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Der Belladonna Club befand sich hinter der Nocturne University. Das baufällige Gebäude hatte früher als Bordell gedient und war vor einigen Jahren kurzerhand mittels einer Bühne, einer Bar und ein paar schmuddeligen Toiletten zu einem Club umfunktioniert worden. Während der Woche wurde er größtenteils von den Szenegängern unter den College-Kids aufgesucht, um Wochenende hingegen bestand das Publikum aus eher zwielichtigen Gestalten mit wenig Interesse an einer gesunden Lebensweise. Für jede Band, die es in Nocturne City zu mehr oder minder großem Ruhm bringen wollte, war ein Auftritt im Belladonna ein absolutes Muss.

Als ich den Club betrat, waren Trevor und seine Jungs noch mit dem Soundcheck beschäftigt. Meine Dienstmarke und die Glock hatte ich im Handschuhfach des Fairlane eingeschlossen, da ich keinen Dienst hatte und so wenig wie möglich auffallen wollte. Dank meiner schwarzen Jeans, den Militärstiefeln und der abgewetzten Jacke gelang mir das auch hervorragend – ich verschmolz praktisch mit den anderen Clubgästen.

Als Erstes ging ich zur Bar und bestellte mir statt meines Standardgetränks – Sodawasser mit einer Zitronenscheibe – einen Whiskey auf Eis. Eigentlich hatte ich dem Alkohol vor einigen Jahren fast vollständig abgeschworen, aber Trevor sollte sich meinetwegen keine Gedanken um seine Glaubwürdigkeit als Rocksänger machen müssen. Whiskey war in der Vergangenheit immer mein Lieblingsgift unter den alkoholischen Getränken gewesen. Insofern schien es mir recht passend, mein vermeintliches Rockerbraut-Image mit einem Glas zu unterstreichen, dass ich als bloßes Accessoire vor mir hertrug.

„Hey …“, erklang Trevors weiche Stimme aus den knisternden PA-Boxen, „… schön, dass ihr gekommen seid, Leute. Ich bin Wicked, und wir heißen The Exorcists.“

Prompt kam eine Flasche auf die Bühne geflogen und zerplatzte vor dem Mikroständer. Trevor ignorierte sie jedoch einfach und legte sich selbstbewusst den Gurt seiner schwarzen Fender-Gitarre um. Enthusiastisch begann er mit den ersten Akkorden von „Deadly Sin“. Ich seufzte, denn dieser Song war eine Ode an seine Exfreundin, die vor einiger Zeit mit dem ehemaligen Drummer der Band durchgebrannt war.

„Stimmt was nicht mit dem Drink, Lady?“, brüllte mich der Barkeeper an, als der Rest der Band in den düsteren Refrain des Songs einstieg.

Der Mann hinter der Theke war riesig und von Kopf bis Fuß mit Tattoos und Piercings übersät, sodass ich mir einen Kommentar ersparte und nur den Kopf schüttelte. „Kann ich Ihnen nicht verdenken“, schrie er. „Diese beschissene Musik würde mir auch die Lust am Saufen verderben!“

Statt dem Mann zu antworten, setzte ich mich auf einen der Barhocker und dachte nach. Sicher, The Exorcists waren eine nicht gerade lebensbejahende Goth-Band mit einem mehr als bescheuerten Namen, aber so schlecht, wie der Barkeeper meinte, waren sie nun auch wieder nicht.

„Deadly Sin“ ging mit einem Stöhnen von Wicked – das war Trevors Bühnenname, den er sich partout nicht ausreden lassen wollte – zu Ende. Dann griff er sich schwer atmend den MikroStänder, stützte sich auf ihm ab und flüsterte ins Mikrofon: „Das war für Sherrine, die dunkle Göttin, die mein Herz gebrochen hat. Oh, Sherrine, du Gebieterin meiner Seele …“

Bei seinen Worten senkte ich beschämt den Blick, und als ich dabei auf mein Glas starrte, erschien mir der Whiskey plötzlich sehr verlockend.

„Jetzt kommt ein neuer Song.“ Abrupt richtete sich Trevor auf und übergab seine Fender an den Roadie. „Der Text handelt davon, der Dunkelheit zu entkommen“, kündigte er an und begann zu singen.

„Black like the face of a brandnew moon, Never seen eyes hold a love so true.“

Mein ganzer Körper erstarrte sofort bei den ersten Zeilen, und ich war mir sicher, dass sich gleich alle Köpfe im Saal zu mir umdrehen würden.

„Luna, my Luna, I’m mood-mad for you“, sang Trevor weiter.

Verdammt! Das konnte unmöglich wahr sein! Wir gingen erst seit ein paar Wochen miteinander aus, und er schrieb schon Songs über mich? Was würde als Nächstes kommen – das Angebot, mit ihm in die dunkle Gruft seiner blutenden Seele hinabzusteigen? Unglaublich! Und überhaupt … warum musste er mir ausgerechnet eine dieser schnulzig-pathetischen Rockballaden widmen? Einen coolen Song hatte ich wohl nicht verdient, wie?

Der Barkeeper bemerkte, dass ich immer kleiner wurde. „Sagen Sie bloß, Sie sind Luna? Er singt über Sie?“

In einem Zug schüttete ich den Whiskey runter und sprang vom Barhocker. „Nein, tut er nicht. Nicht mehr.“ Ich flüchtete in Richtung der Damentoilette. Mühsam bahnte ich mir meinen Weg durch die Gäste mit ihren Leder-und-Nieten-Outfits, die alle von Trevors inbrünstigem Gekreische gelähmt zu sein schienen.

„Lima, my Luna … Luna, wohin gehst du?“

In der Damentoilette angekommen, schlug ich mit puterrotem Kopf die Tür hinter mir zu und verriegelte sie. Für was in drei Teufels Namen hielt mich Trevor eigentlich? Seine dunkle Göttin 2.0? Und selbst wenn es so war, begriff ich weder, warum er darüber singen musste, noch, warum er es vor so vielen Leuten tat.

Ich schlug meine Stirn gegen die Tür. Alles passte mal wieder herrlich zusammen: Erst hatte ich mein Herz an einen Mann verschenkt, der auf Nimmerwiedersehen verschwunden war, und nun zog ich ein Klammeräffchen an, das nach ein paar Wochen schon romantische Liebeslieder für mich schrieb.

Ich atmete ein paarmal tief durch, um mein wild schlagendes Herz zu beruhigen, und lehnte mich dann für einige Sekunden gegen die Tür. Krampfhaft versuchte ich, mich selbst davon zu überzeugen, dass Trevor einfach nur ein bis über beide Ohren verknallter, ganz gewöhnlicher Mensch war, der sich zwar dämlich verhielt, mich aber nicht absichtlich vor allen Leuten zu einer Lachnummer machen wollte. Es war allerdings eine hoffnungslose Angelegenheit. Genauso gut hätte ich mir auch einreden können, dass ich die Besitzerin der Siren Bay Bridge sei. Um der Grübelei ein Ende zu machen, suchte ich nach einem Ausweg aus der Situation. Plötzlich fiel mir ein, dass ich mich nur noch ein paar Minuten in der Toilette verstecken musste, um mich dann bei „Devils in My Mind“ unbemerkt hinausschleichen zu können. Bei diesem Song löschte die Band nämlich das Licht im Saal, um eine Stroboskoplampe zum Einsatz zu bringen. Danach musste ich nur noch meinen Namen ändern, in ein unbekanntes Land der Dritten Welt fliehen und diesen ganzen Vorfall aus meiner Erinnerung streichen, damit einem einigermaßen erfüllten Leben nichts mehr im Weg stand. Nichts leichter als das!, dachte ich verzweifelt.

Erst als ich meine Augen wieder öffnete und zum Waschbecken ging, fiel mein Blick auf den regungslosen Körper eines Mannes. Er lag zusammengerollt wie eine Seemuschel in einer Lache aus Erbrochenem und Blut.

„Verdammte Scheiße!“, stöhnte ich. Dann ließ ich mich auf die Knie fallen und rutschte zu ihm hinüber. Mit ein paar Handgriffen zog ich ihn auf die Seite und überstreckte seinen Kopf in den Nacken, um seine Atemwege freizumachen. Ich versuchte, um Hals seinen Puls zu ertasten – erfolglos.

Nach einem Blick in seine leblosen, blutunterlaufenen Augen bemerkte ich die verkrampften Finger, deren Nägel sich in das Fleisch seiner Handflächen gebohrt hatten. Keine Frage, der Mann war tot. Ich ließ den Körper los und richtete meinen Blick auf das Gekritzel an der schmutzigen Wand über seinem Kopf. Bei dem schlechten Licht hätte man leicht auf die Idee kommen können, dass jemand die Worte mit violetter Farbe dorthin geschmiert hatte, aber ich konnte, riechen, dass sie mit frischem Blut und Galle geschrieben worden waren.

RETTET MICH stand dort in großen Lettern.

Hastig lief ich aus der Toilette und drängelte mich durch das Publikum zurück zur Bar.

„Haben Sie einen Schlüssel für die Damentoilette?“

„Keine Ahnung. Was soll die Frage?“

„Ich brauche einen Schlüssel!“, erwiderte ich und schlug mit der flachen Hand auf die Theke, um meine Entschlossenheit zu unterstreichen. Daraufhin kramte der massige Barkeeper lustlos in der Kasse herum, holte einen Schlüssel hervor und reichte ihn mir mit einem skeptischen Blick.

„Bringen Sie den ja wieder zurück! Und da drinnen wird nicht gefixt, klar?“, warnte er mich. Ohne zu antworten, drehte ich mich um und rannte zurück zur Damentoilette, um die Tür abzuschließen. Öffentliche Toiletten waren sowohl für die Spuren Sicherung als auch für die Polizei der denkbar schlimmste Ort, an dem man einen Toten auffinden konnte. Meine notdürftige Sicherung des Tatorts würde daran nicht viel ändern.

Dann hastete ich zum Fairlane, um meine Marke und meine Pistole zu holen, und rief Mac an.

„Benachrichtigen Sie sofort die Spurensicherung“, wies mich mein Lieutenant an, nachdem ich ihm kurz die Situation geschildert hatte. Trevors musikalische Darbietung ließ ich aus, und auch über die Frage, was ich im Belladonna Club zu suchen hatte, obwohl ich eigentlich Dienst hätte schieben müssen, verlor ich lieber kein Wort.

„Und rufen Sie Ihre Partnerin an“, fügte McAllister hinzu.

„Mac, nein!“, stöhnte ich. „Momentan kann ich wirklich nichts mit Shelby anfangen. Können nicht Sie stattdessen kommen?“

„Wie ärgerlich! Eigentlich wollte ich ein paar Drinks mit diesem netten Mädchen vom 33. kippen. Dreimal dürfen Sie raten, was ich jetzt wohl machen werde …“

„Was?“, fragte ich in der Überzeugung, dass Mac angebissen hatte und zum Tatort kommen würde.

„Nun … ich denke, ich werde wie geplant ein paar Drinks mit diesem netten Mädchen vom 33. kippen“, antwortete er seelenruhig. „Passen Sie mal auf, Wilder. Morgan hat Ihnen eine Partnerin zugeteilt, und ich glaube, dass Sie beide erwachsen genug sind, um auch ohne mich klarzukommen. Willkommen im Leben, Luna!“

Erbost drückte ich das Handy in meiner Hand zusammen, woraufhin es ein erbärmliches Piepsen von sich gab.

„Ich bin spät dran, Wilder“, fuhr Mac fort. „Wenn Sie jetzt damit fertig sind, schlecht über mich zu denken, würde ich gern auflegen und mich um mein Date kümmern.“

„Ja, machen Sie schon, und viel Spaß …“, brummte ich und beendete das Gespräch. Dann rief ich die Zentrale an, ließ mich zu Dr. Kronens Privatnummer durchstellen und gab ihm die Adresse des Clubs. Jetzt fehlte nur noch Shelby.

„O’Halloran“, antwortete sie und klang dabei so keck wie eine dieser hochnäsigen Cheerleaderinnen der Dallas Cowboys.

Ich bemühte mich, die in mir aufsteigende Zerstörungswut zu unterdrücken, und sagte: „Shelby, hier ist Luna.“

„Ja, das sehe ich auch auf meinem Display. Ich dachte, Sie seien nicht mehr im Dienst …“

„Nun, da liegt so ein mausetoter Typ in der Toilette, der mich umgestimmt hat. Wie schnell können Sie zu einem Club an der Uni kommen?“

„Ich bin sofort da!“, erwiderte Shelby hastig. Wahrscheinlich dachte das verdammte Miststück in diesem Augenblick nicht nur an ihren ersten gelösten Mordfall, sondern auch schon an die Dankesrede anlässlich ihrer Beförderung zum Lieutenant.

„Nehmen Sie die Devere Street und folgen Sie der langen Kurve zur Rückseite des Campus. Ich bin im Belladonna Club. Eigentlich unmöglich zu verfehlen“, erklärte ich, aber Shelby hatte bereits aufgelegt.

Ich ging zurück zur Damentoilette, lehnte mich gegen die Tür und wippte ungeduldig mit dem Fuß, während ich auf Shelby und Bart Kronen wartete. Trevor war immer noch auf der Bühne und unterhielt die Gäste, die sich so sorglos amüsierten, als sei nichts geschehen.

Mit einem Blick aufs Publikum hob ich den Kopf und nahm Witterung auf. Es brachte mir allerdings nichts weiter ein als den Wunsch, jeder einzelnen Person im Club ein Deo verpassen zu können. Meine sensible Nase war selten ein großer Segen, da es einfach zu viele übel riechende Dinge und Menschen auf dieser Welt gab. Sicherlich brachte mir diese Fähigkeit hin und wieder Vorteile bei meiner Arbeit, aber unter den Anwesenden im Belladonna roch momentan niemand nach Blut. Somit blieb mir nur die Leiche als Ansatzpunkt für die Ermittlungen.

Am Eingang sorgte eine blonde Frau mit kakifarbener Kleidung für Aufregung und riss mich aus meinen Gedanken. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich Shelby, die dem Türsteher ihre Dienstmarke unter die Nase hielt und sich dann an ihm vorbeischlängelte.

„Das ist ja ein Chaos hier!“, schrie sie mir durch die dröhnende Musik der Exorcists entgegen. „Wir brauchen unbedingt Uniformierte, um den Tatort zu sichern!“

„Hier geht sowieso keiner, solange die Band noch spielt!“, brüllte ich zurück. „Außerdem glaube ich, dass uns ein Aufmarsch von Gesetzeshütern in einem Schuppen wie diesem kein bisschen weiterbringen würde!“

Shelby zog ihr Handy aus der Tasche und drehte mir demonstrativ den Rücken zu. Nachdem sie ihr geheimnisvolles Flüstergespräch beendet hatte, strahlte sie mich selbstzufrieden an. „Die Chefin der Funkzentrale ist eine Freundin meiner Familie. In zehn Minuten sind alle verfügbaren Streifen hier.“

„Wunderbar“, erwiderte ich zähneknirschend und öffnete die Tür zur Damentoilette. „Shelby, wenn Sie immer so gut zuhören, kann ich mir das Reden ja in Zukunft sparen!“

„Verstehe ich jetzt nicht ganz …“, sagte sie kopfschüttelnd, während sie sich an mir vorbei in die Toilette zwängte und sich vor der Leiche ihre Gummihandschuhe überzog. Ich knallte die Tür hinter mir zu und verschloss sie von innen, wodurch die Geräuschkulisse des Clubs ein wenig gedämpft wurde.

„Partner respektieren sich gegenseitig“, sagte ich und streifte ebenfalls Gummihandschuhe über. „Und Partner fällen nicht einfach Entscheidungen, ohne die Meinung des anderen zu berücksichtigen.“

Shelby beugte sich über den Toten, inspizierte Hände und Gesicht und begann dann die Taschen seiner schwarzen Jeans zu durchsuchen. Das dunkle Hemd der Leiche stand fast bis zum Bauchnabel offen und überließ nur wenig unserer Fantasie. Der Verstorbene war knochendürr, hatte käsebleiche Haut, und auf seiner Brust prangte ein kleines Büschel schwarzer Haare.

„Das ist wohl wahr“, antwortete Shelby mit einiger Verzögerung auf meine Kritik. „Aber ganz offensichtlich wollen Sie mich ja nicht als Partnerin haben. Soweit es mich also betrifft, sehe ich unsere Zusammenarbeit nur noch als einen unglückseligen Stolperstein auf meinem Karriereweg.“

„Wissen Sie, Ms Minirock …“, erhob ich meine Stimme, „… ..eigentlich habe ich nichts getan, weswegen Sie jetzt hier die beleidigte Leberwurst spielen müssten. Meiner Meinung nach haben Sie einfach nur Angst, dass Ihre tollen Karrierepläne den Bach runtergehen, wenn Sie sich zu lange mit einer Werwölfin abgeben müssen.“ Meine Worte schienen sie in keiner Form zu berühren, sodass ich umso erboster fortfuhr: „Vielleicht liege ich damit aber auch falsch, und Sie sind einfach nur eine dieser reichen Tussis, die nicht in der Lage sind, einen einfachen Job auf die Reihe zu kriegen, weil sie noch nie wirklich gearbeitet haben.“ Fast ohne es zu merken, hatte ich Morgans rotzigen Ton angenommen und erschrak fast über mich selbst, als ich mich sagen hörte: „Vielleicht würden Sie ja besser damit fahren, einen dieser superreichen Börsenfuzzis zu heiraten und sich ein paar Gören rauszudrücken. Soweit ich es nämlich sehen kann, verfügen Sie nicht über die Fähigkeiten, die man für diesen Job braucht.“ Ruckartig hob sie den Kopf und starrte mich zornig an.

„Jetzt sind Sie zu weit gegangen, Wilder!“

„Ach ja? Wenn Sie mir eine verpassen wollen, nur zu!“, erwiderte ich. „Dann können wir uns beide endlich mal abreagieren und danach mit der Arbeit beginnen.“

Unsere Blicke trafen sich. Ich wich ihr nicht aus und ließ sie dadurch wissen, dass ich keine Angst hatte und sie dominierte … oder es zumindest versuchte.

„Luna, Sie sind zweifellos der unausstehlichste Mensch, den ich je kennengelernt habe“, stöhnte Shelby. Dann warf sie mir eine Brieftasche zu, die sie aus der Gesäßtasche des Toten gezogen hatte, und sagte: „Ich weiß, dass wir beide gute Cops sind. Und ja, ich kann durchaus ein Miststück sein, aber entweder Sie gewöhnen sich langsam daran, oder Sie schmeißen den Job hin und drücken sich selbst ein paar Gören raus.“

Erst nachdem sie ausgesprochen hatte, merkte ich, dass ich bereits auf den Fußballen balancierte, um für Shelbys rechte Gerade gewappnet zu sein. Eine Rechte, die ich mir verdient gehabt hätte, denn was ich gesagt hatte, war unter der Gürtellinie gewesen. Da aber nichts passierte, entspannten sich meine Muskeln wieder, und ich sagte mit einem Schulterzucken: „Ich glaube, damit kann ich leben, wenn Sie im Gegenzug auch meine Macken tolerieren.“

„Endlich mal etwas, bei dem wir uns einig sind“, erwiderte Shelby, bevor unsere Waffenstillstandsgespräche durch ein Hämmern gegen die Toilettentür unterbrochen wurden. „Besetzt!“, blaffte Shelby.

„Hier ist die Spurensicherung!“, blaffte es zurück, woraufhin Shelby öffnete und die Kollegen einließ. Ich durchsuchte derweil das schwarze Portemonnaie und zog den üblichen Krimskrams heraus: Kreditkarten, Busfahrscheine und ein paar Quittungen. Ich konnte zwar keine Fahrerlaubnis finden, dafür aber einen Ausweis des Liquor Control Boardy – einer Behörde, die Lizenzen für den Alkoholausschank vergab. Das scharfkantige Gesicht auf dem Foto passte eindeutig zu den Zügen des Toten. Als ich seinen Namen las, durchfuhr mich ein gewaltiger Schreck.

„Ach du Scheiße!“, stöhnte ich.

Shelby, die gerade den Leuten der Spurensicherung dabei zugesehen hatte, wie sie die Leiche fotografierten und mit ultraviolettem Licht nach Blutspuren absuchten, trat zu mir und schaute neugierig über meine Schulter. „Stimmt was nicht?“

Ich zeigte ihr den Ausweis. „Sehen Sie selbst … der Tote ist kein Geringerer als Vincent Blackburn.“

Plötzlich brach draußen abrupt die Musik ab, und als ich durch den Türspalt in den Saal linste, sah ich, wie jede Menge uniformierter Polizisten die Gäste zusammentrieben. Ich wandte dem Chaos den Rücken zu und steckte Vincents Ausweis wieder in das Portemonnaie.

„Das ist überhaupt nicht gut“, murmelte Shelby nachdenklich, und ich bekam langsam den Eindruck, dass sie eine Veranlagung zur Untertreibung hatte. Bildlich gesprochen waren die beiden Familien wie zwei Seiten einer Medaille. Während die O’Hallorans das strahlende und blütenweiße Gesicht der Casterhexen repräsentierten, geisterten die Blackburns als dunkle und blutbesudelte Gespenster durch die ewige Nacht. Bei Letzteren handelte es sich um eine Familie von Bluthexen, deren immenses Vermögen vor langer Zeit zerronnen war, nachdem die Frau des Familienoberhaupts, Theodore Blackburn, auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen war. Durch diese Tragödie erschüttert, war das Familiengefüge zerbrochen und die einzelnen Mitglieder hatten sich in alle Winde verstreut. Später war dann auf dem einstigen Anwesen der Blackburns die Nocturne University errichtet worden. Nun lag einer dieser Bluthexer tot vor meinen Füßen, und ausgerechnet ich war für die Klärung seines Ablebens verantwortlich.

Großartig!

„Detective, hier gibt es ein paar Einstichstellen“, sagte einer der Leute von der Spurensicherung und hob Vincents Arm an. Eine Reihe hässlicher schwarzer Male verlief an seinem Unterarm entlang hinab bis zum Ellbogen. Aus dem letzten Einstich sickerten sogar noch Blutstropfen.

„Das passt ja wunderbar!“, rief Shelby. „Wie die Faust aufs Auge, würde ich sagen. Blackburns … Junkie-Freaks, die im Dreck leben. Jeder Einzelne von ihnen ist bis auf die Knochen verdorben.“

„Könnten wir persönliche Befindlichkeiten und sozioökonomische Kommentare für einen Moment beiseitelassen, bitte?“, bat ich Shelby und hockte mich neben die Leiche. Das Licht in der Toilette war schwächer als das einer flackernden Kerze, also borgte ich mir eine Taschenlampe von der Spurensicherung und sah mir die Einstichstellen etwas genauer an. Sie wirkten dreckig und zerschunden. Anscheinend waren die Stellen wieder und wieder benutzt worden. Als ich die Handgelenke, Hände und den anderen Arm mit der Lampe prüfte, konnte ich zwar keine weiteren Einstiche entdecken, fand aber an den Innenseiten beider Gelenke blutunterlaufene Flecken, die auf Quetschungen hinwiesen.

„Macht ganz den Anschein, als sei es eine Überdosis gewesen, oder?“, sagte Shelby. „Vielleicht hat er sich das gleiche Zeug gedrückt wie der andere Tote. Wahrscheinlich ein neuer Mix, den irgend so ein durchgeknallter Dealer in seiner Badewanne zusammenpanscht. Ich werde gleich mal bei den Kollegen im Drogendezernat nachhaken. Lassen Sie uns jetzt verschwinden, Luna.“

Ich knöpfte Vincents Hemd komplett auf und fand längliche Hämatome entlang seines Schlüsselbeins, die denen an den Handgelenken ähnelten. Seine Brustwarzen waren mit Piercings geschmückt, und über seinen Brustmuskeln verliefen rote Striemen, die aber fast verheilt waren. Die dunkelroten Quetschungen hingegen schienen frisch zu sein.

„Kommen Sie schon, Luna!“, forderte mich Shelby erneut auf und stand dabei so weit von Vincents Leiche entfernt wie nur irgend möglich. „Meine Schicht ist fast vorbei, und eigentlich können wir uns den Typen auch noch morgen im Leichenschauhaus ansehen.“

„Nein“, antwortete ich entschlossen, als ich einen weiteren Bluterguss an Vincents Kieferpartie entdeckte. „Wir warten erst auf den Gerichtsmediziner.“

„Und da ist er auch schon“, meldete sich Kronen zu Wort, der gerade durch die Tür kam und sich sogleich neben mich hockte. „Was gibt es denn so Wichtiges?“

Ich zeigte ihm die Quetschungen, die Einstichstellen und die Striemen am Körper der Leiche. Aus Erfahrung wusste ich, dass die Spuren einer Gewalttat nur sehr schwer zu kaschieren waren, und ich wusste auch, dass wir es Vincent schuldig waren, diesen Spuren nachzugehen. Ohne auf Shelbys verärgertes Seufzen zu achten, sagte ich bestimmt: „Ich denke, dass man ihn festgehalten hat.“

Kronen nahm einen Abstrich von der frischen Einstichstelle am Arm und nickte zustimmend. „Sieht ganz so aus, als sei das ein recht kräftiger Mensch gewesen, denn diese Quetschungen hier stammen meiner Ansicht nach von den Fingern einer anderen Person.“

Shelby schnaubte herablassend. „Dann hat er sich eben geprügelt. Was soll’s?“

Ich zog die Gummihandschuhe von meinen Fingern und stand auf. „Vielleicht hat die Prügelei ja damit geendet, dass ihm jemand eine verunreinigte Dosis in den Arm gejagt hat. Das wäre dann Mord … und wie Sie wissen, sind wir bei der Mordkommission.“

Shelby strich ihr Haar zurück, band sich mit zittrigen Händen einen Pferdeschwanz und öffnete ihn einen Moment später wieder. Als ich ihr in die Augen schaute, sah ich darin eine Panik aufsteigen, die ihr mit jedem neuen Blick auf die Leiche mehr zu schaffen machte. „Ich glaube nicht, dass das eine Untersuchung wert ist“, wandte sie geradezu verzweifelt ein.

„Nun, ich schon. Und Partner hören aufeinander, also bearbeiten wir diesen Fall!“, antwortete ich.

Behutsam zog ich Kronen am Arm. „Wie schnell können Sie ihn eintüten und obduzieren?“

„Für Sie hieve ich ihn ruck, zuck auf den Tisch, Detective“, versprach Kronen. „Innerhalb von zehn Pistolenschüssen oder weniger liegt er unter meinem Messer.“

„Saukomisch“, versicherte ich ihm, als er mein anfängliches Schweigen als Missbilligung seiner Wortwahl zu interpretieren schien. Trotz der vielen Jahre beim NCPD hatte ich mich immer noch nicht an den Humor des Leichenschauhauses gewöhnt.

„Können wir jetzt bitte hier verschwinden und den Bericht schreiben?“, drängte Shelby. Ihr war offensichtlich ganz und gar nicht zum Lachen zumute.

„Ja, ja, ja … wir gehen ja schon“, antwortete ich genervt. Hinter ihr sah ich durch die offene Tür, wie sich Trevor durch die Menschenmenge im Saal drängelte und auf die Uniformierten vor der Toilette zusteuerte.

„Luna!“, rief er.

Ich ging ihm entgegen, nahm seine Hand und führte ihn von der Tür weg. Nach ein paar Schritten blieb er stehen und hielt mich fest. „Was ist da drin passiert, Luna? Und warum bist du vorhin aus dem Saal gerannt?“

Ich biss mir auf die Lippen. „Es ist jemand gestorben, Trevor.“

Er beugte sich vor und nahm mich in die Arme, was mich augenblicklich zur Salzsäule erstarren ließ. Ich atmete kurz aus, um mich zu entspannen, und zwang mich dann, seine Umarmung zu erwidern.

„Alles in Ordnung bei dir?“

„Mir geht’s gut“, nuschelte ich gegen seine Schulter. „Es ist nicht die erste Leiche, die ich in einer Toilette gefunden habe …“

Als er mich losließ, schielte er zur Absperrung hinüber. „Wer Ist es?“

„Über die Einzelheiten laufender Ermittlungen darf ich nur mit Polizei und Staatsanwaltschaft sprechen“, antwortete ich mechanisch, aber dann dämmerte mir, dass Trevor und Blackburn in denselben Kreisen verkehrt haben könnten. Zumindest sah Vincent äußerlich ganz danach aus. „Es ist Vincent Blackburn. Anscheinend … äh … er hatte einen Unfall“, druckste ich wenig eloquent herum, um nicht das auszusprechen, was mir eigentlich auf der Zunge lag – nämlich, dass ihn offensichtlich jemand festgehalten und ihm Gift gespritzt hatte.

„Verdammt!“, sagte Trevor erschüttert und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Das ist echt scheiße, Mann. Voll abgedickt …“

Ich nahm seine Hand. „Weißt du vielleicht irgendwas über Vincent? Irgendwas, das mir helfen könnte?“

„Er hat in so einem abgehalfterten Schuppen im Zentrum gearbeitet … in einem dieser miesen Kellerläden. Peitschen und Ketten, du weißt schon.“

„Ein Fetischclub?“, hakte ich wenig überrascht nach, denn die Blackburns waren bekannt dafür, dass sie sich für alles begeistern konnten, was mit dem Blut und dem Schmerz williger Opfer zu tun hatte.

„Luna“, fragte Trevor plötzlich, „hat dir mein Song gefallen?“

Shelby kam aus der Toilette und bedeutete mir, dass wir das Belladonna nun wirklich verlassen sollten. Ich gab ihr mit einem Handzeichen zu verstehen vorauszugehen und wandte mich dann wieder Trevor zu.

„Ich muss es wissen“, sagte er. „Ich habe mein ganzes Herzblut in diesen Song gelegt.“

Verdammt und zugenäht – er meinte es tatsächlich ernst! Während ich versuchte, mir eine sanftere Miene abzuringen, suchten seine Augen mein Gesicht verzweifelt nach einer Antwort ab. Trevor war ein guter Kerl und offensichtlich überzeugt davon, mich zu lieben. Der Song war eine für ihn total normale Art der Liebeserklärung an mich und auf eine gewisse Art sogar süß. Ich durfte einfach nur nicht erwarten, dass er die Leere in meinem Herzen füllen könnte …

„Es war eine sehr liebe Geste, Trevor“, sagte ich und küsste ihn auf die Wange. „Danke, Du bist echt süß.“

„Pass auf, was du sagst“, erwiderte er mit einem Grinsen. „Du wirst noch meinen Ruf ruinieren.“ Dann küsste er mich auf die Lippen, und zwar sehr viel länger, als ich es eigentlich wollte. „Na los, mach dich wieder an deine Arbeit, Babe. Ich ruf dich an.“