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Auf dem Weg zum Revier raste ich den Appleby Expressway entlang, fuhr dann aber schon im Zentrum ab, anstatt die übliche Ausfahrt zu nehmen. Durch den Umweg hoffte ich, mich noch etwas länger vor der Arbeit drücken zu können. Als ich an der Kreuzung Devere Street, Ecke Branch Street auf Grün wartete, klingelte mein Telefon. Die Nummer auf dem Display verriet mir, dass mich jemand aus der Gerichtsmedizin sprechen wollte. Ohne lange über die Strafe für Handygespräche am Steuer nachzudenken, die in Nocturne City immerhin zweihundert Dollar betrug, ging ich ran.

„Luna, Dr. Kronen hier“, meldete sich der Anrufer, als die Ampel auf Grün sprang. Ich legte den Gang ein und meisterte die nächste Kurve schwungvoll mit einer Hand am Steuer. Danach nahm ich das Handy ans andere Ohr und antwortete: „Was gibt’s, Bart?“

„Ich habe die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung von Ihrem Überdosisfall von gestern. Wenn Sie wollen, können Sie vorbeikommen.“

Obwohl mir ein Besuch im Leichenschauhaus von Nocturne City ungefähr so attraktiv erschien wie ein Badeurlaub im Gazastreifen, legte ich kurz entschlossen eine Hundertachtzig-Grad-Wendung über zwei Fahrbahnen hin und fuhr wieder zurück in Richtung Zentrum. „Bin schon auf dem Weg. Geben Sie mir zehn Minuten.“

Das Leichenschauhaus lag im Kellergeschoss unter den Labors des NCPD. Auf dem Weg zu Kronens Büro wehte mir neben dem aufdringlichen Verwesungsgeruch auch der Gestank von altem Formaldehyd entgegen. Selbst die riesigen Wandkühlschränke rochen erbärmlich.

Als ich ohne zu klopfen in sein Büro stürmte rutschte dem viel beschäftigten Gerichtsmediziner vor Schreck die Brille von der Nase. „Ah, Detective“, begrüßte er mich und begann, in einem Papierhaufen herumzukramen, der auf mich wie ein unentwirrbares Chaos aus alten und neuen Laborberichten und jeder Menge Sushi-Quittungen vom Eckimbiss wirkte. „Hier sind die Ergebnisse. Wie Sie sehen können …“, er öffnete die Mappe mit dem Bericht und winkte mich zu sich heran, „… haben wir im Blut des Mannes nichts gefunden, was untypisch für einen Junkie wäre.“

„Heroin?“, fragte ich.

„Heroin war es nicht“, antwortete Kronen und deutete im Diagramm des Berichts auf eine Zickzacklinie. „Das hier ist die grafische Darstellung einer -Droge, die ich bis jetzt noch nicht identifizieren konnte. Einige Anteile stimmen mit denen von Heroin überein. Vorerst würde ich daher auf eine nicht weitverbreitete Straßenmischung aus verschiedenen Drogen tippen.“

„Wahrscheinlich hat sich das Zeug nicht weiter verbreitet, weil alle Konsumenten einen qualvollen Tod sterben“, mutmaßte ich.

„Könnte sein“, stimmte Kronen zu. „Wenn ich etwas Luft habe, werde ich eine detailliertere Analyse und eine Autopsie machen, um einen Unfall endgültig als offizielle Todesursache zu bestätigen. Im Moment glaube ich aber sicher sagen zu können, dass Sie diesen Fall in Ihrem Aktenberg ganz nach unten schieben können.“

„Welche Akten?“, brummte ich und nahm den Bericht an mich. Dank Matilda „Schreckschraube“ Morgan hatte ich praktisch keine anderen Fälle.

„Detective“, sagte Kronen, als ich mich schon umgedreht hatte, um zu gehen. „Ich hoffe, das da … äh … am Tatort …“ Er seufzte und schnipste mit den Fingern ein Reiskorn von seinem Hemd. „Ich wollte Sie keineswegs beleidigen. Jetzt, da ich weiß, dass Sie eine Werwölfin sind, ist mir auch klar, warum Sie den Gestank am Obduktionstisch nicht ausstehen können und warum … äh … ist ja auch egal. Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass Sie eine gute Ermittlerin sind und ich mich jederzeit freue, wieder mit Ihnen zusammenzuarbeiten.“ Dann warf er mir ein kleines Lächeln zu und griff verlegen nach einer dicken medizinischen Fachzeitschrift mit Eselsohren.

Kronens Bemerkung kam vollkommen überraschend für mich. Ich murmelte ein verlegenes „Danke, Doc!“ und huschte so schnell wie möglich zur Tür hinaus, um meinen puterroten Kopf vor ihm zu verbergen. Wenn das gesamte NCPD so denken würde wie Kronen, wäre mein Leben sicherlich um einiges erträglicher.

Als ich wieder im Auto saß und in Richtung Highlands zum Revier fuhr, seufzte ich gedankenverloren. Wem sollte ich etwas vormachen? Ich zog Katastrophen magisch an, und das war schon mein ganzes Leben lang so gewesen. Mentale Streicheleinheiten von meinen Kollegen in Blau würden daran auch nichts ändern. Eigentlich war diese Tatsache durch nichts auf der Welt zu ändern – es sei denn, ich würde eines Tages aufwachen und durch magische Umstände keine Werwölfin mehr sein. Erfahrungsgemäß geschahen solche Wunder allerdings nicht allzu oft.

Als ich auf dem 24. Revier ankam, fand ich dort das typische Szenario eines Freitagabends vor: Neben einer Handvoll krakeelender Trunkenbolde und ein paar aufgekratzten Junkies, in deren Drogenfantasien wir Polizisten Seelensaft saugende Flohdämonen waren, hielt ein aufsässiger Schlipsträger die Kollegen in Atem. Offensichtlich war er mit seiner Verhaftung wegen Alkohol am Steuer plus erheblich überhöhter Geschwindigkeit nicht ganz einverstanden. Bei meinem Eintreten brüllte er gerade Rick an, dass er mit seinem Porsche keineswegs zu schnell gefahren sei, zumindest keine neunzig in einer Dreißigerzone.

„Nein, Sir …“, sagte Rick, während ein Kollege mit dem Verkehrssünder vor dem Empfangstresen zu ringen begann, „… ich weiß nicht, wer Sie sind, und selbst wenn ich es wüsste, würde ich trotzdem Ihre Daten aufnehmen müssen.“

„Leck mich doch am Arsch, du Tippse!“, grölte der Verhaftete. „Ich will sofort einen Anwalt! Wo ist mein Telefon? Ich ruf ihn lieber selbst an. Mit deinem Spatzenhirn kannst du wahrscheinlich nicht mal die Nummer richtig eingeben!“

Ich schlich mich von hinten an den lautstarken Verkehrssünder heran und fingerte behutsam in den Taschen seines Tweedmantels herum, bis ich sein kleines, glänzendes Klapphandy gefunden hatte. Mit einem kräftigen Ruck brach ich das Handy kaputt und warf die Einzelteile auf Ricks Tresen. Der Schlipsträger drehte sich mit offenem Mund zu mir um, aber bevor er etwas sagen konnte, ließ ich meine Augen für einen Moment goldfarben aufflackern, ergriff energisch seine Schulter und knurrte ihn an: „Beruhigen Sie sich, verdammt noch mal!“ Das war zwar für mich mit einem stechenden Schmerz verbunden, aber dafür auch ein ganz netter Trick, mit dem ich schon den ein oder anderen widerspenstigen Trunkenbold gefügig gemacht hatte. Vor der Katastrophe mit Duncan hatte ich solche Spielchen unterlassen müssen, da ich mich sonst als Werwölfin verraten und nur schwer einschätzbare Reaktionen provoziert hätte. Auf dem Revier hatte es damals durchaus Kollegen gegeben, die nach einem solchen Outing ihre Silbermunition ausgepackt und die Jagd auf mich eröffnet hätten.

Eine Sekunde lang japste der Schlipsträger nach Luft wie ein Fisch, den man gerade an Land geworfen hat. „Ich verklage Sie …“, stammelte er.

Ich zwinkerte Rick zu und ging dann durch den Metalldetektor, während er erneut mit der Befragung des Betrunkenen begann. „Also noch einmal, Sir … Wie lautet Ihre Adresse? Und wenn Sie mir jetzt wieder auf die dumme Tour kommen, werde ich die nette Dame von eben zurückholen, und dann wird sie nicht nur Ihr Telefon zerbrechen!“

Als ich unser Großraumbüro betrat, war ich fast guter Laune. Vielleicht hatte es ja doch Vorteile, sich jetzt nicht mehr verstecken zu müssen. Die Instinkte der Wölfin und die geschärften Sinne, die ich mit dem Biss erhalten hatte, waren mir auch schon früher eine Hilfe gewesen. Allerdings war es mir seit jeher schwergefallen, meine Werwolfkraft und mein aufbrausendes Temperament im Zaum zu halten. Wenn ich aber jetzt nicht mehr so verdammt vorsichtig sein musste, würden sich meine Probleme möglicherweise leichter lösen lassen. Vielleicht ließ mir Morgan sogar etwas mehr Leine, wenn ich den Kleinkram schnell genug erledigte, mit dem sie mich in Zukunft höchstwahrscheinlich bombardieren würde.

Meine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als ich zu meinem Arbeitsplatz blickte: Da saß eine Frau auf meinem Schreibtisch und schaute sich gerade das Familienfoto von Sunny, mir und unserer Großmutter Rhoda an. Ich blieb ein paar Schritte vor dem Tisch stehen und räusperte mich lauter als notwendig. „Darf ich fragen, was das hier werden soll?“

Sie drehte sich zu mir um und schaute mir mit einem kessen Lächeln in die Augen. „Detective Wilder?“

Ich wusste in dem Moment zwar, dass ich es später bereuen würde, sagte aber trotzdem: „Ja, das bin ich.“

Sie erhob sich von meinem Schreibtisch und streckte mir ihre Hand entgegen, wobei mir unweigerlich ihre teure Körperlotion in die Nase stieg und ihre perfekten künstlichen Fingernägel auffielen. „Mein Name ist Shelby O’Halloran. Ich bin gerade hierher versetzt worden, von der Sitte aus dem 19. Revier.“

„Okay …“, sagte ich zögernd und tat, was alle Cops tun, wenn sie einen neuen Menschen kennenlernen – ich trug die persönlichen Merkmale meiner Gesprächspartnerin für die mentale Akte zusammen. Irgendwo zwischen eins achtundsechzig und eins siebzig groß, um die fünfzig Kilo schwer, blondes Haar und eisblaue Augen. Keine auf den ersten Blick erkennbaren Narben oder Tätowierungen.

„Würden Sie mir dann vielleicht trotzdem verraten, was Ihr Hintern auf meinem Schreibtisch zu suchen hat, Shelby?“

„Ich bin Ihre neue Partnerin.“

Moment mal. Wie bitte?

„Sie sind meine was?“, fragte ich ungläubig und zwinkerte dabei ziemlich dämlich. Shelby. aber lächelte mich nur an. Sie verzog ihre glänzenden Lippen zu einem Lächeln und gab so den Blick auf eine perfekte Reihe kleiner weißer Zähne frei, bei deren Anblick einige Zahnärzte sicherlich feuchte Träume bekommen hätten.

„Ihre Partnerin … Ich bin Ihre neue Partnerin. Soweit ich weiß, haben Sie keinen Partner mehr gehabt, seit Sie zum Detective befördert worden sind.“

„Richtig. Und genau so mag ich es auch“, fauchte ich. Shelby griff nach ihrer schwarzen Handtasche und hängte sie sich über die Schulter. „Lieutenant McAllister hat mir gesagt, dass morgen ein Schreibtisch für mich geliefert wird. Ist es okay, wenn ich für heute Nacht meine persönlichen Sachen bei Ihnen verstaue? Ihre unterste Schublade ist ja noch frei …“

Ich fühlte, wie langsam eine glühende Hitze in mir aufstieg, und presste wütend die Zähne aufeinander, sodass mein Gesichtsausdruck wahrscheinlich einen unmittelbar bevorstehenden Mordrausch befürchten ließ. „Sie haben sich den Inhalt meiner Schreibtischschubladen angesehen?“

„Na ja, Sie sind ja ewig nicht aufgetaucht, und mir war irgendwie langweilig“, antwortete Shelby mit einem Achselzucken.

Wütend fuchtelte ich mit meinem Zeigefinger, an dessen Ende ein im Vergleich zu Shelbys Schmuckstücken recht verwahrloster Fingernagel prangte, vor ihrem süßen Puppengesicht herum. „Sie bewegen sich nicht vom Fleck!“, fuhr ich sie an. Dann drehte ich mich auf dem Absatz um und hastete zu Macs Bürotür.

Bei meinem Anblick hob Mac abwehrend die Hand. „Sie brauchen gar nicht erst loszulegen, Wilder, das ist nämlich nicht meine Idee gewesen. Morgan hat O’Hallorans Versetzung beantragt, bevor Sie Ihren Dienst wieder angetreten haben.“

„Und warum hat mir niemand was davon gesagt?“, sprudelte es aus mir heraus. „Mac, ich kann unmöglich mit der leibhaftigen Inkarnation von Barbie zusammenarbeiten! Alles, was ihr noch fehlt, sind Ken, ein rosafarbenes Cabrio und eine riesige Haarbürste!“

Mac griff in die rechte Schublade seines Schreibtischs und zog eine zerknitterte Schachtel Camel heraus. „Seit Ihrer Beurlaubung hab ich die Dinger nicht mehr angerührt, Luna, aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass ich sie heute Nacht brauchen werde.“

„Mac, Sie können nicht …“, begann ich einen erneuten Überzeugungsversuch, den er aber jäh unterbrach.

„Wilder, es liegt nicht in meinen Händen!“, blaffte er mich an. „Wenn Sie unbedingt jemanden anschreien müssen, dann gehen Sie zu Morgan! Andernfalls akzeptieren Sie einfach Ihre neue Partnerin und machen Sie Ihren Job.“

Das war … unglaublich! Ich schlug Macs Bürotür so heftig hinter mir zu, dass das Glas schepperte, und stampfte dann den Flur hinunter zu Morgans Büro, wo ich nach dem Klopfen noch nicht mal auf das „Herein“ wartete.

„Wie in drei Teufels Namen kommen Sie dazu, mir so eine Tussi von der Sitte als Partnerin aufzudrücken?“ Sehr diplomatisch, Luna!, tadelte ich mich gleich im Anschluss.

Morgan antwortete nicht sofort, sondern nahm erst ihre Brille ab und durchbohrte mich mit einem eiskalten Blick. Ich konnte von Glück reden, dass ich schon weitaus furchterregenderen Wesen begegnet war, denn ihre alles durchdringenden Laseraugen hätte jeden weniger widerstandsfähigen Menschen wahrscheinlich im Handumdrehen in eine glibberige Pfütze verwandelt. „Detective Wilder, wenn ich Interesse daran hätte, dass die Beamten unter meiner Führung meine Urteilsfähigkeit und meine Entscheidungen hinterfragen, dann würde ich einen kleinen Briefkasten an meiner Bürotür anbringen, in den alle Welt Vorschläge und Einwände einwerfen könnte“, erklärte Morgan mit einem zynischen Unterton. .

„Aber ich habe noch nie einen Partner gehabt!“, wandte ich verzweifelt ein. „Seitdem ich beim Morddezernat angefangen habe, bin ich immer solo gewesen.“

„Detective“, schnauzte Morgan und schlug dabei mit der Handfläche auf den Tisch, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. „Ich weiß zwar nicht, was Will Roenberg hier für einen Saftladen geführt hat, aber die Tatsache, dass jemand, der so instabil ist wie sie, ohne Unterstützung als Ermittlerin durch die Stadt marschieren durfte, macht wohl jeden Kommentar dazu überflüssig. In den Revieren, die mir unterstellt sind, hat jeder Detective einen Partner. Sie eingeschlossen.“

Ich öffnete meinen Mund erneut, um noch einmal meine Einwände vorzubringen. Offensichtlich hatte mich die Rage so sehr gepackt, dass ich mein schlechtes Benehmen gegenüber meiner Vorgesetzten gar nicht mehr bemerkte.

„Sie sind nichts Besonderes, nur weil Sie eine Werwölfin sind, Ms Wilder!“, fauchte Morgan mich an und stand auf. Sie reichte mir zwar nur bis zur Schulter, aber sie war kräftig gebaut und hätte mit ihrem einschüchternden Gesichtsausdruck wahrscheinlich sogar Dschingis Khan in die Flucht geschlagen. „Ich werde wegen dieser Werwolfsache keine Ausnahmen mehr dulden! Entweder Sie befolgen die Befehle, oder Sie verschwinden! Sie haben die Wahl!“

Meine Handflächen begannen zu jucken, und als die Wölfin in mir spürte, dass man sie zu dominieren versuchte, trat sie vor ihre Höhle. Mit knirschenden Zähnen spannte ich meine Nackenmuskeln an und machte mich bereit für die nächsten Anweisungen der Wölfin. Zum Glück gab auf einmal eine der zum Bersten gespannten Sehnen in meinem Nacken ein drohendes Knacken von sich, sodass ich mich wieder fing. „Vielen Dank für Ihre Zeit, Ma’am“, sagte ich zu Morgan und war selbst über meinen ruhigen Tonfall verdutzt.

Morgan ging zu ihrem Schreibtischstuhl zurück und griff nach den Unterlagen, in denen sie gelesen hatte, als ich hereingeplatzt war. „Sollten Sie es mir gegenüber noch einmal an Respekt fehlen lassen, dann wird es das Letzte sein, was Sie als Mitglied des NCPD getan haben, Detective Wilder. Haben wir uns verstanden?“

„Ja, Ma’am“, flüsterte ich und schaute dabei auf meine Schuhe, denn bei einem Blick in ihr Gesicht hätte ich dem Miststück den Kopf abgerissen.

„Dann war’s das wohl“, sagte sie abschließend und scheuchte mich mit einer Handbewegung hinaus. Niedergeschlagen schloss ich die Tür hinter mir – sehr behutsam.