Wahrscheinlich hätte ich es ihm gleich erzählen sollen, als ich vor ein paar Wochen seine Band in einem Club hatte spielen sehen und wir danach angebändelt hatten. Spätestens nach unserer ersten Nacht wäre es definitiv an der Zeit gewesen. Ich warf einen Blick auf den Mondkalender an der Wand. Der nächste Vollmond war erst in sechzehn Tagen – Zeichen meiner Wandlung würden also definitiv noch nicht auftreten. Gott sei Dank! Wie ich es Trevor genau erklären würde, wenn es dann so weit war, wusste ich auch nicht.

Mein Posteingang war bis auf ein paar Spam-Mails leer, was mich aber nicht sonderlich wunderte. Wer würde auch schon gern mit einer Trübsal blasenden Luna Wilder kommunizieren wollen?

Als mein Blick auf die letzte gelesene E-Mail im Posteingang fiel, nahm ich mir vor, diesmal stark zu bleiben. Ich würde sie nicht anklicken. Nicht anklicken! Auf keinen Fall anklicken …

Meine Selbstbeschwörung war völlig nutzlos. Sofort überkam mich nämlich derselbe Zwang, der mich auch bei Internetauktionen auf den Button GEBOT ABGEBEN klicken ließ, wenn es um Designerschuhe oder Secondhandtaschen ging. Auch die anschließenden Gewissensbisse und Selbstvorwürfe ähnelten sich bei beiden Vorgängen.

 

Von: dsandovsky31@netmail.ru.com

An: wilderlu@nocturne.pd.gov

Betreff: Mach Dir keine Sorgen um mich …

 

Liebe Luna,

mach Dir bitte keine Sorgen um mich, Liebes. Ich kann nicht viel schreiben, nur so viel: Ich bin in der Ukraine, und es geht mir gut. Sprich mit niemandem über mich, über Dich oder über uns. Bitte! Ich kann Dir nicht genau sagen, was passiert, wenn Du es doch tust, aber unter Umständen könnte es dann ernste Probleme geben.

Ich werde versuchen, Dich zu beschützen, Luna. Ich weiß jedoch nicht, ob ich es schaffe …

Dmitri

 

Die Mail war fast einen Monat alt und das letzte Lebenszeichen von Dmitri. Sie war in der Nacht gekommen, in der ich Trevor kennengelernt hatte, und wenn ich halbwach im Bett lag und kurz davor war, in die Traumwelt abzugleiten, machte mir besonders der Schluss der Nachricht – dieses Ich werde versuchen, Dich zu beschützen – schwer zu schaffen.

„Toll, Dmitri, bisher hast du das ja wirklich verdammt gut hinbekommen!“, murmelte ich. Über mir hörte ich Schritte, und im nächsten Moment rief Trevor schon etwas die Treppe herunter.

„Babe, bist du da unten? Hast du vielleicht irgendwas zum Frühstück für mich?“

Rasch schaltete ich den Monitor aus und huschte aus dem Arbeitszimmer. „Es müssten eigentlich noch Cornflakes in der Küche sein“, antwortete ich. „Hör mal, Trevor, ich bin schon spät dran und muss jetzt zur Arbeit.“ Ob die Cornflakes überhaupt noch genießbar waren, wusste ich nicht, und eigentlich war ich auch nicht spät dran, aber Trevor am Morgen danach erleben zu müssen würde nur neue Schuldgefühle in mir auslösen. Keine Ahnung, was mit mir los war. Eigentlich sollte ich meine Zeit mit ihm doch genießen – mehr oder weniger zumindest. Durch die andauernde Grübelei über Trevor, mich und Dmitri fühlte ich mich mittlerweile fast wie eine dieser Großstadttussis, bei denen sich alles nur um das eine drehte.

Trevor kam die Treppe heruntergesaust und hielt mich am Ellbogen fest. Ich musste mir auf die Zunge beißen, um ihn nicht anzuknurren, denn die Wölfin in mir fasste seinen Griff als einen Versuch auf, mich zu dominieren.

„Musst du wirklich schon los?“

Ich küsste ihn auf die Wange. „Ich fürchte, ja.“

Er hielt meinen Arm immer noch fest. „Wir haben heute Abend einen Gig im Belladonna. Ist ne ziemlich große Sache für uns, und ich würde mich echt freuen, wenn du kommst.“

In meinem Kopf zählte ich kurz zusammen, wie viele Razzien die Jungs von den Drogen- und Sittendezernaten schon im Belladonna Club durchgeführt hatten, und verstand dann, warum es für Trevor eine große Sache war. Die Leute im Belladonna waren keine Schwätzer, sondern wirklich finstere Gestalten. Armer Trevor!

„Ich werds versuchen“, versprach ich ihm. „Jetzt muss ich aber wirklich los.“

Eilig schnappte ich mir meine Glock, die Marke und meine Jacke. Auf dem Weg zum Fairlane ging mir durch den Kopf, dass eine normale Frau nicht so glücklich darüber wäre, möglichst schnell von ihrem Freund wegzukommen. Zumindest nicht so glücklich, wie ich es in diesem Moment war.