25
Als ich zur Mittagszeit in der First Bank of Nocturne ankam, herrschte dort reger Betrieb. Die Bank war in einem dieser imposanten Geschäftsgebäude auf der Main Street untergebracht, deren Fassaden mit ihren antiken Elementen eher griechischen Tempeln als modernen Bauten ähnelten. Es war die einzige Niederlassung in der ganzen Stadt, was aber eine gewisse Logik hatte, denn die First Bank of Nocturne konzentrierte sich auf wohlhabende Geschäftsleute und die Finanzierung edler Eigenheime in Cedar Hill – ein einträglicher, aber auch sehr begrenzter Markt in einer Stadt wie Nocturne.
Ich trat an einen der Schalter, hielt der Bankangestellten meine Dienstmarke und den Schlüssel unter die Nase und erklärte ihr, was ich wollte. Bevor sie antwortete, biss sie sich mit einem Kopfschütteln auf die Lippe. „Es tut mir wirklich leid, aber ich kann Sie nicht einfach so zu den Privatschließfächern vorlassen. Vincent Blackburn ist nicht nur ein guter Kunde, sondern auch ein sehr netter Mensch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er etwas Gesetzwidriges getan hat.“
„Eine andere Person konnte sich das aber sehr wohl vorstellen und war allem Anschein nach sogar derart verärgert darüber, dass sie den guten Vincent kurzerhand ermordet hat“, erwiderte ich, woraufhin die entsetzte Bankangestellte mich mit weit aufgerissenem Mund anstarrte. „Ich denke, dass wir nach dem Tod von Vincent Blackburn nicht mehr sonderlich viel Rücksicht auf seine Privatsphäre nehmen müssen, sodass Sie mich ruhig zu seinem Schließfach führen können.“
Ohne Frage, ich war nicht sonderlich einfühlsam mit der Frau umgegangen, aber dass sie einen in Erpressung und Drogenhandel verwickelten Junkie als „sehr netten Menschen“ bezeichnete, hatte mich verärgert.
Die Bankangestellte führte mich in einen kleinen Raum, der durch die mit rotem Samt verkleideten Wände und den eleganten Polsterstuhl wie ein gut beleuchteter Sarg wirkte. Wortlos öffnete sie Vincents Schließfach, zog eine Kiste heraus, die weitaus größer war, als ich erwartet hatte, stellte sie auf dem großen Eichentisch vor mir ab und ließ mich dann allein.
„Hoffen wir mal, dass du etwas Interessantes für mich hinterlassen hast, mein lieber Vincent“, murmelte ich, während ich den Klappdeckel anhob. In der Lade fand ich einen Stapel Mappen, die fein säuberlich mit verschiedenen Namen und Daten beschriftet waren. Als ich nach der ersten Mappe griff, um mir deren Inhalt anzusehen, fielen mir gleich ein Dutzend Fotos entgegen, deren Motive nur für fortgeschrittene Internet-Perverslinge interessant gewesen sein dürften. Beim Anblick der Bilder kam in mir eine Mischung aus Erstaunen und Entsetzen auf, denn so viele verschiedene Verwendungsarten für brennende Kerzen hatte ich nicht für möglich gehalten.
Unter den Mappen, die allesamt ähnliche Fotos enthielten, lagen zwei DV-Kassetten und eine Reihe von CDs, auf denen sich laut Beschriftung digitale Sicherheitskopien der Bilder befanden. Mit einem Seufzer machte ich mich an die mühsame Arbeit, den Inhalt der restlichen Mappen zu durchsuchen und mir die Namen der abgelichteten Personen zu notieren.
In der Mitte des Stapels fand ich eine Mappe mit dem Namen ROGER DAVIDSON BURDOCK. Als ich sie aufschlug, grinste mir „Mark“, der Stiefellecker aus dem Bete Noire, wollüstig entgegen. Vincent hatte einen Artikel über ihn aus dem Fortune Magazine an das geschmacklose Foto geheftet, auf dem Roger ein hübsches, aber viel zu kurzes Kleid trug. Nachdem ich den Artikel überflogen hatte, wusste ich zumindest, warum mir sein Gesicht im Bete Noire so bekannt vorgekommen war. Zumindest steht ihm das Kleid ganz gut, tröstete ich mich. Wahrscheinlich von Gucci.
Als ich den Namen auf der nächsten Mappe las, verkrampften sich meine Finger – SEAMUS MALACHY O’HALLORAN. Ich hatte zwar vermutet, dass Vincent jemanden aus der Familie der O’Hallorans erpresst hatte, aber dass Seamus selbst es war, hätte ich nicht erwartet. Das Familienoberhaupt der O’Hallorans war also nicht nur ein verdammt angsteinflößender Typ, sondern auch ein Perversling vor dem Herrn. Woher er allerdings die Zeit für solche Spielereien nahm, war mir ein Rätsel.
In der Mappe befand sich nur ein einzelner Negativstreifen. Als ich ihn gegen das gelbe Licht der Lampe hielt, zuckte ich zusammen. Anscheinend genoss es Seamus genauso sehr wie Samael, andere Personen zu kontrollieren, und scherte sich dabei einen feuchten Kehricht um Geschlecht oder Alter seiner Opfer.
Obwohl die Luft in dem kleinen Raum mehr als muffig war, atmete ich tief ein, um mein Entsetzen herunterzuschlucken. Dann legte ich den Negativstreifen wieder in die Mappe zurück und schob sie unter mein eng anliegendes schwarzes Polohemd. Nachdem ich meine Jacke übergestreift hatte, begutachtete ich die eigenartige Wölbung an meinem Bauch und versuchte mir einzureden, dass ich mit etwas Glück als im sechsten Monat schwanger durchgehen würde. Die restlichen Mappen legte ich zusammen mit den Fotos wieder zurück in die Metalllade. Da nur ich den Schlüssel zu diesem Schließfach hatte, schien das brisante Material hier am sichersten verwahrt zu sein.
Nachdem ich die Bank verlassen hatte, bog ich in eine Seitenstraße der Main Street ein und ging in Richtung O’Halloran Tower. Schon nach den ersten zwei Blocks schwirrten so viele wütende Gedanken durch meinen Kopf, dass das Blut wild in meinen Adern zu kochen begann und ich das Hecheln der Wölfin in meinem Kopf hören konnte. Seamus war ein Sadist und ein Mörder obendrein. Ich war fest entschlossen, ihn zu überführen, Wenn ich mit ihm fertig war, würden sich noch nicht mal mehr die dreckigsten Straßenköter von Nocturne für die traurigen Reste seines ach so aufrichtigen Lebens interessieren, und auch sein tadelloser Ruf würde dann keinen Pfifferling mehr wert sein.
Während ich durch die Lobby des O’Halloran Tower ging und im Fahrstuhl den Knopf für das höchste Stockwerk drückte, musste ich unweigerlich an Shelby denken. Sie hätte angesichts meines Vorhabens sicherlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Trotzdem war ich mir in diesem Moment relativ sicher, dass sie an meiner Seite stehen würde, wenn es ihre Gesundheit zugelassen hätte. Zumindest redete ich mir das während der Fahrstuhlfahrt ein, um mich selbst davon zu überzeugen, das Richtige zu tun. Erst als sich die Türen öffneten, wurde mir klar, dass es möglicherweise doch keine sonderlich gute Idee war, Seamus O’Halloran derart auf die Füße zu treten.
Im Vorzimmer von Seamus’ Büro saß eine gut aussehende Sekretärin mit eisblauem Lidschatten und Designerklamotten, die sie sich nur schwerlich von ihrem Tippsengehalt gekauft haben konnte. Als sie mich erblickte, quiekte sie kurz auf, was mich nicht verwunderte, da ich in dem geleckten Wartebereich wahrscheinlich wie ein Hells-Angels-Mitglied in einem Priesterseminar wirkte.
„Ich muss mit Seamus sprechen“, sagte ich zu der Sekretärin und streckte ihr meine Dienstmarke entgegen. Mit einem Stirnrunzeln beäugte sie die goldene Marke, als müsste sie fremdländische Schriftzeichen entziffern.
„Mr O’Halloran ist gerade sehr beschäftigt“, antwortete sie nach einer kleinen Pause mit übereinandergelegten Händen.
„Das bezweifle ich nicht im Geringsten, Ma’am, und von daher möchte ich es auch Ihnen überlassen, ob Sie ihn jetzt unterbrechen wollen oder lieber warten, bis ich die Tür zu seinem Büro eintrete.“ Mit einem Blick auf die Doppelmilchglastüren vor Seamus’ Büro fügte ich hinzu: „Ich schätze mal, dass diese Dinger über ein zentrales Alarmsystem mit dem NCPD verbunden sind. Wenn ich sie eintrete, ist hier in null Komma nichts die Hölle los. Sie haben also die Wahl zwischen mir und einer Horde Streifenpolizisten. Aber ich warne Sie, meine Kollegen werden sich nicht extra die Füße abtreten, bevor sie hier reinmarschieren.“
Sie spitzte die Lippen und griff hastig nach dem silberfarbenen Telefon auf ihrem Schreibtisch, das mit seinen vielen Knöpfen an die Steuerkonsole der USS Enterprise erinnerte. Mit finsterem Blick nahm ich den Hörer aus ihrer Hand, legte ihn wieder auf den Apparat und knurrte: „Machen Sie einfach nur die Tür auf, verstanden?“
Noch bevor sie zu einem weiteren ihrer hochnäsigen Kommentare ansetzen konnte, ließ ich meine Augen goldfarben auflodern. Manchmal ist der direkte Weg eben doch der beste, dachte ich, als sie mit verängstigtem Blick den Knopf auf der Unterseite ihres Schreibtischs betätigte und damit die alarmgesicherten Türen zu Seamus’ Büro öffnete.
„Gute Entscheidung“, warf ich der eingeschüchterten Sekretärin zu, die seufzend ihr Gesicht in den Händen vergrub, während ich auf die Doppelmilchglastüren zustürmte. Durch die Geschwindigkeit des Anlaufs polterte ich mit einer solchen Wucht in das Arbeitszimmer des Familienoberhaupts, dass die Türen weit aufflogen und gegen die Bürowände krachten. Seamus riss sofort den Kopf herum und starrte mich an, machte aber keinerlei Anstalten, das Telefonat, mit dem er gerade beschäftigt war, zu beenden. Den Hörer in der einen, den modernen Telefonapparat in der anderen Hand lief er unruhig von einer Ecke des Zimmers in die andere.
„Legen Sie auf, Seamus!“, befahl ich. „Wir müssen uns unterhalten.“
„Eine Sekunde, Herb, es gibt hier gerade eine kleine Störung“, erklärte Seamus seinem Gesprächspartner.
„Übertreiben Sie es lieber nicht, Seamus. Legen Sie auf, und zwar sofort!“, warnte ich ihn.
„Was in drei Teufels Namen geht hier vor?“, fauchte er. „Wie können Sie es wagen, hier so hereinzuplatzen, Sie kleines Miststück!“
Entschlossen ging ich zum Telefonanschluss an der Wand, zog mit einer raschen Bewegung das Kabel aus der Buchse und legte es langsam auf den Boden. „Herb? Hallo Herb, kannst du mich hören? Verdammte Scheiße!“, brüllte Seamus in den Hörer. Dann wandte er sich zu mir. „Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wer das eben war?“
„Ist mir egal, und wenn es der Heilige Christophorus persönlich war …“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir beide werden jetzt miteinander reden. Am besten, wir fangen mit Vincent Blackburn und dem vergifteten Blut an, mit dem Sie ihn umgebracht haben. Danach können wir gern noch über die Autobombe sprechen, die Ihre Nichte fast unter die Erde gebracht hätte.“
Eigentlich hatte ich erwartet, dass Seamus sofort alles abstreiten und mich wild beschimpfen würde. Schließlich war er nicht nur ein äußerst wohlhabender Mann, sondern quasi auch der König von Nocturne City und musste sich von einem dahergelaufenen Detective des NCPD nichts gefallen lassen. Stattdessen stürmte er wortlos auf mich zu und verpasste mir mit dem Handrücken eine Ohrfeige.
Eine normale Frau in meinem Alter wäre durch den Schlag sicherlich zu Boden gegangen – ich aber blieb mit zur Seite gedrehtem Kopf und zusammengebissenen Zähnen stehen. Nachdem ich das Blut von meiner Lippe geleckt hatte, verharrte ich einige Sekunden, bis das Klingeln in meinem Kopf langsam abebbte.
Seamus starrte mich wutentbrannt an. Mit seinem hochroten Gesicht wirkte er fast so, als würde er jeden Moment einen Herzinfarkt erleiden. Ich schüttelte kurz meinen Kopf und schaute ihm dann wieder direkt in die Augen.
„Meine Oma hat mehr Schmackes im Arm als Sie, Seamus.“ Ich war fest entschlossen, dieses Mal ruhig zu bleiben und die Wölfin im Zaum zu halten. Sicherlich hätte ich meinem Gegenüber mit bloßen Händen alle Gliedmaßen ausreißen können, aber das hätte mich in meinem Fall kein Stück weitergebracht.
„Verschwinden Sie jetzt lieber, bevor ich mich vergesse und Ihnen eine Lektion erteile, die Sie ganz offensichtlich bitter nötig haben“, drohte er.
„Da Sie gerade von Lektionen sprechen, Seamus“, begann ich und warf ihm den Negativstreifen aus dem Schließfach vor die Füße. „Ich hab da auch eine für Sie: Wenn Sie sich schon erpressen lassen, dann sollten Sie bei der Geldübergabe auch sichergehen, dass Sie tatsächlich alle Negative bekommen.“
Fassungslos starrte Seamus erst mich, dann den Negativstreifen am Boden und schließlich wieder mich an. Nachdem er den Streifen aufgehoben hatte, wandte er mir den Rücken zu, ging zu dem Fenster hinter seinem Schreibtisch und hielt die Negative gegen das Licht.
„Gute Komposition, tipptopp belichtet, und alle Gesichter sind sehr gut erkennbar, finden Sie nicht auch, Seamus? Seine Schwester hat mir zwar gesagt, dass Vincent nur malen würde, aber anscheinend konnte der junge Mann auch hervorragend mit einer Kamera umgehen.“ Ich steckte meine zitternden Hände in die Taschen meiner Jacke, um die beklemmende Angst zu verbergen, die sich langsam, aber sicher in mir breitmachte. „Über welche Talente Vincent neben der Fotografie noch verfügt hat, werden wir nun leider nicht mehr erfahren, da er auf Ihr Geheiß ermordet worden ist.“
Den Negativstreifen in der geballten Faust, stürzte er mit hastigen Schritten auf mich zu und brüllte: „Glauben Sie vielleicht, das würde irgendetwas ändern? Sie werden nie beweisen können, dass ich diesen Homo vergiftet habe! Denken Sie doch mal nach, Detective! Ich bin ein Gott in dieser Stadt, und Sie … Sie sind ein Nichts, ein kleines Mädchen.“ Kaum hatte er das ausgesprochen, trat eine dunkle Flüssigkeit aus den Rändern seiner Augen und legte sich wie ein schmieriger Film über seine Pupillen. Sofort stellten sich meine Nackenhaare auf, und ein krampfartiges Zucken durchzog das Tattoo auf meinem Rücken. Mein Werwolfkörper begann eindeutige Warnsignale auszusenden, sodass mir nur noch die Flucht nach vorn blieb: „Natürlich haben Sie ihm nicht selbst die Nadel in die Vene gedrückt, aber ich weiß, dass Sie schuldig sind, auch wenn Ihre Handlanger die Drecksarbeit erledigt haben!“ Eine andere Möglichkeit bestand darin, dass er den Schädel des Mathias benutzt und Vincent zum Selbstmord gezwungen haben könnte, aber eigentlich war die Methode momentan eher nebensächlich. „Nach all diesem hochtrabenden Geschwätz von verfeindeten Hexenclans, dem Krieg zwischen den Magiern und uralten Blutfehden, ist der wahre Grund für diese Morde doch eher erbärmlich, finden Sie nicht auch? Ehrlich gesagt, bin ich sogar ziemlich enttäuscht von Ihnen, Seamus … mussten diese Leute wirklich nur wegen ein paar dreckigen Fotos sterben?“
Seamus lachte so laut und herzhaft, als würde er sich gerade über ein dummes Gör amüsieren, das sich in die Hose gemacht hatte. „Sie dummes Ding, Sie konzentrieren sich viel zu sehr auf das Offensichtliche. Dabei müssten Sie als Polizistin doch wissen, dass ein Junkie alles tun würde, um an Drogen und Bargeld zu kommen. Sicherlich gehören kompromittierende Fotos und Erpressung auch dazu, aber wenn er geschnappt wird, ist er wieder ganz der Junkie und geht auf jeden Deal ein.“
Noch bevor ich mir einen Reim auf seine Worte machen konnte, hatte mich Seamus schon an den Haaren gepackt und meinen Kopf an sein Gesicht gezogen. Er zwang mich, in seine Augen zu schauen, die sich mittlerweile pechschwarz gefärbt hatten. In seinem menschlichen Antlitz wirkten sie wie schwarze Steine und waren weitaus schrecklicher anzusehen als in der Fratze eines Dämons.
„Und jetzt habe ich genug mit Ihnen geplaudert, denke ich“, sagte Seamus mit ruhiger Stimme. Als ich seinem hypnotischen Blick zu entkommen versuchte, fügte er knurrend hinzu: „Lassen Sie’s lieber über sich ergehen, Detective, oder ich werde Sie auf der Stelle töten.“
Dann hüllte mich der Mantel seines Zaubers ein und versetzte mich in einen tranceartigen Zustand. Es fühlte sich fast so an, als würde ich durch eine Eisschicht in einen Pool mit warmem Wasser tauchen. Es war so warm und angenehm, dass mich schon nach wenigen Sekunden eine überwältigende Gleichgültigkeit erfüllte. Obwohl das Ergebnis ähnlich war, hatte der durch Seamus’ Blick hervorgerufene Zustand nichts mit dem Gefühl der Dominierung durch einen stärkeren Werwolf zu tun: Weder waren meine Glieder schwer noch meine Wahrnehmung benebelt, und anstatt betrunkener Desorientiertheit fühlte ich eine bemerkenswerte Klarheit in meinem Kopf. Ich wusste genau, dass ich in Seamus’ Büro stand und in seine Augen starrte, aber ich betrachtete dieses Hier und Jetzt wie ein Zuschauer. Ich hatte die Kontrolle über meinen Körper und meinen Willen verloren.
„Na also“, raunte Seamus, als er sah, dass ich seinem Zauber erlag. „Und jetzt machen wir einen kleinen Spaziergang.“ Die Hand immer noch in meinen Haaren, zerrte er mich auf dir andere Seite des Büros und blieb vor einer kleinen, in der Wand eingelassenen Metallplatte stehen. Er drückte einen Knopf auf der Platte, und im nächsten Augenblick öffnete sich die Wand vor uns, und eine kleine Metalltür kam zum Vorschein. Einen Moment später hatte ich das Gefühl, in einen Tunnel zu starren -ein Wirbel aus verschiedenen Licht- und Soundeffekten überwältigte meine Sinne und verschmolz direkt vor mir zu einem hellen Loch.
Seamus zerrte mich in eine kleine Kammer, die ich erst als Fahrstuhlkabine erkannte, als sie sich nach unten senkte. Nachdem wir eine ganze Weile gefahren waren, hielt der Aufzug schließlich an.
„Raus jetzt!“, kommandierte Seamus.
„Was haben wir denn da?“, rief eine mir wohlbekannte Stimme in scharfem Ton.
„Sie ist wie aus heiterem Himmel in mein Büro geplatzt und hat mich mit Anschuldigungen zu Vincent Blackburns Tod belästigt. Nichts Ernstes, denke ich, aber sie könnte uns Ärger machen“, erklärte Seamus seinem Gesprächspartner. Dann ließ er mein Haar los, und ich sank auf die Knie. „Mach mit ihr, was du willst. Ich habe sie stark betäubt. Selbst wenn sie sich aufrappeln und den Bann brechen sollte, wird sie sich an nichts erinnern können.“
Als Seamus’ Gesprächspartner vor mich trat, sah ich meinem personifizierten Albtraum ins Gesicht – es war Joshua. Er trug einen nagelneuen schwarzen Anzug, der wahrscheinlich mehr gekostet hatte als mein Auto. Bei meinem Anblick stieß er einen vergnügten Pfiff aus. „Oh mein Gott, Seamus, Sie wissen gar nicht, wie sehr ich diesen Job und seine kleinen Vorteile liebe!“
„Ja, ja … Hauptsache, du denkst daran, dass ich heute Abend den Wagen brauche. Punkt sieben“, erwiderte Seamus. Dann fiel hinter mir eine Tür ins Schloss, und wir waren allein.
Nachdenklich strich sich Joshua übers Kinn und musterte mich. „Nun, Luna, jetzt sind nur noch wir beide hier. Kommt dir sicherlich bekannt vor, oder?“
Natürlich kam mir das bekannt vor: Ich bin allein mit ihm in einem Van am Strand. In der Nähe knistert ein verlassenes Lagerfeuer, und außer uns ist niemand da, der meine Schreie hören könnte. Ich schreie trotzdem, als er meinen Körper mit Gewalt auf den Boden presst. Dann hebt die Schlange auf seinem Unterarm den Kopf und bleckt ihre Giftzähne. Und ich schreie weiter. Lauter, immer lauter .:.
Langsam dämmerte mir, dass ich Joshua nun vollkommen ausgeliefert war. Verzweifelt versuchte ich, mich aus dem Bann zu befreien, in dem Seamus mich gefangen hielt, doch es war zwecklos. Es fühlte sich an, als sei ich lebendig in meinem eigenen Körper begraben worden, und mir blieb nichts weiter übrig, als panisch gegen die Sargwände zu trommeln. Als Joshua dann mit einem Finger mein Kinn anhob und mir befahl, aufzustehen, wusste ich bereits, was als Nächstes kommen würde.
In diesem Moment wünschte ich mir, dass ich auf der Stelle sterben und mich ins Nichts flüchten könnte, um nicht das in der Realität erleiden zu müssen, was mir Joshua seit fünfzehn Jahren Nacht für Nacht in meinen Träumen antat. Aber ich starb nicht, sondern stand einfach nur so reglos da wie eine Schaufensterpuppe, während Joshua mir die Pistole abnahm und meine Dienstmarke in den Mülleimer warf.
„Schade eigentlich, dass die Sache mit uns so dermaßen danebengehen musste“, murmelte er. „Du hättest nämlich ein Prachtexemplar von einem Serpent Eye abgegeben. Rücksichtslos und gefährlich – genau so, wie ich es mag.“
Nein. Nein. Nein. Das kann einfach nicht wahr sein!, dachte ich und hoffte verzweifelt darauf, dass mir gleich jemand zu Hilfe kommen würde oder ich Seamus’ Bann brechen konnte.
„Leider muss ich mich jetzt an die Gesetze unseres Rudels halten“, seufzte Joshua und musterte mich noch einmal von Kopf bis Fuß. „Dabei würde ich viel lieber was ganz anderes mit dir anstellen!“ Seine ekelhafte Andeutung ließ mir einen kalten Schauder über den Rücken laufen. Wenn mein Mund nicht durch den Bann versiegelt gewesen wäre, hätte mein Schrei sein Trommelfell zerrissen.
Dann holte Joshua mit der Rechten aus und schlug mir mit voller Kraft mitten ins Gesicht. Unfähig, die Wucht des Schlags abzufangen, fiel ich wie ein menschengroßer Pappaufsteller seitlich gegen die Wand.
„Ich schätze mal, dass du als Insoli keine Ahnung von den Gesetzen der Rudel hast“, fuhr mich Joshua an und ließ seine Fingergelenke knacken. „Aber es sind auch deine Gesetze, Luna, denn faktisch warst du bereits eine von uns, als du mich nach dem Biss verlassen hast. Lange Rede, kurzer Sinn: Du hast mich damals gedemütigt, und jetzt kann ich dich dafür so bestrafen, wie ich es für angemessen halte.“ Kaum hatte er seinen kleinen Vortrag beendet, trat er mir so heftig in den Bauch, dass ich mich vor Schmerzen krümmte und laut stöhnte.
„Tja, Luna, jetzt weißt du Bescheid“, fuhr Joshua mit ruhiger Stimme fort. „Dir wird nichts weiter übrig bleiben, als reglos am Boden zu liegen und die ganze Sache über dich ergehen zu lassen. Aber ich kann dich beruhigen, deine Qualen sind ein Spaziergang im Vergleich zu dem, was ich durchmachen musste, als du davongerannt bist.“ Spätestens nach dem nächsten Fußtritt wünschte ich mir wirklich von ganzem Herzen, tot zu sein. Mein Kopf schien vor Schmerz zu explodieren, und mein Körper stand buchstäblich in Flammen, aber es half nichts – ich war noch immer bewegungsunfähig und bei vollem Bewusstsein im Bann gefangen. Mit weit aufgerissenen Augen lag ich wie versteinert am Boden, während sich Joshua rittlings auf mich setzte. „Seamus hat gesagt, dass du immer noch alles mitkriegst, auch wenn du keinen Mucks von dir gibst. Ich hoffe bloß, dass das stimmt, denn ich habe noch ein paar Überraschungen für dich.“
Dann beugte er sich zu meinem Gesicht herunter und küsste mich. Sein Kuss ähnelte in keiner Weise dem von Dmitri, aber es war eindeutig der eines Werwolfs: Knurrend stieß er mir seine Zunge in den Rachen und riss mir gleichzeitig mit seinen Zähnen die Lippen auf. Als das Blut aus meinem Mundwinkel zu rinnen begann, konnte ich seine Erregung riechen, und ich wusste, dass er jetzt nicht mehr zu halten war. Mit einem fiesen Grinsen packte er mein Gesicht und schlug meinen Hinterkopf wieder und wieder auf den Fußboden, als sei er ein Affe, der eine Kokosnuss öffnen will. Als er mich dann hochzog und auf die Füße stellte, schwirrten Tausende schwarze Sternchen vor meinen Augen herum. Mein Hinterkopf war kalt und feucht, und ich musste nicht einmal tief einatmen, um das Blut riechen zu können, das mir gerade den Nacken hinunterfloss. Eigenartigerweise beunruhigten mich weder das Blut noch die rohe Gewalt sonderlich, denn ich trieb immer noch in einem Meer der Gleichgültigkeit.
Als Nächstes presste mich Joshua mit dem Rücken gegen die Wand und musterte mein Gesicht. Mein Kopf sackte zur Seite, da mich plötzlich ein starkes Benommenheitsgefühl überfiel. „Untersteh dich, jetzt ohnmächtig zu werden!“, schrie er. „Ich habe noch einiges mit dir vor, Luna, und solange ich dich dabei nicht töte, lassen mir die Gesetze unseres Rudels freie Hand.“ Plötzlich ganz behutsam, streichelte er meine Wange. „Und eigentlich will ich dich überhaupt nicht töten, denn lebendig bist du mir viel nützlicher!“
Dann widmete er sich wieder der Sache, die er am besten konnte – mit der Linken hielt er meinen Körper aufrecht, um mit der Rechten weiter auf mein Gesicht, meinen Oberkörper und meinen Bauch einzudreschen. Die Wucht seiner Schläge schien sich mit jedem Hieb zu steigern. Schließlich traf er mich so heftig auf der Brust, dass nicht nur die Luft aus meinen Lungen gequetscht wurde, sondern auch eine Blutfontäne aus meinem Mund schoss, die direkt in seinem Gesicht und auf seinem Hemd landete. Sofort ließ er mich los und wich einen Schritt zurück, um sich das Blut aus den Augen zu wischen. Dann bemerkte er die feinen Blutspritzer auf seinem Hemd und explodierte. „Verdammte Scheiße! Das wird ja immer schöner mit dir! Hast du überhaupt eine Ahnung, wie teuer dieser Anzug ist?“ Wütend ließ er mich stehen und verschwand aus meinem Blickfeld. Kurz darauf konnte ich außer seinen gemurmelten Flüchen hören, wie ein Wasserhahn auf der anderen Seite des Zimmers aufgedreht wurde.
Dann begann ein dunkler Nebel meine Wahrnehmung zu verschleiern, und ich rutschte mit dem Rücken an der Wand zu Boden. Schneller als erwartet tauchte mein Geist in eine Bewusstlosigkeit ab, aus der ich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr erwachen würde. Da mich aber Seamus’ Bann immer noch in Gleichgültigkeit badete, machte ich mir nicht allzu viele Sorgen. Meine Gedanken konzentrierten sich einzig und allein auf die Schmerzen und suchten verzweifelt nach einem Weg, um sie auszuschalten. Unaufhaltsam sank ich tiefer und tiefer in das schwarze Nichts hinab, während die Wölfin in mir mit ausgefahrenen Klauen und gefletschten Zähnen aufheulte und um ihr Überleben kämpfen wollte.
Nachdem ich fast vollkommen auf dem Boden zusammengesackt war, ließ ich mich mit geschlossenen Augen auf die Seite fallen. Sofort zuckte ich zusammen, denn ein kleiner, scharfkantiger Gegenstand verursachte mir höllische Schmerzen in der Rippengegend. Überraschenderweise vermochte der stechende Schmerz in meiner Seite den Bann zu durchdringen und eine Flamme in meinem Hirn zu entfachen, die jedes Wesen aus Fleisch und Blut besitzt: den Überlebenswillen. Es dauerte nicht allzu lange, bis ich den scharfkantigen Gegenstand als mein Handy erkannt hatte. Mit Mühe konnte ich meine tauben Finger dazu bringen, das Telefon aus der Tasche zu zerren und blindlings ein paar Tasten zu drücken. Mit einem Knacken schaltete sich der Lautsprecher ein, und mein Körper verkrampfte sich in panischer Angst vor Joshua.
Aber allem Anschein nach hatte er nichts davon mitbekommen, da er selbst telefonierte: „Ja, hier ist Joshua Mackleroy aus dem O’Halloran Tower. Ja, genau, der Chef des Sicherheitsdiensts. Könnten Sie mir bitte ein neues Hemd vorbeibringen? Ich hatte einen Unfall.“ Wild fluchend legte er auf, und ich rollte mich mühsam auf die Seite, um das Handy unter meiner Hüfte zu verstecken. Obwohl ich mir immer noch wie ein bewegungsunfähiges Holzscheit vorkam, begann ich langsam wieder ein Gefühl für einzelne Teile meines Körpers zu entwickeln. Es waren höllische Schmerzen, aber ich wusste, dass ich Seamus’ Zauber zumindest teilweise durchbrochen hatte. Unweigerlich musste ich an die erzwungene Selbsttötung von Benny Joubert denken. Die Magie von Seamus war zwar mächtig, aber noch nicht perfekt.
„Was für eine unglaubliche Frechheit“, schimpfte Joshua. „Dreißig Minuten für ein beschissenes Hemd! Aber was solls, so können wir uns noch eine gemütliche halbe Stunde machen, was, Luna?“ Er beugte sich zu mir herunter, zog mein linkes Lid hoch und überprüfte meine Pupille. „Wehe, du machst jetzt schlapp! Würde mich ziemlich enttäuschen, wenn du nicht mehr verträgst. Ich bin doch gerade erst warm geworden.“
Schon als ich ihn kennengelernt hatte, war mir seine große Klappe aufgefallen, und offensichtlich hatte sich daran nichts geändert. Normalerweise stellten hühnerbrüstige Großmäuler wie Joshua keine wirkliche Herausforderung für mich dar, da ich durch die Kräfte der Wölfin selbst ohne Mondschein Männer aufs Kreuz legen konnte, die doppelt so viel auf die Waage brachten wie ich. In diesem Moment half mir das allerdings wenig, denn ich war nicht nur schwer verwundet, sondern auch in einem starken Zauber gefangen.
Als Joshua dann aber seine Hand auf meinen Hals legte, um meinen Puls zu messen, tat ich, was jede Frau mit etwas Selbstachtung in dieser Situation getan hätte, und stach ihm mit Zeige- und Ringfinger direkt ins Auge. Mit einem lauten Schmerzensschrei fiel er nach hinten und presste sich die Hand vors Auge. „Du miese Schlampe! Willst du mir das Auge ausstechen, oder was?“
Steh auf, Luna!, befahl mir die Wölfin. Ich wusste nur allzu gut, dass mich die Küstenwache morgen als aufgedunsene Wasserleiche aus der Siren Bay fischen würde, wenn ich jetzt nichts unternahm. Mit größter Mühe raffte ich mich trotz schmerzender Glieder auf und taumelte so steif und ungelenk wie eine volltrunkene Discogängerin durch den Raum. Joshua bekam meinen Fuß zu fassen und riss mich zu Boden. Ich schaffte es aber, mich an der Kante eines Stahltischs hochzuziehen. Vor dem Tisch kniend, sah ich dort neben einer Reihe Walkie-Talkies auch drei Elektroschocker in grün blinkenden Ladestationen stehen.
Als ich hörte, wie sich Joshua hinter mir stöhnend aufrichtete und näher kam, griff ich schnell nach einem der Elektroschocker, riss meinen Arm herum und drückte, ohne großartig zu zielen, auf den Abzug. Nach einem kurzen knisternden Geräusch stieg eine kleine Rauchwolke auf, die den Geruch verbrannter Haare im Raum verbreitete. Joshua jaulte wie ein gepeinigtes Tier.
Die Hand, mit der er mich schon im Nacken gepackt hatte, verkrampfte sich, und dann fiel er bewusstlos zu Boden. Nachdem sich der Elektroschocker mit einem letzten Funken zischend verabschiedet hatte, herrschte völlige Stille.
Langsam richtete ich mich auf, indem ich mich an Tisch und Wand abstützte. Joshua lag auf der Seite. Der Reißverschluss seiner Anzughose war durch den Stromstoß zu einem silberfarbenen Streifen zusammengeschmolzen. Offensichtlich hatte ich ihn da erwischt, wo es am meisten wehtat.
„Verdammter Dreckskerl!“, fluchte ich kraftlos, ohne ihm den Tritt verpassen zu können, der eine solche Beschimpfung eigentlich begleiten sollte. Ich wusste, dass ich mich in diesem Moment eigentlich hätte vergewissern sollen, ob Joshua wirklich tot oder nur vorübergehend außer Gefecht gesetzt war, aber meine stark blutenden Wunden und der Schmerz unter meinen Rippen ließen das nicht zu. Eigentlich war es mir sogar egal, ob Joshua noch unter den Lebenden weilte. Nach dem, was er mir gerade angetan hatte, hätte ich seinen reglosen Körper liebend gern vor einen Güterzug gezerrt, aber an körperliche Anstrengungen war im Moment nicht zu denken.
Als ich mich umsah, bemerkte ich eine Stahltür zu meiner Linken. Ich taumelte hinüber und drückte die Klinke, aber die Tür war verschlossen. Mein Blick wanderte zwischen dem leuchtenden Tastenfeld neben der Tür und dem am Boden liegenden Joshua hin und her. Schnell wurde mir klar, dass ich ohne den Code auf diesem Weg nicht entkommen würde. Joshuas Körper regte sich nicht, aber ich ahnte, dass sich dieser Zustand sehr schnell ändern konnte. Ich musste fliehen, und zwar sofort, bevor er aufwachen würde.
Fieberhaft suchte ich nach einer Lösung. Seamus hat dich mit einem verborgenen Fahrstuhl in diesen Raum gebracht!, fuhr es mir durch den Kopf. Theoretisch musste ich also nur den Fahrstuhlknopf finden, und ich wäre gerettet. Da mein Sehvermögen aber immer noch zwischen „sturzbetrunken“ und „schemenhaft“ schwankte, presste ich kurzerhand meinen Körper gegen den kalten Putz und machte mich daran, die Wand abzutasten. Nach einigem Suchen fand ich tatsächlich einen Knopf, von dem ich aber nicht wusste, ob er einen Alarm auslösen oder den Fahrstuhl rufen würde. Mit dem Mut der Verzweiflung drückte ich ihn und sackte abermals unter schrecklichen Schmerzen zusammen.
Nach einigen Sekunden beendete das quietschende Geräusch sich öffnender Fahrstuhltüren mein angstvolles Warten. Hastig fischte ich meine Marke aus dem Mülleimer, schnappte mir meine Waffe und mein Handy und stolperte in den Fahrstuhl. Von meiner eigenen Geistesgegenwärtigkeit überrascht, atmete ich erleichtert auf nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn jemand einen dieser drei Gegenstände neben dem toten Sicherheitsdienstleiter des O’Halloran Tower gefunden hätte.
Kaum hatte ich den Knopf mit dem Abwärtspfeil gedrückt, ging ich zu Boden. Meine Beine hatten ganz offensichtlich genug und verweigerten mir nun endgültig den Dienst. Nach einer langen Fahrt hielt der Aufzug schließlich an, und ich blickte durch die geöffneten Türen in eine Personaltoilette. Vor mir stand ein kahlköpfiger Mann im schwarzen Anzug, der sich gerade die Hände wusch. Als er mich im Spiegel über dem Waschbecken bemerkte, fuhr er blitzartig herum und bespritzte sich durch den Schreck von Kopf bis Fuß mit Wasser. „Grundgütiger!“, stammelte er und schien zur Salzsäule zu erstarren.
Nach einigen Augenblicken hatte er sich wieder gefangen und hastete mit großen Schritten auf den Fahrstuhl zu, um die sich schließenden Türen offen zu halten. Dabei lehnte er sich so weit in die kleine Kabine, dass mir seine rote Seidenkrawatte ins Gesicht baumelte. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Miss? Ich bin Marty von der Rechnungsabteilung. Arbeiten Sie hier?“
Ich versuchte zu antworten, aber meine Zunge war so blutverklebt, dass ich ein paar Versuche brauchte, um ein schwer verständliches „Könnten Sie mir … aufhelfen?“ herauszuwürgen.
Mühevoll kämpfte ich mich mit Martys Hilfe wieder auf die Beine. „Mein Gott … das ist ja schrecklich!“, presste er hervor und glotzte mich an, als sei ich einem Horrorfilm entsprungen. „Vielleicht ist es besser, wenn Sie hier warten, während ich die Polizei rufe.“
„Keine Polizei!“, brummte ich und stützte mich mit einem Arm an der Wand ab. „Ma’am, so wie Sie aussehen, müssen Sie aber Anzeige gegen den Mistkerl erstatten“, mahnte Marty mich empört, woraufhin ich ihm mit einem Kopfschütteln klarzumachen versuchte, dass es sinnlos war. Ich wusste nur allzu gut, dass Seamus mich nicht nur wegen Hausfriedensbruch drankriegen würde, wenn diese Sache herauskam.
„Lassen Sie mich einfach gehen“, bat ich Marty mit zitternder Unterlippe. Noch immer schmerzte jedes Wort, und in meiner Seite machte sich ein Stechen breit, das unmissverständlich auf ein paar gebrochene Rippen hindeutete.
Trotz Tausend-Dollar-Anzug und handgefertigter Seidenkrawatte wirkte Marty absolut hilflos, als er mit fassungsloser Miene zur Seite trat, um mich aus der Toilette humpeln zu lassen. Auf dem Flur folgte ich dann den EXlT-Schildern, als seien sie Leuchttürme, die mich in den sicheren Hafen führen würden. Nach einer gefühlten Ewigkeit und Tausenden von grauen Treppenstufen stolperte ich aus einer Seitentür in den Verkehr des Yager Way hinaus.
„Danke, Herrscherin des Mondes!“, murmelte ich. Am liebsten wäre ich sofort auf dem Gehweg zusammengebrochen, um darauf zu warten, dass mich ein Streifenpolizist auflas.
Ich wusste, dass ich verloren hatte, und der Gedanke daran wollte mir überhaupt nicht schmecken. Realistisch betrachtet, gab es aber herzlich wenig, was ich in meinem Zustand hätte unternehmen können. Mich selbst zu bemitleiden oder eine Liste meiner schmerzenden Körperteile aufzustellen hätte relativ wenig gebracht.
„Luna?“
Panisch zuckte ich zusammen. Joshua? Unmöglich!’, fuhr es mir durch den Kopf, aber natürlich war es alles andere als unmöglich. Dann legte mir der Unbekannte von hinten eine Hand auf die Schulter, und ich schlug blindlings mit den Fäusten um mich. „Verdammt, Luna, ich bins doch!“ Als ich Dmitris tiefe Stimme erkannte, fiel meine Anspannung schlagartig von mir ab, und ich schwor mir, bei meinem nächsten Aufeinandertreffen mit Joshua Mackleroy die Welt von seiner hässlichen Visage zu befreien und ihn ein für alle Mal unter die Erde zu bringen.
„Ganz ruhig. Alles wird gut“, besänftigte mich Dmitri und hielt weiter meine Handgelenke fest. Nachdem ich einige Sekunden regungslos in sein Gesicht gestarrt hatte, brach ich zusammen wie ein Kartenhaus. Heiße Tränen schössen mir aus den Augen und strömten sturzflutartig über mein zerschlagenes Gesicht.
„Wer zum Teufel hat dir das angetan, Luna?“, fragte Dmitri mit vor Wut bebender Stimme, während er meinen Hals nach Verletzungen abtastete.
„Wie … wie kommt es, dass du hier bist?“, stammelte ich verdutzt, anstatt auf seine Frage zu antworten.
„Du selbst hast mich doch angerufen. Zumindest hat mein Telefon geklingelt, und deine Nummer stand auf dem Display. Als ich ranging, hat jemand über den O’Halloran Tower gesprochen, und dann waren ein paar hässliche Geräusche zu hören. Ich dachte mir sofort, dass du in Schwierigkeiten bist, also bin ich hergerast. Ist sonst alles in Ordnung bei dir?“
„Nein“, sagte ich bestimmt und war froh, endlich mal eine Frage mit nur einem Wort und ohne Schmerzen beantworten zu können. Dann fiel mir ein, dass ich Dmitri die Nacht zuvor angerufen hatte. Anscheinend hatte ich irgendwie die Wahlwiederholungstaste erwischt. „Im Moment bin ich Lichtjahre entfernt von alles in Ordnung. Ich fühle mich zum Kotzen, wenn du es genau wissen willst.“ Eine Sekunde später gab ich diesem Gefühl nach und beugte mich vornüber, um mich unter heftigen Krämpfen in die Abflussrinne der Straße zu übergeben. Dmitri war so nett, mir die Haare aus dem Gesicht zu halten. „Das sieht nicht gut aus, Luna. Du musst ins Krankenhaus.“
„Nein, nicht ins Krankenhaus“, widersprach ich vehement. In einem Krankenhaus würde mich Seamus im Handumdrehen aufspüren können, und dann würden seine Häscher kurzen Prozess mit mir machen.
Glücklicherweise musste ich nicht viel diskutieren, denn Dmitri nickte nur mit der für ihn typischen Seelenruhe und legte dann meinen Arm über seine Schulter, um mir beim Aufstehen zu helfen. An selbstständiges Gehen war nicht zu denken, und auch ein Humpeln mit Minischritten gelang mir nur, weil Dmitri kräftig nachhalf. „Wir müssen dort entlang, zum Motorrad. Ich habs vorn geparkt, weil ich nicht sicher war, ob ich noch ins Gebäude gehen muss.“
„Ich glaube, Irina wird es ganz und gar nicht gefallen, dass du mich gerade rettest“, murmelte ich. Wohlwissend, dass ich alles, was ich jetzt von mir gab, später auf meine stark blutende Kopfwunde schieben konnte, stöhnte ich dramatisch und legte noch einen drauf: „Falsche Schlange. Blondiert sich sogar die Haare …“
„Manchmal machst du es den Leuten in deiner Umgebung echt schwer, dir zu helfen, Luna“, erwiderte er. „Irina ist nicht so, wie du vielleicht denkst. Sie ist ein anständiges Mädchen.“
„Ich hasse sie“, brummte ich. „Sie und ihre dicken Plastiktitten. Mit den Dingern sieht sie aus, als wollte sie Wassermelonen durch den Zoll schmuggeln. Kann mir nicht vorstellen, dass die irgendwer für echt hält. Und wenn ich erst an ihre Zähne denke …“
„Wie wär’s, wenn wir jetzt einfach nur weitergehen, ohne zu reden, Luna? Dann sparst du Kraft und Luft, okay?“, versuchte er mich zu beruhigen, aber ich wollte mich nicht beruhigen lassen.
„Weißt du, was ich am meisten an ihr hasse?“, presste ich mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich hasse, dass sie mit dir zusammen sein kann und dich anfassen darf, während ich nur einen Tritt in den Arsch bekomme, dass du sie liebst …“ – und nicht mich, und ich hasse es, dass ich dich damals offensichtlich nicht fest genug an mich binden konnte. Obwohl ich die letzten beiden Gedanken am liebsten hinausgeschrien hätte, konnte mich nichts in der Welt dazu bringen, sie Dmitri gegenüber auszusprechen.
Als wir an seiner schwarzen Maschine ankamen, machten wir halt. „Luna“, seufzte Dmitri und begann in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel zu kramen. „Ich liebe Irina nicht. Sie ist meine Partnerin, und alles, was ich tue, tue ich, weil es mein Rudel von mir verlangt. Ich denke, dass das der Grund ist, warum du es nicht verstehen kannst.“
Unter anderen Umständen wäre ich nach einer solchen Erklärung von Dmitri vor Glück in die Luft gesprungen, aber die Schmerzen in meinem Körper ließen mich die ganze Sache weitaus nüchterner betrachten. Ich wusste, dass er recht hatte, und konnte es trotzdem nicht verstehen. Es wollte einfach nicht in meinen Kopf, warum seine Pflicht dem Rudel gegenüber mehr gelten sollte als sein Verlangen nach Liebe. Diese Logik, nach der man dem Rudel alles unterordnete, hatte mir noch nie eingeleuchtet – aber genau deshalb würde sich jemand wie Dmitri immer für jemanden wie Irina anstatt für mich entscheiden.
„Kanns losgehen?“, fragte Dmitri, während er den Schlüssel ins Zündschloss steckte.
Vor Schmerz stöhnend, krallte ich mich an seiner Lederjacke lest, als er mich sanft auf das Motorrad hob und dann meine Füße vorsichtig auf die Fußrasten setzte. „Okay, okay, gleich haben wir’s geschafft“, versuchte er mich zu beruhigen, da er mein Wehklagen fälschlicherweise für den Ausdruck meines Schmerzes hielt.
Dann schwang er sich selbst auf die Maschine und trat den Kickstarter durch. „Halt dich an mir fest, Luna, ich bring dich nach Hause.“