5
Als ich zu meinem Schreibtisch zurückkam, betrachtete Shelby gerade die Laborergebnisse, die mir Kronen gegeben hatte. Wütend riss ich ihr die Mappe aus den Händen und knallte sie auf den Tisch. „Um eins gleich klarzustellen, Ms Minirock, ich wollte Sie nicht als Partnerin, und ich weiß schon jetzt, dass ich Sie nicht ausstehen kann. Sie sollten also keine schwesterliche Zuneigung von mir erwarten, während wir da draußen fiese Typen jagen und die Welt etwas sicherer machen, verstanden?“
Ihre Reaktion auf meine Ansage bestand aus einem Kopfschütteln und einem müden Lächeln. „Wie Sie meinen, Luna. Ich bin nur hier, um meinen Job zu machen, und wenn Sie ein Problem mit Partnern haben, dann ist das ganz allein Ihr Ding.“
Zur Hölle mit dir!, dachte ich. Was gab ihr überhaupt das Recht, so verdammt entspannt zu sein?
„Wie ich sehe, beschäftigen Sie sich gerade mit einer möglichen Überdosis“, sagte Shelby und nahm die Mappe mit den Laborergebnissen wieder zur Hand. „Was wird unser nächster Schritt sein?“
Ich überlegte kurz, ob ein Geschworenengericht es wohl als Notwehr ansähe, wenn ich ihr wegen ihrer dreisten Bemerkungen und der nervigen Barbiestimme die Kehle herausreißen würde.
„Erzählen Sie mir jetzt bloß nicht, dass Sie noch keine Spur haben“, bemerkte Shelby schnippisch. „Haben Sie denn noch nicht mit seinen Dealern und Kollegen gesprochen?“
„Es handelt sich um einen Unfalltod“, erklärte ich. „Das wird auch der Gerichtsmediziner als offizielle Ursache angeben, sobald er mit der Autopsie fertig ist.“ Und dann fiel mir plötzlich die perfekte Methode ein, um Shelby für den Rest der Nacht loszuwerden: „Im Moment bleibt uns nur, die Angehörigen zu benachrichtigen.“
Jeder Cop, der bei Sinnen war, hasste es, einer Mutter, einem Ehemann oder einem Kind mitteilen zu müssen, dass ein geliebtes Familienmitglied nicht mehr unter den Lebenden weilte. Das galt besonders dann, wenn der Tote mit Unmengen von Einstichstellen in einer schmierigen Gegend aufgefunden worden war. Ich hatte eigentlich darauf getippt, dass Shelby ganz plötzlich ein äußerst wichtiger Maniküretermin oder ein unaufschiebbares Waxing einfallen würde, als ich ihr mitteilte, worin „unser nächster Schritt“ bestand. Stattdessen zuckte sie nur die Schultern und sagte: „Okay. Wir können uns ja auf dem Rückweg was zu essen holen.“
Langsam begann ich sie wirklich zu hassen.
Nachdem nun mein Versuch, sie abzuschütteln, fehlgeschlagen war, machten wir uns auf den Weg. Kurz nach der Auffahrt zum Expressway bemühte sich Shelby dann erneut, ein Gespräch anzufangen.
„Sie sind noch gar nicht auf meinen Nachnamen eingegangen …“
Ich schaltete hoch in den Fünften und stöhnte auf. „Ich bitte Sie, Shelby! Soll ich jetzt etwa vom großen Namen der O’Hallorans beeindruckt sein oder vor Schreck erzittern und ehrfürchtig niederknien?“
Die Geschichte der Familie O’Halloran konnte einem wie ein Märchenfilm erscheinen: Sie waren einst als arme Immigranten aus Irland gekommen, hatten dann als Diener und Wäscherinnen angefangen und sich über die Generationen hinweg ein weltweites Bankenkonglomerat aufgebaut. Zusätzliche Bekanntheit wurde der Familie durch Siobhan O’Halloran zuteil, die in den Achtzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts die Ehefrau eines prominenten Mitglieds der Gesellschaft von Nocturne City erstochen hatte. Außerdem gab es da noch das weit verbreitete Gerücht, dass die O’Hallorans Casterhexen waren – und zwar jedes einzelne Familienmitglied.
„Dann haben Sie also doch schon von uns gehört?“, fragte Shelby in einem Tonfall, der so herablassend klang, als würde sich einer ihrer reichen Verwandten gerade an einen Dienstboten wenden.
„Ja, ich habe schon von Ihrer Familie gehört, und ich kenne auch alle Gerüchte“, antwortete ich. „Wenn Sie jetzt denken, dass mir das Angst einflößt, muss ich Sie aber leider enttäuschen. Meine Cousine ist selbst eine Casterhexe.“
Shelby lachte und strich sich ihre blondierten Strähnchen hinter die Ohren. „Wenn wir schon bei Gerüchten sind, Luna, soll ich Ihnen mal erzählen, was mir über Sie zu Ohren gekommen ist?“
Meine Finger krampften sich ums Lenkrad, und der Fairlane brach etwas zur Seite aus. „Und, was haben Sie gehört?“
„Nur, dass Sie eine Werwölfin sind“, erwiderte Shelby mit einem listigen Grinsen. „Und dass Sie Alistair Duncan als Werwölfin erledigt haben. Nach dem Gesetz ist das nicht Notwehr, sondern Mord …“
Ich warf ihr einen finsteren Blick zu, und das trockene Stechen hinter meinen Augen verriet mir, dass sie gerade goldfarben aufloderten. „Vielleicht wollen Sie die Wahrheit lieber aus erster Hand erfahren, Shelby?“, knurrte ich.
„Beruhigen Sie sich bloß wieder, Luna“, meinte sie und winkte ab. „Ich wollte mich bloß für den Kommentar über Ms Minirock revanchieren und Sie ein bisschen aus der Reserve locken. Da brauchen Sie nicht gleich aus der Haut zu fahren.“
„Shelby, ich kann Ihnen versichern, dass Sie nicht wissen wollen, was passiert, wenn ich tatsächlich aus der Haut fahre!“
„Entschuldigung“, erwiderte sie in einem überraschend aufrichtigen Ton. „Sie sind der erste Werwolf, mit dem ich mehr als zwei Worte wechsle. Ich habe nicht gewusst, dass Sie so wenig … äh … so wenig Selbstbeherrschung besitzen.“
Nach ihrer Entschuldigung versuchte ich, mir einzureden, dass sie nicht absichtlich unsensibel, sondern einfach nur strohdumm war. Und dieser Gedanke half mir tatsächlich, ihr nicht auf der Stelle den Kopf abzureißen. Einige Minuten später erreichten wir unsere Ausfahrt kurz hinter der Stadtgrenze.
Der Name des toten Junkies war Bryan Howard. Seine Adresse hatte ich über die Zulassungs- und Führerscheinstelle ermittelt. Sie führte uns nach Bottomlands – einem sumpfigen Gebiet östlich des Stadtzentrums auf der anderen Seite der Bay, das früher einmal als Deponie gedient hatte. Heutzutage zeugten nur noch ein paar kleinere Einkaufszentren davon, dass Nocturne City sich ganz in der Nähe befand. Hin und wieder kam es hier durch den schlampig aufgeschütteten Deponieboden zu Erdrutschen, die ganze Häuser samt ihrer weniger betuchten Bewohner unter sich begruben. In den dazugehörigen Berichten begleiteten dann Dutzende Kameras die überlebenden Sozialhilfeempfänger dabei, wie sie die Stadt verklagten – allerdings nur so lange, bis eine neue Story auftauchte, bei der man nicht arme Leute in den Abendnachrichten zeigen musste.
Die Bottomlands rochen unverkennbar nach Schwemmland. Der für diese Gebiete typische und allgegenwärtige Gestank nach Zerfall und Verwesung machte nicht nur die Luft schwer, sondern raubte den Leuten im Laufe der Jahre auch das, was ihnen an Hoffnung und Zuversicht geblieben war. Als wir schließlich die Adresse von Bryan Howard erreichten, fanden wir dort ein mit Holzschindeln verkleidetes Zweifamilienhaus vor, das von Nassfäule zerfressen war. In dem kleinen Vorgarten rostete neben einer unbewohnten Hundehütte eine Kinderschaukel einsam vor sich hin. Das Licht der Veranda war nicht eingeschaltet, und im Halbdunkel der Dämmerung schien es ganz so, als sei niemand zu Hause.
Vorsichtig umkurvte ich auf dem Weg zur Tür das im Vorgarten herumliegende Plastikspielzeug und musste mir ein Kichern verkneifen, als Shelby hinter mir stolperte und über ihr Ungeschick fluchte. Zu schade, dass sie im Gegensatz zu mir in der Dunkelheit nichts sehen konnte. Am Hauseingang zog ich das quietschende Insekten Schutzgitter auf und pochte mit der Faust laut gegen die Eingangstür. „Hier ist die Polizei! Machen Sie bitte auf!“
„Wir sollten nicht hier sein“, raunte Shelby mir zu und blickte dabei nervös die ausgestorbene Straße hinauf und hinunter.
„Da muss ich Ihnen recht geben, der Gestank ist wirklich erbärmlich. Wenn ich nach Hause komme, werde ich als Erstes meine Klamotten verbrennen.“
„Das meine ich nicht“, entgegnete Shelby mit einem drängenden Unterton und zeigte auf einen Laternenpfahl, an den ein Gangzeichen gesprüht war. „Es könnte hier sehr ungemütlich für uns beide werden.“
Ich klopfte erneut. „Mrs Howard? Ist jemand zu Hause? Öffnen Sie bitte die Tür!“
„Verdammte Scheiße!“, brummte Shelby, und als ich noch einmal auf das Gangzeichen blickte, fühlte ich plötzlich ein mir nur allzu vertrautes Zucken in der Magengegend. Das Graffiti an dem Pfahl war gar kein Gangzeichen, sondern eine Sigille – das Zeichen einer Bluthexe, die ihr Herrschaftsgebiet markiert.
„Das ist wirklich scheiße“, murmelte ich so leise, dass Shelby es nicht hören konnte. Meine neue Partnerin kam aus einer Familie von Casterhexen, den natürlichen Feinden der Bluthexen. Polizeimarke hin oder her, die Bluthexen würden sie als Eindringling ansehen.
„Wie wird man als Casterhexe eigentlich Polizistin?“, fragte ich Shelby, um mich selbst von dem Gedanken abzulenken, dass wir beide einen schrecklichen Opfertod sterben könnten, noch bevor die Nacht zu Ende war.
Shelby senkte den Blick und trat wütend gegen ein zerbeultes kleines Feuerwehrauto, das in hohem Bogen durch den Garten flog. „Vielleicht, weil man keine richtige Casterhexe ist …“
„Das magische Blut ist nicht an Sie weitergegeben worden?“, fragte ich verdutzt.
„In meiner Familie versteht das auch niemand. Mein Vater hat mich praktisch enterbt. Er meinte, es sei der Fehler meiner Mutter“, erklärte Shelby.
Ich konnte mich nur allzu gut in Shelby hineinversetzen, schließlich war ich auch aus der Art geschlagen – die einzige Werwölfin in einer Familie von Casterhexen, das einzige Kind eines trinkenden Vaters, die einzige Frau auf der Polizeiakademie.
„Ich kann gar nicht glauben, dass ich Ihnen das gerade erzählt habe“, brummelte Shelby. „Vergessen Sie’s, okay? Fakt ist, dass ich keinen Heller von meiner Familie sehe und deshalb allein klarkommen muss.“
Obwohl ich wusste, dass es wahrscheinlich ohnehin sinnlos war, pochte ich noch einmal gegen die Tür und ließ dann das Fliegengitter zufallen. „Warum sind Sie zur Sitte gegangen? Das ist eine harte Abteilung für eine Frau.“
„Genau deswegen. Es hat mich einfach genervt, dass es da keine Frauen gab. Ich hasse unausgeglichene Machtverhältnisse“, erklärte sie knapp.
„Lassen Sie uns gehen“, erlöste ich Shelby und bemerkte, wie sie sich sofort etwas entspannte. Die Straße war zwar nach wie vor menschenleer, aber Shelby machte trotzdem einen ziemlich eingeschüchterten Eindruck. Ich konnte ihre Angst sogar riechen – langsam kroch sie unter dem Schutzmantel von Deo und Parfüm hervor und verbreitete sich wie der Geruch geschmolzenen Kupfers. Wahrscheinlich hätte ich eine ebenso ausgeprägte Paranoia wie Shelby entwickelt, wenn ich als Kind einer ganzen Familie von Casterhexen ausgesetzt gewesen wäre. Ich hatte es damals glücklicherweise nur mit der Hexerei meiner Großmutter zu tun gehabt. Die hatte mich zwar gehörigen Respekt vor der Magie gelehrt, mir aber auch beigebracht, mich nicht zu sehr vor den magischen Scheußlichkeiten zu fürchten, die da draußen vielleicht auf mich lauerten.
Als wir gerade gehen wollten, öffnete sich hinter uns die Tür, und Shelby machte vor Schreck einen gehörigen Satz. Ich hingegen drehte mich blitzschnell um und griff nach meiner Pistole.
Hinter dem Fliegengitter stand eine Frau mit fettigem Haar und blinzelte uns an. „Was wollen Sie?“
„Sind Sie Mrs Howard?“, fragte ich und hielt ihr meine Dienstmarke unter die Nase. Ihr Blick verweilte ein paar Augenblicke auf der Marke, bevor sie mir wieder ins Gesicht sah.
„Ich hab doch angerufen.“
Hinter mir trat Shelby nervös von einem Fuß auf den anderen und schaute immer wieder in Richtung Straße. Ich warf ihr einen verärgerten Blick zu und wandte mich dann wieder Mrs Howard zu.
„Wen haben Sie angerufen?“
„Dirk Bukowski, meinen Bewährungshelfer. Der hat Sie doch hergeschickt, oder? Bestimmt hat er gesagt, ich hätte nicht angerufen, richtig?“
Ich wusste zwar nichts von diesem Bukowski, aber es verwunderte mich nicht sonderlich, dass das ungepflegte Gerippe von einer Frau, das hinter dem kaputten Fliegengitter stand, anscheinend polizeibekannt war und einen Bewährungshelfer hatte. Ihre Unterarme waren mit kreisförmigen blauen Flecken übersät, die offensichtlich von Kanülen mit großem Durchmesser herrührten. Außerdem bemerkte ich, dass ihre Hand, mit der sie die Türklinke umklammerte, recht zittrig war.
„Mrs Howard, wir sind nicht wegen Ihrer Bewährung hier. Ich muss mit Ihnen über Bryan sprechen.“
„Dann hören Sie auf, mich Mrs Howard zu nennen“, schnaubte sie. „Bryan ist mein Bruder.“
„Können wir das langsam hinter uns bringen, bitte?“, zischte mir Shelby von der Seite zu.
„Entschuldigen Sie uns einen Moment“, bat ich die Schwester des Toten und drehte mich zu meiner unliebsamen Partnerin um. „Was zum Teufel ist Ihr Problem, Shelby?“
„Ich dürfte überhaupt nicht hier sein!“, sagte sie inzwischen geradezu panisch. „Das hier ist das Gebiet der Bluthexen, und diese Frau da ist eine Spenderin!“, erklärte Shelby. Ich hatte allerdings keine Ahnung, was sie mir damit sagen wollte.
„Ich habe weder die Zeit noch die Nerven für Ihren Bullshit“, brummte ich sie mit besonders tiefer Stimme an, um ihr zu zeigen, dass ich es ernst meinte. „Entweder kommen Sie mit der Arbeit als Mordermittlerin klar oder nicht. Und falls Sie das hier wirklich so fertigmacht, dann warten Sie doch einfach im Auto.“
Shelby erstarrte förmlich bei meinen Worten und verschränkte abwehrend ihre Arme vor der Brust. „Beeilen Sie sich einfach, Detective, okay?“
„Ich werde mein Bestes tun, Detective“, antwortete ich ihr mit einem breiten, zynischen Lächeln. Was für eine launenhafte Tussi!, fuhr es mir durch den Kopf. Nach dem Gespräch mit der Schwester des Verstorbenen würde ich ein paar ernste Worte mit ihr reden müssen.
„Was ist mit Bryan?“, fragte die Frau auf der anderen Seite des Fliegengitters. „Hat er etwa wieder angefangen zu drücken?“
„Ich fürchte …“, begann ich, wurde aber jäh von einem Mann unterbrochen, der aus dem Innern der Wohnung in Richtung Tür plärrte.
„Stella! Mach die verdammte Tür zu! Ich erfriere!“
„Die Cops sind hier, Dusty!“, keifte sie zurück. Einen Moment später erschien Dusty an der Tür – ein verwahrloster, schlaksiger Typ mit Pferdeschwanz und vergilbter Haut.
„Was in drei Kuckucks Namen haben Sie hier zu suchen?“, wollte er wissen, und als er erkannte, dass Shelby und ich Frauen waren, zog er eine geringschätzige Grimasse. „Hab ich etwa vergessen, meine Knöllchen zu bezahlen? Von welchem Verein seid ihr überhaupt? Parkschein-Tanten oder was?“
Ich ignorierte seinen Kommentar und blickte stattdessen Stella Howard in die Augen. „Ma’am, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass man Ihren Bruder Bryan letzte Nacht tot aufgefunden hat.“
Kaum hatte ich es ausgesprochen, knickten Stellas Knie ein, und ihr Körper sank mit einem herzerweichenden Laut zu Boden. Angewidert trat Dusty einen Schritt zurück und schaute Stella an, als habe sie plötzlich die Beulenpest bekommen.
„Nein! Nicht Bryan!“, heulte Stella. „Oh, mein Bryan …“ Sie rollte sich zu einer Kugel zusammen, während ihre Schultern im Rhythmus ihres Wehklagens zuckten. Ich öffnete die Tür mit dem Insektenschutzgitter und streckte meine Hand nach ihr aus.
„Hey!“, schrie mich Dusty an. „Das ist privater Grundbesitz! Den dürfen Sie nicht betreten, also verpissen Sie sich gefälligst! Und du, Stella, hältst jetzt langsam mal die Fresse!“
„Noch ein Wort, und ich werde meinen Fuß dahin setzen, wo sich jetzt noch die traurigen Reste Ihrer Kauleiste befinden“, knurrte ich ihn an und fuchtelte dabei mit meinem Zeigefinger drohend vor seinem Gesicht herum.
„Dabei hab ich ihn noch gewarnt“, schluchzte Stella. „Ich hab ihm gesagt, dass ihn dieses Mistzeug umbringen wird.“ Als ich tröstend ihren Rücken streichelte, konnte ich die kalten Knochen unter ihrem dünnen Hemd spüren. Stella hob den Kopf, und ein Ausdruck von Dankbarkeit huschte über ihr Gesicht.
Shelby trat einen Schritt auf Dusty zu. „Haben Sie etwa auch vermutet, dass Mr Howard an einer Überdosis Heroin gestorben ist, Sir?“, fragte sie ihn.
Stella sah mich mit glasigen Augen an. „Ist das wirklich wahr, Detective?“
„Tut mir leid, Stella, aber es sieht alles danach aus“, murmelte ich. „Man hat ihn tot auf der Straße aufgefunden.“ Die Details zu der nicht identifizierten Droge und den Punktblutungen in Bryans Augen ließ ich lieber weg.
„Hätte ich Ihnen gleich sagen können“, grummelte Dusty. „Hab ihm oft genug erklärt, dass das Zeug seinen trotteligen Arsch früher oder später in die Kiste befördern würde.“
„Hör auf, so über ihn zu reden!“, schrie Stella. „Es ist nicht seine Schuld gewesen!“
„Alte, wenn du nicht gleich die Fresse hältst, dann setzt es was!“, herrschte Dusty sie an.
„Shelby, schaffen Sie mir diesen Typen aus den Augen“, blaffte ich. „Und sollte er dabei ausrutschen und hinfallen, hab ich nichts gesehen.“
Shelby packte Dustys Ellbogen und schob ihn ins Nebenzimmer.
„Soll ich Ihnen ein sicheres Bett für die Nacht besorgen?“, fragte ich Stella mit ruhiger Stimme, aber sie schüttelte nur den Kopf.
„Ich muss morgen zur Free Clinic … um sechs Uhr früh, Schlange stehen.“
„Methadon?“, fragte ich, da ich bei dem Stichwort Free Clinic automatisch an die kostenlose Methadonausgabe in einem dieser selbstverwalteten Gesundheitsprojekte dachte. Stella blinzelte kurz und schüttelte dann ihren Kopf so energisch, dass ihr fettiges Haar die Luft peitschte.
„Das Zeug hab ich nie angefasst!“, erklärte sie bestimmt. „Erst recht nicht, nachdem ich gesehen habe, was es bei Bryan angerichtet hat.“
Ich zeigte auf die kreisrunden Einstichstellen in ihren Ellenbeugen. „Stella, deswegen werde ich Sie nicht festnehmen, aber wenn Sie Hilfe brauchen, sollten Sie es mir lieber jetzt sagen.“ In diesem Moment konnte ich mir selbst nicht genau erklären, wo auf einmal dieses zweite Ich – diese barmherzige und gutmütige Version von Luna Wilder – herkam. Wahrscheinlich hing es mit dem verzweifelten Ausdruck in Stellas Augen zusammen, bei dem ich unweigerlich an ein gefangenes Tier denken musste. Stella erinnerte mich an mich selbst – an eine Zeit vor vielen Jahren, in der ich noch jung und verängstigt gewesen war und in der sich Millionen Wege vor mir aufgetan hatten, die allesamt nichts Gutes verhießen und denen ich ohne Karte und Kompass gegenübergestanden hatte.
„Es ist nicht so, wie Sie denken, Detective. Ich leide an Blutarmut. Mit Heroin habe ich nichts am Hut“, sagte Stella. Als Beweis kramte sie eine Pillenflasche mit dem Logo der Free Clinic hervor und reichte sie mir. Es war anscheinend so, wie sie sagte. Das Fläschchen enthielt große weiße Pillen, die laut Etikett gegen schwere Anämie verschrieben wurden.
„Wie …“, begann ich, aber dann kam mir Shelbys Kommentar über die Spender wieder in den Sinn. Meine Nase sagte mir zwar, dass Stella und Dusty nur gewöhnliche Menschen waren, aber die Sigille vor der Tür und die großen Einstichstellen in Stellas Arm halfen mir auf die Sprünge. „Sie verkaufen es …“, flüsterte ich erschrocken über diese Erkenntnis.
Stella nickte. „Das ist nicht illegal, also können Sie jetzt wieder gehen.“
Sie hatte recht – menschliches Blut an Hexen zu verkaufen war sicherlich legaler, als Crystal Meth zu kochen oder Ferraris zu klauen. Trotzdem konnte man mit Fug und Recht von einer legalen Grauzone sprechen. Vielleicht erlaubte ihr die Bluthexe als Gegenleistung für die Blutlieferungen die Teilnahme an den Zaubersitzungen … wie immer der Deal auch aussehen mochte, allein der Gedanke daran bereitete mir Unbehagen.
Ich half Stella beim Aufstehen und putzte mir dann die Knie ab. „Sie sollten sich vielleicht noch mal ganz genau überlegen, was Sie da eigentlich tun, Stella. Sie sind vielleicht kein Junkie, aber Sie beliefern Abhängige mit Stoff. Genauso wie der Dealer, der Bryan den goldenen Schuss verkauft hat“, gab ich zu bedenken und verschwieg meine Zweifel daran, dass die Todesursache wirklich eine Überdosis gewesen war.
„Ich weiß genau, was ich tue“, erwiderte Stella und presste ihre Lippen zusammen. „Wir verkaufen es ja nicht an die Gangs auf der Straße. Dusty und ich sind erstklassige Rohstofflieferanten.“
Ihre Erklärung verschlug mir die Sprache, sodass ich nur noch ein „Das mit Bryan tut mir leid“ murmelte und dann Shelby zurief, dass es an der Zeit sei zu gehen.
„Sie hat sich selbst als Rohstofflieferant bezeichnet!“, sagte ich auf dem Rückweg zum Revier verärgert zu Shelby. „So, als sei sie eine verdammte Sklavin! Und sie schien noch stolz darauf zu sein.“
„Sie ist eine Sklavin“, meinte Shelby in einem Ton, der mir verriet, dass sie Stella Howards Misere nicht im Geringsten interessierte. „Diese Blutspender sind wie Prostituierte, nur schlimmer. Weil sie ihr Blut verkaufen, wird Blutmagie überhaupt erst ermöglicht.“
Ich sah Shelby an. Sie fummelte gerade an einem ihrer Nägel herum, pustete dann über die Nagelspitzen und betrachtete sie anschließend unter dem flackernden Licht der vorbeihuschenden Straßenlaternen.
„Das interessiert Sie wohl alles nicht“, sagte ich. Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Shelby runzelte die Stirn.
„Warum sollte es mich interessieren? Solche Leute bekommen genau das, was sie verdienen. Sie erniedrigen sich schließlich freiwillig.“
„Wie ich sehe, hat das Sittendezernat Ihre Weltsicht wirklich positiv geprägt, was?“, brummte ich verärgert.
„Ich bin nur realistisch, Luna, und eigentlich hätte ich auch Sie nicht für eine Idealistin gehalten.“ Ihr Ton war spöttisch und herablassend. Am liebsten hätte ich in diesem Moment voll auf die Bremsen getreten, um dann genussvoll dabei zuzusehen, wie sich ihr keckes kleines Naschen ins Armaturenbrett bohrte.
„Ich bin keine verdammte Idealistin“, knurrte ich. Und da wir sowieso gerade unterschiedlicher Meinung waren, fügte ich hinzu: „Außerdem glaube ich, dass Bryan Howard nicht an einer Überdosis gestorben ist.“
„Woran denn sonst? Natürlich ist er an einer Überdosis gestorben!“, erwiderte Shelby bestimmt. „Wenn man erst mal sein Blut mit harten Drogen verseucht hat, ist man für die Bluthexen wertlos. Wahrscheinlich hat er sich absichtlich einen goldenen Schuss gesetzt, weil er als das stinkende Aas, das er am Ende nun einmal war, nicht mehr als Spender taugte.“
Shelby war wirklich die Letzte, die sich beim Thema Aas zu Wort melden sollte. Den arroganten Oberlehrerton in ihrer Stimme hatte ich schon oft gehört – meistens, wenn jemand mit Werwölfen oder über sie sprach –, und jetzt, da er mir aus ihrem Mund entgegenschlug, wusste ich nicht, wohin mit meiner Wut, und trat noch etwas heftiger aufs Gaspedal.
„Ein Suizid ist trotzdem kein Unfalltod“, argumentierte ich. „Ich bin der Meinung, dass wir uns das genauer ansehen sollten.“
„Und ich denke, wir sollten die Sache einfach abschließen, damit ich endlich an einem richtigen Fall arbeiten kann“, erwiderte Shelby. „Nur weil Morgan Sie an die Kette gelegt hat, heißt das nicht, dass ich mir meine Sporen nicht an einem echten Mordfall verdienen kann.“
Als in diesem Moment das 24. Revier vor uns auftauchte, trat ich entschlossen auf die Bremse und brachte den Fairlane an der Bordsteinkante zum Stehen. Dann lehnte ich. mich zur Beifahrerseite hinüber und stieß Shelbys Tür auf. „Raus jetzt!“
Mit schräg gelegtem Kopf fragte sie: „Warum soll ich hier aussteigen?“
„Weil hier das Revier ist“, antwortete ich. „Und wenn Sie Ihr kleines, selbstgefälliges Hinterteil nicht augenblicklich aus meinem Wagen schwingen, helfe ich nach!“
„Sie nehmen die Dinge viel zu persönlich“, schnaubte Shelby, während sie nach ihrem Mantel griff und aus dem Wagen stieg. Ohne zu antworten, trat ich aufs Gaspedal und ließ den Motor aufheulen.
„Was soll ich Morgan sagen, wohin Sie gefahren sind?“, rief Shelby, um den Motor zu übertönen.
„Sagen Sie Ihr doch einfach, sie soll mich am Arsch lecken“, erwiderte ich. Dann ließ ich die Kupplung springen und brauste davon.