des Sittendezernats mag das vielleicht kein Problem sein, aber mir sitzt Morgan im Nacken, und eigentlich kann ich’s mir momentan überhaupt nicht erlauben, die Regeln zu missachten, Shelby.“

„Du machst dir zu viele Sorgen“, beruhigte sie mich. „Geh einfach nach Hause und schlaf dich mal richtig aus! Du siehst nämlich aus wie Courtney Love nach einer dreitägigen Sauftour.“

„Und du kommst gerade rüber wie Heidi Klum auf Speed“, konterte ich. Darauf antwortete Shelby nichts mehr, sondern warf mir lediglich einen leicht angesäuerten Blick zu und ging zu ihrem Auto. „Um elf vor dem O’Halloran Tower. Pünktlich!“

Ich schaute den Rücklichtern ihres Nissan noch einen Moment lang nach, bis sie in der Ferne verschwanden. Kurz darauf rollte ein Konvoi von Polizeiwagen vom Parkplatz, um die zahlreichen verhafteten Clubgäste ins Bezirksgefängnis Las Rojas zu transportieren. In gewisser Weise konnten sie einem leidtun, denn sie hatten jetzt das komplette Programm samt Aufnahme der Personalien, Untersuchungshaft und Ermittlungsverfahren wegen Drogenbesitzes vor sich. Obwohl ein frostiger Nebel aufgezogen war, der mein Gesicht mit kleinen, kalten Wassertröpfchen benetzte, verharrte ich regungslos auf der Motorhaube des Fairlane. Ich wollte noch nicht nach Hause fahren, auch wenn sich mein erschöpfter Körper nach einer guten Portion Schlaf sehnte. Stattdessen hockte ich gedankenverloren da und hoffte insgeheim darauf, dass ER aus der kleinen Gasse hinter dem Club treten, mich in die Arme nehmen und mir sagen würde, dass alles ein schreckliches Missverständnis gewesen sei. Aber er kam nicht. Lange nachdem alle anderen vom Einsatzteam schon gefahren waren, saß ich immer noch mutterseelenallein in der Nacht und ließ die Kälte in meine Knochen kriechen, damit sie den Schmerz in meinem Herzen betäubte.

Als der rosafarbene Neonschriftzug des Bete Noire schließlich erlosch, waren die letzten Streifenpolizisten gerade damit beschäftigt, den Eingang zu versiegeln und mit einem Vorhängeschloss zu sichern. Erst nachdem auch das letzte Licht in den Wohnungen über dem Club erloschen war, fuhr auch ich endlich nach Hause.

Doch kaum war ich an der Siren Bay Bridge angekommen, wurde mir klar, dass ich in meiner gegenwärtigen Verfassung ohnehin kein Auge zukriegen würde. Mit zitternden Händen umkrampfte ich das Lenkrad und merkte, wie mich die Lichter am Brückengeländer plötzlich blendeten – anscheinend hatten meine goldenen Werwolfaugen gerade auf Nachtsicht umgeschaltet.

Kurz entschlossen wendete ich den Wagen mitten auf der Brücke und nahm die Ausfahrt zum Hafen von Nocturne City. Mein Weg führte mich an riesigen Kränen und aufeinandergestapelten Containern vorbei, die eigenartige Schatten auf den Asphalt warfen. Es schien fast so, als hätte die Hand eines Riesen sie mit schwarzer Kohle auf den Boden gemalt.

Das einzige Anzeichen von Leben in dieser trostlosen Hafenbrache war das schwache Licht, das aus der umgebauten Lagerhalle vor mir drang. Die Vorderseite des vertrauten Gebäudes bestand aus hellen Betonziegeln, auf denen riesige schwarze Lettern prangten – MORTS GYM: KICKBOXING & SHO-TOKAN KARATE. Schon seit einer halben Ewigkeit kam ich regelmäßig in das rund um die Uhr geöffnete Dojo, wo ich mich zwischen Cops, Leibwächtern und Schlaflosen in bester Gesellschaft wusste.

Ich parkte den Wagen auf dem Schotterplatz vor der Halle und kramte meine Sporttasche aus dem Kofferraum. Meine Muskeln fühlten sich völlig steif an. Die Anstrengungen der letzten Stunden begannen ihren Tribut zu fordern. Unweigerlich musste ich an die Folgen der vielen aufgeschobenen Trainings stunden denken, für die mein Körper jetzt bezahlen müsste, und stieß einen Seufzer aus.

Am Eingang schlug ich auf die Glocke über der Tür, die als Klingel fungierte, und der Besitzer des Dojo sah überrascht von seinem Schreibtisch auf. „Wilder! Dachte schon, du wärst längst Wurmfutter.“

„Noch ist es nicht so weit, Mort“, antwortete ich. „Kann sich aber schnell ändern, wenn ich erst mal mit dem Training angefangen habe.“

Mort brummte zustimmend. Mit seinem kahlen Kopf, dem untersetzten Körper und der blassen Haut sah er aus wie die Idealbesetzung für die Rolle des in die Jahre gekommenen Boxtrainers Mickey im nächsten Rocky-Streifen. Eigentlich konnte sich niemand, der Mort zum ersten Mal sah, wirklich vorstellen, dass dieser kleine Mann den 5. Dan-Grat unter den Shotokan-Schwarzgurten erreicht und sich über Jahre hinweg als Bare-Knuckle-Boxer in Thailand durchgeschlagen hatte, nachdem er den professionellen Kampfsport wegen einer Knieverletzung an den Nagel hatte hängen müssen. Mort war nicht einfach nur ein zäher Hund – er war bei Weitem der härteste Typ, den ich unter den gewöhnlichen Menschen bisher kennengelernt hatte.

„Du schuldest mir noch die Kohle vom letzten Monat“, maulte er und widmete sich wieder dem Buch auf seinem Schreibtisch. Es schien ein übler Kitschroman zu sein. Der Titel „Hemmungsloses Verlangen“ wurde durch das Cover – auf dem ein muskulöses Alpha-Männchen ohne Hemd eine großbusige Frau in den Armen hielt – komplettiert und ließ in Kombination mit der kursiv gedruckten Überschrift „Wahre Liebe kennt keine Grenzen“ nichts Gutes vermuten.

„Was für ein Mist!“, murmelte ich.

„Wie bitte?“

„Ach nichts“, versicherte ich ihm und kramte schnell fünfundneunzig Dollar aus meiner Brieftasche, um meinen Mitgliedsbeitrag zu bezahlen. Beim Anblick der Scheine machte Mort große Augen und ließ einen erstaunten Pfiff hören.

„Eine Menge Bares, das du da mit dir rumschleppst. Kassierst du jetzt etwa nebenbei, Wilder?“

„Wenn es so wäre, Mort, dann würde ich bestimmt nicht in diesem Dreckloch hier trainieren.“

„Stimmt auch wieder“, brummte er.

Nach der kurzen Unterhaltung mit Mort verschwand ich in der Damenumkleide und streifte mir eine lockere schwarze Laufhose und einen Sport-BH über. Dann klebte ich mir Finger und Handgelenke ab, ließ die Trainingshandschuhe aber in der Tasche. Heute sollte es wehtun. Ich wollte mir nicht nur den angestauten Ärger, sondern auch das bohrende Gefühl der Erniedrigung und die Gedanken an einen gewissen Dmitri Sandovsky aus dem Körper prügeln. Thaiboxen war genau der richtige Sport dafür. Im Grunde ist diese Mischung aus fernöstlicher Kampfkunst und westlichem Boxstil nur für Leute geeignet, die in möglichst kurzer Zeit einen möglichst großen Schaden bei ihrem Gegner anrichten wollen. Mit Fäusten, Knien, Schienbeinen und Füßen wird so heftig auf den anderen eingehämmert, dass er nach Möglichkeit nicht wieder aufsteht. Zumindest bestand darin immer mein Ziel, wenn ich die von Mort erlernten Techniken bei Auseinandersetzungen im Dienst einsetzen musste.

Ich begann mein Training mit einer Reihe gerader Jabs, die aber kaum den Sandsack berührten. Der Zweck dieser Übung bestand darin, nach einer langen Woche ohne Training erst mal wieder ein Gefühl für Füße und Hände zu entwickeln. Ich merkte gleich, dass mein Gleichgewicht sehr zu wünschen übrig ließ, was aber in meinem Zustand kein Wunder war. Trotzdem legte ich ein paar ganz ordentliche Kombinationen und eine gelungene Serie gerader Kicks hin, die mich allerdings ganz schön aus der Puste brachten.

Ich prügelte wie wild auf den Sandsack ein, machte Liegestütze auf meinen Fäusten und auch noch Sit-ups, bis mir der Bauch wehtat, doch nichts von alledem konnte die quälenden Gedanken an Dmitri vertreiben. Irina schien ihm sehr gut in den Kram zu passen. Kein Wunder eigentlich – welcher Werwolf träumte nicht davon, eins der nuttigen Rudelgroupies für sich allein zu haben, damit es ihm alle Wünsche von den Augen ablas? Wahrscheinlich musste ich mich einfach damit abfinden, dass er nichts weiter als ein ehr- und treuloses Stück Abschaum war. Ohne ihn würde ich definitiv besser dran sein. Entsetzt darüber, wie wenig überzeugend meine innere Stimme klang, erhöhte ich instinktiv das Tempo meiner Schlagkombinationen, sodass der Sandsack in einer Weise zu schaukeln begann, als würde er die Finten und Ausweichbewegungen eines echten Gegners nachahmen.

Obwohl er mich betrogen und belogen hatte, spürte ich doch, dass ich Dmitri trotzdem immer noch wollte. Natürlich war mir klar, dass ich an dieser unglückseligen Situation nicht ganz unschuldig war, aber im Moment schien es mir einfacher, Dmitri für alles verantwortlich zu machen. Die einzige vernünftige Lösung schien darin zu bestehen, ihn komplett aus meinem Leben zu streichen. Seine Augen, sein Lächeln, seinen Geruch und vor allem seine starken Hände, die nun Irina und nicht mich liebkosten – ich musste all diese Erinnerungen aus meinem Hirn verbannen. Auch das unbeschreiblich gute Gefühl, etwas nichtiges zu tun, wenn ich mit ihm zusammen war, galt es, ein für alle Mal zu beerdigen. Dmitri Sandovsky durfte einfach keine Rolle mehr in meinem Leben spielen.

Mein Blick fiel wieder auf den Sandsack, und ich merkte an seinen trägen Bewegungen, dass ich ihn nur noch nachlässig bearbeitete. Immer wieder ließ ich meine Fäuste sinken, und auch in meinen Schlägen steckte kein System mehr. In einem richtigen Kampf hätte mich mein Gegner wohl schon längst grün und blau geschlagen.

Ein leise piepsender Ton drang plötzlich aus der Umkleide an mein Ohr. Mort schien das Geräusch nicht zu hören, denn er starrte weiterhin unbekümmert in seinen Schundroman, doch meine sensiblen Ohren erkannten sofort, dass es mein Handy war, das da klingelte. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich rangehen sollte. Eigentlich waren mir sofort drei Gründe eingefallen, die dagegen sprachen: Erstens war ich mies gelaunt, zweitens nicht im Dienst und drittens drauf und dran, völlig rechtmäßig einen Tag krankzumachen. Andererseits konnte es natürlich wichtig sein. Vielleicht rief ja Sunny an … oder Dmitri!

Im Laufschritt verließ ich die Trainingshalle und konnte gerade noch rechtzeitig das Handy ergreifen. Eine Sekunde später, und der Anruf wäre zur Mailbox weitergeleitet worden. „Hallo?“

„Warum hast du mich nicht angerufen?“

Enttäuscht ließ ich mich neben meiner Sporttasche auf die Bank plumpsen, an der ich dank meiner schweißnassen Hose regelrecht festzukleben schien. „Trevor“, grüßte ich ihn, ohne auf seine Frage zu antworten.

„Wo bist du gewesen?“, wollte er wissen. Meine Wade begann zu krampfen. Entnervt sprang ich auf und tänzelte in der Umkleide umher, wobei ich in der einen Hand das Telefon hielt und mit der anderen versuchte, mein schmerzendes Bein zu massieren.

„Ich habe gearbeitet.“

„Du hast doch gesagt, du würdest mich nach dem Gig anrufen.“

„Tut mir leid, Trevor, aber im Moment kann ich mich irgendwie nicht daran erinnern, das gesagt zu haben. Liegt wahrscheinlich an der stumpfen Gewalteinwirkung, der mein Schädel heute Nacht ausgesetzt war“, versuchte ich das Gespräch mit einem Scherz aufzulockern. Aus der Hörmuschel drang jedoch nur ein kurzer Seufzer, der sogleich in den verzerrten Gesprächsfetzen seiner Bandkollegen und der seichten Musik, die im Hintergrund dudelte, unterging. Anscheinend war Trevor wieder mal mit dem Rest der Band in ihrer Stammkneipe – einem widerlichen Hipster-Schuppen namens Poe Bar – gelandet. „Babe, das hört sich alles gar nicht nach dir an. Gibt es da etwas, das du mir sagen müsstest?“

Eigentlich nur, dass meine wahre Liebe mit einer großbusigen Frau an der Seite wieder in mein Leben getreten ist und ich gerade Pläne schmiede, beide über den Jordan zu befördern, dachte ich und antwortete mit leichter Verzögerung: „Nein, Trevor! Es tut mir echt wahnsinnig leid, dass ich dich nicht angerufen habe, aber ich bin wirklich hundemüde und hab gerade eine mörderische Nacht hinter mir …“

„Okay, okay, okay, ich versteh schon“, unterbrach er mich. „Pass auf, Babe, ich hab da eine Überraschung für dich. Wir haben eine Einladung bekommen, zwei Gigs in San Romita zu spielen. Es wird wahrscheinlich nicht so viel los sein, weil die Touri-Saison fast vorbei ist, aber der Clubbesitzer hat Mega-Connections zur Ostküste.“ Er machte eine kurze Pause, um sich einen Schluck zu gönnen. „Auf jeden Fall würde ich mich freuen, wenn du mitkommst, Luna.“

Mein Herz hatte in dieser Nacht schon einige Male wild schlagen müssen, doch das war alles nichts gegen das dröhnende Pochen, das die Erinnerung an San Romita nun in meiner Brust auslöste. Es war mittlerweile fünfzehn Jahre her, dass ich aus meiner Heimatstadt nach Nocturne City geflohen war. Sri! meiner Verwandlung in eine Werwölfin hatte ich weder einen Fuß in dieses gottverlassene Nest gesetzt noch sonderlich große Lust verspürt, die unangenehmen Erinnerungen an meine wahnsinnige Familie, die Sache mit Joshua und mein verkorkstes Leben durch einen Besuch in dieser Sackgasse von einer Stadt wieder aufzufrischen.

„Babe?“, drängte Trevor auf eine Antwort.

„Tut mir leid“, flüsterte ich, „aber ich kann nicht mitkommen.“

Trevor schickte ein enttäuschtes Stöhnen durch die Leitung. „Was meinst du mit Ich kann nicht mitkommen? Du nimmst doch niemals Urlaub und arbeitest die ganze Woche über rund um die Uhr. Da kannst du nicht mal zwei Tage freinehmen, um mal zur Abwechslung mich zu unterstützen?“

Während ich zu einem winzigen Teil schon bereit war einzulenken, fand ich eigentlich, dass es nach ein paar Wochen lockeren Ausgehens definitiv noch nicht an der Zeit für ein Gespräch von der Sorte „Du unterstützt mich nicht genug“ war, und wollte einfach nur „Nein, nein, NEIN!“ ins Handy brüllen.

„Darum geht’s nicht, Liebling“, sagte ich, nachdem ich ein paarmal tief durchgeatmet hatte.

„Worum geht’s denn dann?“, blaffte Trevor.

Einen Moment lang rang ich mit mir, ob ich ihm die Wahrheit sagen sollte, entschied mich dann aber dagegen. Ich war noch nicht bereit, ihm meine Vergangenheit zu offenbaren und über San Romita, den Biss und mein Leben als Insoli zu sprechen.

„Ich kann nicht erwarten, dass du es verstehen wirst, Trevor, aber glaub mir bitte einfach, wenn ich dir sage, dass ich wirklich nicht mitkommen kann.“

„Was soll ich dir darauf noch antworten, Luna?“, fauchte er in einem derart ätzenden Ton, dass es mir die Sprache verschlug. „Ich werd dir mal was sagen, Luna … Du bist eine unglaubliche Egoistin! Du nimmst und nimmst und nimmst und gibst nie etwas zurück. Eigentlich brauchst du dich nicht darüber zu wundern, dass dich alle Leute in deinem Leben auf Abstand halten! Genau das ist nämlich der Grund … du bist so sehr mit dir selbst beschäftigt, dass du gar keine Zeit hast, um dich mal in einen anderen Menschen hineinzuversetzen.“

Langsam formte mein Mund ein rundes O, aber noch bevor ich zum Schrei ansetzen konnte, wurde er von den heißen Tränen in meinen Augen erstickt. Verbittert presste ich die Lippen zusammen. Auch wenn seine Worte unheimlich schmerzten, wusste ich doch, dass Trevor recht hatte. Anscheinend war ich tatsächlich unfähig, mich in andere Menschen hineinzuversetzen. Sunny hatte sich von mir abgewandt, weil ich ihr Bedürfnis nach Sicherheit nicht beachtet hatte, und auch auf Dmitri war ich nicht wirklich eingegangen. Wenn ich mich bemüht hätte, seine Loyalität gegenüber den Redbacks zu verstehen, anstatt ein Opfer von ihm zu verlangen, das er nicht bringen konnte, wäre er ganz sicher nicht in Irinas Arme gelaufen.

„Lass uns lieber jetzt aufhören … das ist gerade etwas zu heftig für mich. Ich ruf dich später noch mal an“, sagte Trevor.

„Nicht nötig“, flüsterte ich, aber er hatte schon aufgelegt. Gedankenversunken legte ich das Handy in meine Sporttasche zurück und ging mit geballten Fäusten wieder hinaus in die Trainingshalle.

Es war die Wölfin in mir, die die Menschen, die ich liebte, von mir stieß. Seit jeher hatte sie mich mit ohnmächtiger Wut und tiefer Frustration erfüllt, hatte immer wieder aufs Neue diese starken Gefühle in mir heraufbeschworen, die ständig nach einem Ventil suchten. Jedes Mal, wenn ich mich ärgerte oder verletzt fühlte, brachen sie in Form einer unbändigen Raserei über mich herein und schlugen die Menschen in meiner Nähe In die Flucht.

Angestachelt von Trevors Worten, forderte die Wölfin in mir nun, dieser Raserei freien Lauf zu lassen.

Ich fixierte den schweren Sandsack auf der anderen Seite der Halle und rannte mit vollem Tempo auf ihn zu. Kurz vor dem Zusammenstoß legte ich meinen ganzen Körper und die Wucht des Anlaufs in einen linken Cross, der mit einem ungeheuren Bums gegen den Sack knallte und ihn sofort aus seiner Aufhängung riss. Nach gut drei Metern freiem Flug schlug der Sack krachend auf den Boden.

„Mein Gott, Wilder! Was soll der Krach?“, rief Mort, der seinen Kopf fast zeitgleich mit dem Knall in die Höhe riss. Er brauchte einen Moment, um beim Anblick des zerrissenen Sandsacks zu begreifen, was geschehen war. „Was in drei Teufels Namen …“, stammelte er verwundert.

Auch ich brauchte einen Moment, um mich zu fangen. Erst als das Summen in meinen Ohren nachgelassen hatte und die Wölfin zurück in ihre Höhle in meinem Unterbewusstsein gekrochen war, konnte ich wieder einen klaren Gedanken fassen. „Das … das tut mir unheimlich leid.“

„Nicht doch, nicht doch …“, murmelte Mort, der sich in diesem Moment wahrscheinlich mehr Gedanken um mögliche Zivilklagen als um den zerrissenen Sandsack machte. „Verdammt noch mal! Ich hab doch gleich gewusst, dass diese Bolzen nichts taugen“, fluchte er und sah sich dabei den Haken der Aufhängung an, den ich mit meinem Schlag aus dem Querbalken gerissen hatte.

„Ja, die Dinger solltest du unbedingt mal überprüfen lassen“, stimmte ich ihm zu und war erleichtert, dass er mich nach dieser Vorstellung nicht mit einem Kruzifix in der Hand und den Worten „Weiche, Dämon!“ aus der Halle jagte.

Als ich meine schmerzende Hand untersuchte, sah ich, dass Blut von meiner Hand tropfte. Mit meinem Schlag hatte ich nicht nur das Klebeband an meinen Fingern zerfetzt, sondern mir auch die Haut von den Fingerknöcheln gerissen. „Ich denke, ich werd mich jetzt auf den Heimweg machen“, sagte ich kleinlaut, während ich meine geschundene Hand unter meine rechte Achselhöhle klemmte.

„Klar doch“, murmelte Mort abwesend und schüttelte mit einem Blick auf den zerrissenen Sandsack den Kopf. „Gute Nacht dann …“

Als ich aus der Halle trottete, ergriff mich eine Mischung aus Wehmut und Reue. Unweigerlich musste ich noch einmal an Trevors Worte denken und hätte mich am liebsten an Ort und Stelle auf den Boden geworfen, um mein Leid in Tränen und Schluchzen zu ertränken.

In der Umkleide zog ich mir schnell ein Sweatshirt über und rannte so, wie ich war, aus dem Gebäude. Als ich dann im Fairlane saß, musste ich erst mal tief durchatmen, um mich von dem bohrenden Schmerz abzulenken, der in meinem Bauch wütete. Ob der Grund dafür in den Strapazen der letzten Stunden oder bei einem Werwolf namens Dmitri Sandovsky zu suchen war, wusste ich nicht – und eigentlich war das auch egal.

Ich musste ihn endlich loslassen und ein für alle Mal akzeptieren, dass er mich verlassen hatte. Sonst würden über kurz oder lang die dünnen Fäden, die meine menschliche Hülle zusammenhielten, zerreißen und die Bestie in mir entfesseln. Obwohl ich nur ahnen konnte, wozu ich dann in der Lage sein würde, jagte mir allein der Gedanke daran trotz voll aufgedrehter Heizung noch eine ganze Weile eiskalte Schauer über den Rücken.