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Als ich nach dieser elend langen Nacht endlich zu Hause ankam, wollte ich nur noch in mein Bett fallen. Das kleine rote Cabrio in meiner Auffahrt ließ mich jedoch ahnen, dass meine Sehnsucht nach Ruhe und Entspannung vorerst unerfüllt bleiben würde. Mit einem Seufzer parkte ich den Fairlane auf dem Weg mit den zertretenen Muscheln und stieg aus dem Wagen. Ich fühlte mich schwach, verletzlich und leer – wie immer am Ende einer anstrengenden Schicht. Mit einem unbehaglichen Gefühl im Bauch stapfte ich zur Eingangstür, die erwartungsgemäß nicht verschlossen war.

Auf dem Sofa im Wohnzimmer saß Sunny mit einer Tasse Tee in der Hand und studierte die Zeitung vom Vortag. Als sie mich bemerkte, zog sie eine Augenbraue hoch. „Du bist aber spät dran heute …“

Die Wanduhr zeigte sechs Uhr morgens. Kein Wunder also, dass ich mich so erschöpft fühlte. „Was treibt dich denn her?“, fragte ich vorsichtig in einem möglichst neutralen Ton, während ich die Glock in der Schublade verstaute.

„Darf ich jetzt nicht mal mehr meine Cousine besuchen?“, erwiderte Sunny schnippisch und legte die Zeitung beiseite.

„Ich weiß nicht, ob du darfst“, brummte ich. „Kommt wahrscheinlich ein bisschen drauf an, was die Regeln von Rhoda Swann diese Woche besagen, oder?“

Sunnys Mundwinkel verzogen sich nach unten. „Du wirst wohl nie darüber hinwegkommen, dass unsere Großmutter mir erlaubt hat, wieder bei ihr einzuziehen, was?“

Krachend schmiss ich die Schublade zu. „Wie bitte? Erlaubt? Was redest du da, Sunny? Das ist ja eine wunderbare Verdrehung der Tatsachen! Rhoda hat mich zu diesem faulen Handel gezwungen, als ich sie um ihre Hilfe gebeten habe! Von erlauben kann gar keine Rede sein. Wundert mich aber nicht, dass sie sich in ihrem verschrobenen Gehirn die Dinge so zurechtlegt, wie sie sie braucht.“

„Luna“, sagte Sunny nach einem tiefen Seufzer. „Ob du es glaubst oder nicht, ich bin tatsächlich eine eigenständige Person. Und ja, ich treffe hin und wieder meine eigenen Entscheidungen!“ Empört sprang sie auf und marschierte in die Küche. Ich trottete hinter ihr her. Nachdem sie ihre Tasse abgespült und ins Regal gestellt hatte, drehte sie sich wieder zu mir um. „Du machst es dir doch am Ende genauso einfach wie Großmutter, indem du dir einredest, dass Rhoda mich manipuliert hat und ich nur deshalb wieder zu ihr gezogen bin. Du wirst dir wahrscheinlich nie eingestehen können, dass du auch eine Teilschuld an der ganzen Sache trägst.“

„Wow, du scheinst ja das gleiche Psycho-Blablabla-Handbuch gelesen zu haben wie meine geliebte Frau Dr. Merriman“, fauchte ich.

Sunny aber winkte nur ab. „Fang gar nicht erst an, Luna! Wenn du sauer auf die Welt bist, reagier deinen Ärger lieber an einem Sandsack ab.“

Nach drei Monaten ohne Streit und Zankerei hatte ich fast vergessen, dass meine Cousine absolut immun gegen meine Ekeltour war, was mich jetzt nur noch mehr in Fahrt brachte. Von ihrer äußerlichen Gelassenheit angespornt, stichelte ich weiter: „Und, wie läuft das Leben so im Pfefferkuchenhaus der alten Hexe?“

„Na, immerhin ist bis jetzt noch niemand eingebrochen oder hat versucht, uns zu töten“, entgegnete Sunny leise.

Auf diese Bemerkung war ich nicht gefasst gewesen. Leicht beschämt setzte ich mich auf das Sofa und tat so, als würde ich meine Fingernägel säubern, um Sunny nicht die Genugtuung zu geben, dass sie mich gerade kalt erwischt hatte.

„Du hast die Wohnung ja ganz gut in Schuss gehalten“, brach sie schließlich das quälende Schweigen und sah sich um. „Zumindest sind die Möbel alle noch intakt. Wie kommst du mit deinen Phasen klar?“

„Gut“, antwortete ich knapp, denn ich konnte es nicht ausstehen, wenn sie trotz der offensichtlichen Spannungen zwischen uns einfach so zum Small Talk überging. Andererseits war ich aber auch zu erschöpft, um mich ernsthaft mit ihr auseinandersetzen zu wollen. „Es ist ganz gut gelaufen in den letzten Monaten. Mit dem Tattoo, der Silberkette und dem Anhänger hab ich es weitestgehend im Griff gehabt.“

Sunny nickte. „Freut mich zu hören. Du weißt ja, dass du mich jederzeit anrufen kannst, wenn du Hilfe brauchst.“

„Bist du etwa nicht mehr davon besessen, mich zu heilen?“, wollte ich mit einem dünnen Lächeln wissen. Sunny schüttelte den Kopf.

„Spätestens beim Tod von Duncan hast du dich bewusst gegen diese Möglichkeit entschieden, Luna. Es war mehr als offensichtlich, dass dich der ständige Kampf gegen die Wandlungen über kurz oder lang umgebracht hätte. Tut mir leid, dass ich diesbezüglich so unnachgiebig gewesen bin.“

Und mir tut es leid, dass du mich mit dem ganzen Mist allein gelassen hast, dachte ich im ersten Moment, aber dann sagte ich beim Aufstehen: „Schwamm drüber, Sunny!“ Ihrem strahlenden Lächeln nach zu urteilen, war sie froh darüber, dass ich ihre Entschuldigung angenommen hatte.

„Wenn’s dir nichts ausmacht, würde ich mich jetzt gern etwas hinlegen. Ich bin nämlich ziemlich im Eimer, und morgen muss ich mit meinem neuen Partner eine Fetischbar besuchen. Da muss ich fit sein“, fügte ich gähnend hinzu.

„Partner?“, hakte Sunny nach. „Das ist ja mal was! Wer ist er denn?“

„Der er ist eine sie. Shelby O’Halloran, die kleine Hexe“, antwortete ich.

„O’Halloran?“ Sunnys Augen leuchteten auf. „Etwa von den O’Hallorans? Luna, das ist ja großartig!“

„Großartig ist zwar nicht das Adjektiv, das ich jetzt benutzt hätte, aber ja, sie ist schon eine ganz besondere Marke.“

„Kann ich sie vielleicht mal kennenlernen?“, drängelte Sunny. „Das wäre echt fantastisch. Die O’Hallorans sind quasi die Kennedys unter den Magiern.“

„Echt? Gibt’s bei denen etwa auch so viele Skandale um Alk, Pillen und Huren wie bei den echten Kennedys?“, spottete ich, woraufhin Sunny die Augen verdrehte.

„Du kannst sie doch nur nicht leiden, weil du auf alles komisch reagierst, was mit Magie zu tun hat.“

„Ich reagiere doch nicht komisch] Es ist einfach nur ein gut ausgeprägter Instinkt, der mich vor etwas bewahrt, das mich zu töten versucht, sobald ich ihm zu nahe komme.“ Magie war für mich wie Kryptonit für Superman – abgesehen davon, dass ich sie weder anwenden noch ausstehen konnte, wurde mir regelmäßig speiübel davon. Als Teenager war die Erkenntnis, dass man in Sachen Magie nichts mit mir anfangen konnte, die erste in einer langen Reihe von bitteren Enttäuschungen gewesen, die ich meiner Mutter und meiner Großmutter bereitet hatte. Während andere ihre alten Herrschaften mit selbst gestochenen Nasen-Piercings, ungewollten Schwangerschaften und schlechten Schulnoten zur Verzweiflung brachten, hatte ich, ohne es zu wollen, durch meine magische Unfähigkeit für Groll und Verbitterung bei meiner Familie gesorgt.

„Warum arbeitet eine O’Halloran eigentlich als Cop?“, fragte Sunny mit einem Stirnrunzeln. „Setzt sie etwa auch Magie ein, um ihre Fälle zu lösen?“

„Beim Thema Magie ist sie ein kompletter Blindgänger“, antwortete ich. „Sie hat nichts vom magischen Blut ihrer Familie abbekommen, und eine allzu große Begabung für die Arbeit als Cop scheint sie auch nicht zu haben.“

„Ich würde sie trotzdem gern mal kennenlernen und mir ihre Meinung zu einigen Zaubern anhören.“

„Dann komm doch in irgendeiner Nachtschicht auf das 24. Revier und folge einfach der quietschenden Barbie-Stimme. Ihr Gezeter ist nicht zu überhören“, brummte ich. „Sie ist unausstehlich.“

„Das bist du ja bekanntlich auch gern mal … Ihr zwei müsstet also eigentlich ganz gut zusammenpassen“, sagte Sunny mit dem für sie typischen, leicht rechthaberischen Ton und schaute auf die Uhr. „Au, jetzt muss ich aber los. Rhoda braucht meine Hilfe bei einer Sonnenzeremonie.“

„Klar, Rhoda kannst du natürlich nicht warten lassen“, zog ich sie mit einem bittersüßen Lächeln auf.

„Also …“, begann Sunny zögerlich, „… wenn du heute Nacht an irgendeinen gefährlichen Ort gehen musst, dann könnte ich dir eine Schutzrune geben. Ich lerne zwar noch, aber meine Grundlagentechnik ist schon ganz gut.“

Ich wollte gerade abwinken, als mir einfiel, dass ich nach Sunnys Besuch wieder allein in der Einsamkeit meiner vier Wände sein würde. Also holte ich einen Marker vom Schreibtisch an der Eingangstür und streckte Sunny mein rechtes Handgelenk entgegen. „Hier, nimm und kritzle drauflos“, forderte ich sie auf, obwohl es meiner Überzeugung entsprach, dass nichts auf der Welt – noch nicht einmal großkalibrige Schießeisen – einen gegen das wahre Böse zu schützen vermochte.

„Ich habe eine neue Zahnbürste und eine zweite Shampooflasche im Bad gesehen“, sagte Sunny beiläufig, als sie mit der Zeichnung begann, die je nach Perspektive entweder einem kritischen Knoten oder einem Haufen Schlangen in einem Schuhkarton ähnelte. „Schläft Trevor jetzt etwa hier?“

„Manchmal“, antwortete ich gleichgültig, während ich mich darauf konzentrierte, nicht gegen das äußerst unangenehme Gefühl anzugehen, das sich auf meiner Hand ausbreitete, als sich die Rune langsam mit Magie zu füllen begann.

„Ich habs schon nicht kapiert, als du ihn das erste Mal angeschleppt hast. Warum gibst du dich mit dem Typen ab? Du könntest dir locker was Besseres angeln“, nörgelte sie. Nachdem sie die Runen fertig hatte, zog sie einige Linien nach und schmückte die Ränder aus. Mein Arm fühlte sich mittlerweile an, als wäre er mit Unmengen von Nadelstichen malträtiert worden.

„Das ist mir schnuppe, Sunny Im Moment mag ich ihn eben … und überhaupt, seit wann hast du das Recht, über mein Privatleben zu urteilen?“, konterte ich.

„Ach, komm schon, Luna!“, sagte Sunny mit einem Lachen und stieß mir den Marker in die Rippen. „Das ist nicht dein Ernst, oder? Der Typ ist ein abgehalfterter Musiker, der dich dauernd Babe nennt, und er trägt Klamotten, mit denen sie ihn noch nicht mal in einem Video von den Nine Inch Nails auftreten lassen würden. Außerdem sind seine Songs lächerlich.“

„Gut so Sunny, lass einfach mal alles raus, was du wirklich über meinen Freund denkst“, sagte ich sarkastisch, aber Sunny ging nicht darauf ein. Stattdessen beendete sie konzentriert die Runenzeichnung und schaute mich mit großen Augen an, als ich ärgerlich meinen Arm zurückzog. „Ich werde Trevor nicht abschießen, nur weil dir seine Songs nicht anspruchsvoll genug sind. Du hasst doch sowieso alle Typen, mit denen ich zusammen bin. Dmitri konntest du auch nicht leiden.“

 

„Ich mochte Dmitri außerordentlich gern!“, protestierte Sunny, schnappte sich ihre Tasche und kramte ungeduldig nach den Autoschlüsseln. „Zumindest war er immer ehrlich.“

Als ich seinen Namen aussprach, war es so, als würde sich der Schmerz, der mich schon auf der Heimfahrt von den Blackburns gequält hatte, erneut in meinem Herzen ausbreiten und mir jeden Augenblick den Brustkorb zerreißen. „Unglaublich ehrlich ist er gewesen … so ehrlich, dass er davongelaufen ist und seitdem nichts mehr hat von sich hören lassen“, flüsterte ich frustriert. „Ein richtiger Held!“

„Das tut mir leid, Luna, aber da kann ich mich nicht mehr reinhängen. Sei vorsichtig heute Nacht, hörst du?“

Einige Sekunden nachdem sie die Hintertür geöffnet hatte und hinausgegangen war, rollte das Cabrio aus der Einfahrt. Ich blieb noch eine ganze Weile am Küchentisch stehen, hing meinen Gedanken nach und schaute der Sonne dabei zu, wie sie einen weiteren trostlosen Tag begann.