20

Shelby war in der Zwischenzeit verlegt worden und hatte nun ein Privatzimmer, das im Gegensatz zum Rest des Krankenhauses so wirkte, als sei es nach 1980 renoviert worden. Um ihr Bett herum standen jede Menge Luftballons mit Genesungswünschen und Blumen, die das Zimmer mit einem übermäßig süßen Duft erfüllten. Kaum war ich eingetreten, musste ich heftig niesen, sodass Shelby unweigerlich von ihrer Lektüre aufblickte und mich vorsichtig anlächelte. „Was verschafft mir die Ehre?“

Ich zog einen der Plastikstühle zu ihrem Bett herüber und setzte mich mit der Lehne voran darauf. „Nun, ich würde gern was über den Schädel des Mathias von dir erfahren.“

„Keine Ahnung, was das sein soll“, antwortete Shelby mit einem Schulterzucken und blickte wieder desinteressiert auf ihr Magazin.

„Ach, komm schon, Shelby!“ Ungeduldig trommelte ich mit den Fingern auf der Bettkante herum, was Shelby merklich nervös machte. „Bei meinem letzten Besuch hab ich dir diese Mitleidsnummer durchgehen lassen, weil du mir verraten hast, dass deine Familie etwas von den Blackburns gestohlen hat. Glaub ja nicht, dass du mir noch mal so einfach davonkommst! Mittlerweile habe ich nämlich herausgefunden, was sie gestohlen haben, und es wäre besser für alle Beteiligten, wenn du mir schnellstens ein paar Einzelheiten dazu erzählen würdest.“

„Ich kann dir aber nichts darüber erzählen, weil ich nichts weiß, verdammt noch mal!“, explodierte Shelby. „Meine Familie erzählt mir rein gar nichts über diese Dinge. Sie erwarten einfach nur, dass ich die Klappe halte und immer schön nett lächle! Denkst du vielleicht wirklich, die würden mir irgendwelche Details anvertrauen? Überleg doch mal selbst, Luna!“

Ihre Erklärung klang recht plausibel, und da mein innerer Bullshit-Detektor keinen Alarm schlug, beließ ich es erst mal dabei. Irgendwie war mir nicht danach, sie noch weiter zu drangsalieren, denn ich konnte ihre Situation nur allzu gut verstehen. Auch wenn ich es anfänglich nicht für möglich gehalten hätte, so schienen sich unsere Schicksale doch erstaunlich ähnlich zu sein. Was unsere Familien anging, waren wir jedenfalls beide keine Glückspilze.

„Dann kann ich wohl annehmen, dass du eine Spur hast?“, tastete sich Shelby langsam vor, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte.

„Doch, aber ich fürchte, du wirst sie nicht sonderlich mögen.“

„Lass mich raten – du denkst, dass jemand aus meiner Familie Vincent Blackburn ermordet hat“, sagte sie, und ich hatte Mühe, meine Überraschung über ihren sehr direkten Vorstoß zu verbergen. Pokerface, Luna!

„Bingo, Shelby! Ich wusste noch gar nicht, dass du telepathische Fähigkeiten hast. Ich denke nämlich tatsächlich, dass es jemand aus deiner Familie oder deren unmittelbarem Umfeld gewesen sein muss.“

Mit einem Knopfdruck ließ Shelby das Kopfteil ihres Betts hochschnellen und starrte mich an. Ihr eiskalter, durchdringender Blick erinnerte mich sofort an ihren Onkel Seamus. „Nun … dann bist du wohl auch verpflichtet, dieser Spur nachzugehen, Luna. Du kannst allerdings nicht von mir erwarten, dass ich dir dabei helfen werde, Mitglieder meiner Familie hinter Gitter zu bringen. Das werde ich unter keinen Umständen tun.“

„Aber sie haben gemordet, Shelby! Wie kannst du sie da noch so vorbehaltlos decken?“, sagte ich ärgerlich und überlegte kurz, ob ich mich meiner Familie gegenüber jemals so loyal verhalten hatte. Die Antwort lautete: Nein! Weder bei meiner Großmutter noch bei meinen Eltern.

„Es ist meine Familie“, begann Shelby zu erklären, „mein eigen Fleisch und Blut, verstehst du? Ich will dich nicht beleidigen, Luna, aber ich glaube, das kannst du nicht nachvollziehen, weil du so etwas nicht kennst.“

„Das ist doch totaler Quatsch, Shelby, aber red dir das ruhig weiter ein, wenn du dich dadurch besser fühlst.“

„Ich glaube, du solltest jetzt lieber gehen“, forderte sie mich freundlich, aber bestimmt auf und wandte sich wieder ihrem Lifestyle-Magazin zu. „Ich bin müde und habe starke Schmerzen.“

„Gut, wie du willst. Ich werde trotzdem herausfinden, wer hinter diesem Mord steckt. Notfalls auch ohne deine Hilfe“, sagte ich zum Abschied, aber Shelby antwortete nicht mehr.

Ich verließ das Krankenhaus in einem äußerst angepissten Gemütszustand. Meine Partnerin wollte oder konnte mir nicht helfen und hasste mich mittlerweile wahrscheinlich noch mehr als zu Beginn unserer verkorksten Beziehung. Auch bei allen anderen Hexen, die ich kannte, würde ich mit Sicherheit keine Unterstützung finden. Zum einen, weil ich eine Außenseiterin für sie war, zum anderen, weil man mir schon zehn Meilen gegen den Wind anmerkte, dass ich Hexerei, Magie und alles, was damit zusammenhing, auf den Tod nicht ausstehen konnte.

Meine Optionen waren folglich beschränkt, doch ich hatte noch ein allerletztes Ass im Ärmel: Ich würde den einen Hexer um Hilfe bitten, dessen Durst nach Rache größer war als jeder Stolz. Eine derartige Motivation stellte zugegebenermaßen keine sonderlich gute Basis für eine Zusammenarbeit dar, aber ich hatte keine andere Wahl.

Gedankenversunken setzte ich mich in den Wagen und fuhr in Richtung Ghosttown. Kurz nachdem ich auf den Expressway aufgefahren war, wurde ich urplötzlich von einem goldenen Blitz im Rückspiegel geblendet, worüber ich so heftig erschrak, dass ich das Steuer panisch nach links riss. „Verdammte Scheiße!“, fluchte ich und konnte den schlingernden Wagen nur mit Mühe wieder unter Kontrolle bringen.

„Ist dir bewusst, wohin dein Weg dich führen wird, Insoli?“, raunte die wohlvertraute Stimme von Asmodeus in meinem Kopf.

„Lass mich endlich zufrieden! Um ein Haar wäre ich wegen dir in die Leitplanke gebrettert“, brüllte ich in den Rückspiegel, während ich auf dem Standstreifen anhielt und die Warnblinkanlage anschaltete.

„Der Schädel des Mathias sollte nicht das Ziel deiner Suche sein, Insoli. Denn mit ihm wirst du nur das heraufbeschwören, was du zu meiden suchst.“

„Gehts vielleicht noch etwas kryptischer?“, fuhr ich meinen dämonischen Gesprächspartner an und hätte am liebsten einen kompetenten Exorzisten auf dem Beifahrersitz gehabt.

„Wenn unterschiedliche Magieformen zu kollidieren drohen, erregt das meine Aufmerksamkeit. Im Moment fühle ich eine Bedrohung durch die Schwarzmagie eines Hexers. Sie ist tödlich, Insoli. Du würdest besser daran tun, dich von ihr fernzuhalten.“

Ich wollte Asmodeus gerade erneut anschreien, endlich zu verschwinden, als ein Sattelschlepper an uns vorbeifegte und mit seiner dröhnenden Hupe jegliche Kommunikation unmöglich machte. Vom Luftzug des Lasters ergriffen, schaukelte der Fairlane einige Sekunden wie ein riesiger Wackeldackel herum. Als ich danach in den Rückspiegel sah, war der Dämon verschwunden.

„Verdammt!“, murmelte ich und musste das Lenkrad noch fester packen, um das Zittern meiner Hände in den Griff zu bekommen. Ein krampfartiges Gefühl in meiner Brust sagte mir. dass Asmodeus recht hatte. Beharrlich redete ich mir ein, dass man einem Dämon mit goldener Haut und Löwenpranken, der plötzlich auf dem Rücksitz auftaucht und zusammenhangloses Zeug von irgendwelchen Bedrohungen faselte, keine größere Aufmerksamkeit schenken sollte. Trotzdem brauchte ich einige Minuten, um mich wieder so weit zu sammeln, dass ich weiterfahren konnte.

Das Apartmentgebäude der Blackburns machte auch tagsüber einen recht mitgenommenen Eindruck. Nicht nur die rissigen Mauern und die abblätternde Farbe fielen mir ins Auge, auch der überall auf dem Gehweg verstreute Müll sorgte für einen verwahrlosten Gesamteindruck.

Nachdem ich an die Eingangstür gepocht hatte, öffnete mir der scheinbar ständig mies gelaunte Henri. Er trug noch immer dasselbe hässliche Netzhemd und dieselbe abgewetzte Jeans wie bei meinem ersten Besuch vor einigen Tagen. „Ich muss mit Victor sprechen“, sagte ich, ohne ihn zu begrüßen. „Es ist dringend.“

Bei meinem Anblick hob Henri eine Augenbraue, trat dann aber kommentarlos zur Seite und zeigte auf die Treppe nach oben. „Seien Sie unser Gast, geliebter Freund und Helfer“, sagte er mit einem Augenzwinkern, aber sein Zynismus vermochte es nicht mal ansatzweise, mich aus der Reserve zu locken.

Auf der Treppe schallte mir aus dem obersten Stockwerk klassische Musik entgegen, die leicht kratzig klang. Als ich die Tür zu Victors Reich öffnete, fand ich das Familienoberhaupt mit geschlossenen Augen in einem Armsessel ruhend vor. Er wirkte gealtert – ausgelaugt von den magischen Kräften, die durch seine Adern strömten.

Kaum hatte ich meinen Fuß in das Zimmer gesetzt, riss er die Augen auf und starrte mich an. „Hat man Ihrer Generation eigentlich nie beigebracht anzuklopfen, bevor man ein Zimmer betritt, Detective?“

„Tut mir leid“, entschuldigte ich mich kleinlaut, denn jetzt, da er wach war, strömte mit einem Mal wieder eine imposante Willenskraft durch den Körper des kleinen Mannes, die sein Gesicht wie ein Buschfeuer auflodern ließ.

Er seufzte. „Ist schon gut, von Valerie kenne ich es ja auch nicht anders. Bald wird sie wahrscheinlich genau so sein wie Sie. Kann ich Ihnen vielleicht einen Tee anbieten?“

Ich wertete seine Frage als Einladung und setzte mich ihm gegenüber in einen Sessel. „Kaffee bitte, wenn Sie haben.“

Victor griff nach einer altmodischen Klingel, um den Hausangestellten zu rufen, und lehnte sich dann mit gefalteten Händen zurück. „Ich nehme an, dass Sie nicht aus privaten Gründen hier sind.“

„Nein“, antwortete ich. „Ich bin gekommen, um Sie um einen Gefallen zu bitten, Victor.“

Sein Blick verfinsterte sich. „Sie wissen hoffentlich, dass ich nach den magischen Gesetzen, das Recht habe …“

„… im Gegenzug einen Gefallen von mir zu verlangen“, führte ich seinen Satz zu Ende. „Ja, das weiß ich durchaus. Also sagen Sie mir doch einfach, was Ihnen vorschwebt“, erwiderte ich gereizt. Victor hatte mir gerade wieder einmal klargemacht, warum ich die meisten Hexen nicht ausstehen konnte: Ihr zwanghaftes Interesse an Ausgeglichenheit und dieser alberne Handel mit Gefallen war mir schon immer unheimlich auf die Nerven gegangen.

„Auch wenn ich es könnte, werde ich es de facto nicht tun“, antwortete Victor geduldig. „Sie haben nichts, was mich interessieren würde.“

„Wer nicht will, der hat schon“, sagte ich schnell, um meine Verlegenheit zu überspielen.

„Sie können uns Hexen nicht sonderlich gut leiden, oder?“ Überrascht von seiner Direktheit, schnaubte ich leicht beschämt und fragte ihn meinerseits: „Wie sind Sie darauf gekommen?“

„Es ist recht offensichtlich, aber eigentlich kann man es Ihnen nicht mal verdenken, denn wir Hexen sind ein nicht sonderlich vertrauenswürdiges, überaus egoistisches und obendrein ziemlich verschlossenes Völkchen …“, begann Victor zu erklären. Als Henri, ebenfalls ohne anzuklopfen, ins Zimmer stürmte, hielt er jedoch inne. Der gruselige Concierge trug ein Tablett in der Hand, auf dem zwei dampfende Tassen standen. Victor ließ etwas Zucker in seinen Tee rieseln und schlürfte vom Rand der Tasse. Ich hingegen roch erst unauffällig an meinem Getränk, um sicherzustellen, dass Henri nicht aus Versehen das Kaffeepulver mit dem Rattengift verwechselt hatte. Nach dem ersten Schluck war ich angenehm überrascht, denn der Kaffee schmeckte nicht übel.

„Ich brauche ein paar Informationen, Mr Blackburn, und Sie sind meiner Einschätzung nach die einzige Person, die mir ohne Umschweife die Wahrheit sagen würde.“

„Nun denn, Detective, ich bin ganz Ohr.“

Ich biss mir auf die Lippe, überlegte kurz, wie ich das Thema am besten anpacken sollte, und entschied mich dann für den direkten Weg. „Was ist der Schädel des Mathias?“

Absolut regungslos starrte Victor mich an.

„Victor?“, fragte ich besorgt, der Alte könnte einen Herzinfarkt erlitten haben. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“

„Woher wissen Sie von dem Schädel?“, flüsterte er und setzte die Tasse mit zitternder Hand ab.

„Das tut nichts zur Sache“, erwiderte ich selbstbewusst. „Fakt ist, dass ich in diese idiotische Fehde um dieses Ding reingezogen worden bin. Also muss ich jetzt herausfinden, was es damit auf sich hat, um meinen Fall abschließen und endlich wieder in eine Welt ohne durchgeknallte Hexen und mörderische Zauber zurückkehren zu können.“ Ich beugte mich zu Victor vor, der immer noch so aussah, als würde der Sensenmann vor ihm stehen. „Sie schulden es Ihrem Sohn, Victor. Nur wenn der Mord aufgeklärt wird, kann er wirklich Ruhe finden. Und auch Valerie hat ein Recht darauf, den Mörder ihres Bruders und dessen Motive zu kennen.“ Ich vermied bewusst, Victor selbst in meiner Aufzählung zu erwähnen, da mir klar war, dass er sich schon gerächt hatte. Selbst wenn ich es nie würde beweisen können, war es nur allzu offensichtlich, dass er den Tod von Patrick O’Halloran zu verantworten hatte. Ob er die Tat selbst begangen oder in Auftrag gegeben hatte, war nebensächlich.

Victor schien sich gefangen zu haben, denn seine wachsamen Augen fixierten mich wieder gespannt. Einzig sein verkrampfter Kiefer und seine farblosen Lippen zeugten noch von seinem Schock. „Ich verstehe langsam, warum Sie es als Insoli so weit gebracht haben“, sagte er schließlich. „Sie geben niemals auf, oder?“

„Da müsste ich schon tot umfallen“, stimmte ich zu. Mit einem Seufzer zog Victor einen abgewetzten silberfarbenen Flachmann aus seiner Hosentasche und goss dessen Inhalt in seine Teetasse. Die Flüssigkeit war schwarz und ölig, und irgendwie ahnte ich, dass ich lieber nicht daran riechen sollte.

„Was wissen Sie über Dämonen, Detective?“, fragte er mich nach dem ersten Schluck.

Sofort tauchte Asmodeus in meinem Kopf auf, und ich musste an seine unerbittlichen, golden funkelnden Augen denken, die nicht nur meinen Körper durchdringen, sondern auch meine Gedanken lesen konnten. „Sagen wir mal so: Ich weiß mehr, als mir lieb ist.“

„Einst wandelten sie unter den Menschen“, begann Victor zu erklären und nahm einen weiteren Schluck aus seiner Tasse, „und verliehen den magisch Unbegabten die Fähigkeit, zu töten und zu vernichten. Dadurch sahen sich die Casterhexen in ihrer Macht bedroht und verjagten die Dämonen in das Reich der Schatten.“

Ich wusste bereits, was Victor mir da erzählte, und kannte daher auch den kleinen Schönheitsfehler seiner Geschichte: Die Casterhexen hatten leider nicht alle Dämonen vom Antlitz der Erde getilgt. „Worauf wollen Sie hinaus, Victor?“

Nachdenklich rieb er sich das Kinn. „Mathias war der einzige Mensch, dem ein Dämon dauerhaft magische Fähigkeiten verliehen hatte. Er allein besaß die Macht, die Energie für seine Zauber aus seinem eigenen Körper zu ziehen. Seine Nach kommen missbrauchten und verwässerten diese Macht aber und waren schließlich gezwungen, ihr eigenes Blut oder das Blut ihrer Opfer zu benutzen, um die schrecklichen Talente zur Anwendung zu bringen, die der Dämon ihrem Vorfahren hinterlassen hatte.“

„Der erste Bluthexer …“, sagte ich leise.

„Ja, aber eigentlich war er kein Bluthexer“, fuhr Victor fort. „Mathias brauchte kein Blut – genauso wenig wie ein Dämon einen Fokus oder einen Puffer benötigt. Nach dem Tod seines Meisters schrieb einer der Gefolgsleute von Mathias sämtliche Zauber- und Beschwörungsformeln, die er von ihm gelernt hatte, auf den Schädel des Toten.“

Es gab Fragen im Leben, die man lieber nicht stellte, weil man wusste, dass die Antworten so unheilvoll und bedrohlich sein würden, dass sich kein Mensch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte mit ihnen auseinandersetzen wollte. Als Polizistin aber hatte ich keine Wahl und musste diese Fragen öfter stellen, als mir lieb war.

„Was würde passieren, wenn heutzutage eine Hexe den Schädel in die Hände bekäme?“

„Nichts“, antwortete Victor trocken. „Die Inschriften auf dem Schädel können nicht mehr gelesen werden. Meine Familie hat über die Jahre hinweg einzelne Fetzen der Übersetzungen auftreiben können, aber der eigentliche Schlüssel zur Entzifferung der Symbole ist verloren – auf immer und ewig zerstört von den Casterhexen.“

„Nur mal rein hypothetisch …“, sagte ich und wünschte mir nichts sehnlicher, als dass es tatsächlich rein hypothetisch wäre, „… was könnte eine Hexe mit dem Schädel anfangen?“

„Er oder sie brauchte kein Blut mehr“, antwortete Victor mit einem bedauernden Seufzer. „Weder das Blut von Spendern noch das aus dem eigenen Körper. Es stünde unendlich viel Magie zur Verfügung … einfach so.“

Ganz wie bei einem Dämon, fuhr es mir durch den Kopf.

„Vielen Dank, Victor, und entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihre kostbare Zeit so sehr in Anspruch genommen habe.“ Obwohl ich äußerlich ganz die wohlerzogene Luna Wilder mimte, fühlte ich in mir eine unaufhaltsame Panik aufsteigen. Meine Gedanken fuhren Achterbahn, mein Herz raste, und mit jeder Sekunde wuchs die Angst in mir, gleich ohnmächtig zusammenzusacken. Ganz wie bei einem Dämon, ganz wie bei einem Dämon, hallte es durch meinen Kopf. Der Zauber, mit dem Joubert zum Selbstmord gezwungen worden war, basierte eindeutig auf Dämonenmagie. Wenn die O’Hallorans ihre Macht mittlerweile schon so weit ausgebaut hatten, dass sie zu einer solchen Tat imstande waren, stellten sich jetzt nur noch zwei Fragen: erstens, wie lange würde es noch dauern, bis sie die Inschriften des Schädels komplett entschlüsselt hätten, und zweitens, was passiert, wenn ein Mensch die Magie eines Dämons vollkommen entfesselt und von ihr Gebrauch macht? Aus meinen Erfahrungen im Duncan-Fall wusste ich, dass die Antwort auf die zweite Frage „Nichts Gutes“ lautete, denn damals hatte ich gesehen, welches Unheil ein menschlicher Hexer mit Dämonemagie anrichten konnte.

„Keine Sorge, Detective“, sagte Victor. „Ich habe sowieso nur darauf gewartet, dass Valerie nach Hause kommt, damit sie mir bei einem Zauber helfen kann.“ Er warf einen Blick auf seine Taschenuhr, die wie alles im Haus der Blackburns einen etwas ramponierten Eindruck machte.

„Wo ist sie denn?“, fragte ich und merkte, wie sich in meinem Hinterkopf eine hässliche Vorahnung breitmachte. Viel mehr als eine Vorahnung war es dieser schwer zu greifende Instinkt für das Unheilvolle, den man als Polizist nach einigen Dienstjahren automatisch entwickelt. „Wann ist sie gegangen und wohin?“, hakte ich nach.

„Sie ist einkaufen gegangen, glaube ich. Calvin, einer unserer Leibwächter, hat sie begleitet“, antwortete Victor und steckte seine Uhr wieder in die Tasche.

„Hat dieser Calvin ein Handy?“

Victor nickte.

„Dann rufen Sie ihn an, verdammt noch mal!“, forderte ich ihn ärgerlich auf. Was für eine Art Vater lässt seine Tochter mitten in einer blutigen Familienfehde durch die Stadt laufen? Sofort tauchte das quälende Bild von Victors verkrampfter Leiche vor meinem geistigen Auge auf, und erst als ich mit den Fingern heftig gegen meine Schläfen drückte, verschwand es wieder. Ich konnte nur hoffen, dass Valerie nicht das gleiche Schicksal wie ihr Bruder erleiden würde.

„Es geht keiner ran“, sagte Victor, während er den Hörer wieder auf die Gabel des schwarzen Wählscheibentelefons legte. „Sie glauben doch nicht etwa …“

Ich packte ihn am Ellbogen und zog ihn zur Treppe. „Los, gehen wir!“

Mit einer Kraft, die ich nicht von einem Mann erwartet hatte, der dem Aussehen nach den Bestatter schon bezahlt hatte, stemmte sich Victor mir entgegen. „Es besteht kein Grund, dass Sie sich da einmischen, Detective“, sagte er, als ich ihn im Laufschritt die ächzende Holztreppe hinunterzerrte. „Das ist eine Sache zwischen mir und den O’Hallorans!“

„Ich tue das doch nicht für Sie, Sie dummer alter Mann!“, erwiderte ich forsch und stieß die Tür zur Lobby mit der Schulter auf. „Es passt mir nur nicht, wenn unschuldige Menschen sterben müssen.“

„Wie großherzig von Ihnen“, murmelte Victor, worauf ich ihm einen finsteren Blick zuwarf.

„Was wissen Sie schon von Großherzigkeit?“ Mit der freien Hand kramte ich in meinen Taschen nach dem Wagenschlüssel.

„Was haben Sie eigentlich Böses getan, Detective, dass Sie sich so selbstlos für die Hilflosen und Schwachen einsetzen?“, fragte Victor. Für einen Moment gab ich die Suche nach dem Schlüssel auf und starrte ihn an. Im nächsten Augenblick explodierte mein Hirn, das vom Besuch in Ghosttown und dem Treffen mit Blackburn ohnehin schon überlastet war. Ein alles zermalmender Tornado aus qualvollen Schreien, zerrissenen Körpern und unheilvollen Gerüchen fegte durch meinen Kopf und verwandelte sich dann in eine blutrote Lache, die zähflüssig von den Innenwänden meines Schädels herabtropfte.

Victor unterbrach meine Vision mit einem entsetzten Stöhnen, und nach einem Blick in sein empörtes Gesicht wusste ich, dass meine Augen das goldene Funkeln der Wölfin angenommen hatten. „Wollen Sie wirklich wissen, was ich getan habe, Victor?“, fragte ich ihn flüsternd.

„Hmm.“ Er überlegte einen Moment und erwiderte dann schulterzuckend: „Ich glaube, fürs Erste würde ich lieber nur Ihre Hilfe bei der Suche nach meiner Tochter in Anspruch nehmen, Detective.“

„Fein“, sagte ich und blinzelte kurz, um das Gold wieder aus meinen Augen verschwinden zu lassen. Victors Frage hatte etwas in meinem Innersten aufgewühlt, das ich bis dahin gut verborgen gehalten hatte. Nicht einmal Sunny und Dmitri wussten alles über die Sache mit Joshua und die Ereignisse in meiner ersten Vollmondnacht – und ehrlich gesagt, war mir das auch lieber so. Selbst wenn die Erinnerungen an Alistair Duncan und seinen Tod sehr quälend für mich waren, so musste ich es mittlerweile doch als glücklichen Umstand betrachten, ihn damals als Wölfin getötet zu haben. Schließlich halfen mir die Gedanken an sein Blut und seine Schreie jetzt dabei, eine viel ältere und weitaus abscheulichere Tat so tief in mein Unterbewusstsein zu verbannen, dass ich noch nicht mal in meinen Träumen zu ihr vordringen konnte.

Mein Schlüssel steckte bereits im Schloss der Wagentür, als ich auf dem Gehweg vor uns einen Mann bemerkte, der wie ein Zombie auf uns zugehumpelt kam. Sofort zog ich mit der rechten Hand meine Waffe aus dem Holster und presste sie mit der Mündung nach unten an die Seite meines Körpers. Obwohl man in Ghosttown auf alles gefasst sein musste, lebte man hier erfahrungsgemäß länger, wenn man auf eigenartige Situationen und gruselige Gestalten nicht gleich mit vorgehaltener Waffe reagierte.

Glücklicherweise schien Victor den Mann zu kennen, denn kaum hatte er ihn erblickt, stürmte er auf ihn zu, um ihn zu stützen. Mit einer Mischung aus Erleichterung und Besorgnis steckte ich meine Waffe wieder ins Holster.

„Calvin!“, schrie Victor panisch und klang dabei wie ein Supermarktbesitzer, dessen bester Kassierer mitten im Weihnachtsgeschäft tot umzufallen drohte.

Als ich zu den beiden stieß, lag Calvin bereits zitternd am Boden. Seine Pupillen waren auf Stecknadelkopfgröße geschrumpft, und um seinen Mund hatte sich blutiger Speichel gebildet. „Verdammte Scheiße! Er hat einen Schock!“ Sofort flizte ich zum Fairlane zurück, schnappte mir eine Decke aus dem Kofferraum und warf sie über den bemitleidenswerten Leibwächter der Blackburns, der mittlerweile so schrecklich keuchte wie ein defekter Dudelsack. „Heben Sie seine Füße an“, forderte ich Victor auf. Kurz entschlossen steckte ich meine Finger in Calvins Mund, um nach möglichen Atemwegsblockaden zu suchen, zog sie aber reflexartig zurück, als ich merkte, dass seine Rachenmuskeln sich spastisch krampfend zusammenzogen.

„Was ist los?“, wollte Victor wissen.

„Er liegt in den letzten Zügen“, antwortete ich knapp. Verzweifelt schüttelte Victor die Beine seines Bodyguards.

„Calvin! Wo ist Valerie? Was ist mit meiner Tochter?“

Mit sichtlicher Mühe richtete Calvin seine Augen auf uns, während seine Gliedmaßen durch den Sauerstoffmangel heftig zu zittern begannen. „Die Schweine“, keuchte er, „die Schweine haben Valerie …“

„Du kannst jetzt nicht sterben!“, stieß Victor wütend hervor und ließ Calvins Beine fallen, um im nächsten Moment seinen Kopf zu packen. „So einfach kommst du mir nicht davon, du verdammter Versager!“

Nachdem der letzte Atemzug aus Calvins Körper entwichen war, erhob ich mich von meinen Knien. „Tut mir leid, es ist zu spät, Victor.“

Unter lautstarken Flüchen ließ Victor den Kopf seines Leibwächters auf den Gehweg sinken. „Dabei sollte er sie doch beschützen!“

Als ich Calvins Körper näher in Augenschein nahm, entdeckte ich eine rot geschwollene Einstichstelle an seinem Hals. „Zumindest wissen wir, bei wem wir Valerie suchen müssen“, sagte ich mit einigem Erstaunen über die unglaubliche Arroganz, mit der die O’Hallorans mittlerweile vorzugehen schienen.

Victor griff nach meinem Arm und packte dabei so fest zu, dass ich fast vor Schmerz aufgeschrien hätte. „Finden Sie meine Tochter, Detective! Holen Sie sie mir aus den Klauen dieser Bestien zurück, oder ich schwöre Ihnen, dass ich diese Stadt bis auf ihre Grundfeste niederbrennen werde.“

Eigentlich hätte ich Victor Blackburns Bitte in diesem Moment verneinen müssen – ich hätte ihm sagen müssen, dass ich als Mordermittlerin rein rechtlich gesehen nichts tun konnte und dass Valerie aller Wahrscheinlichkeit nach bereits den O’Hallorans und ihrem Wahn zum Opfer gefallen war –, doch ich sagte nichts von alledem. Stattdessen nickte ich dem alten Mann nur zu und half ihm auf die Beine. Wieder einmal hatte die Werwölfin in mir über die Polizistin gesiegt – und wieder einmal hatte ich den uralten Blutsbanden zwischen den Kreaturen der Nacht mehr Priorität eingeräumt als meiner dienstlichen Pflicht.

„Ich werde Valerie finden!“, versprach ich Victor, während ich in den Wagen stieg und den Motor aufheulen ließ. Er aber warf mir nur einen finsteren Blick zu und raunte: „Das hoffe ich … für Sie.“