13
„Warum weinst du, Insoli?“
Ich war zwar relativ sicher, dass ich nicht träumte, sondern vor dem Badezimmerspiegel stand und mir die Zähne putzte, aber für einen Moment ließ mich die wohlklingende Stimme aus dem Nichts trotzdem an meinem Geisteszustand zweifeln.
Ruckartig drehte ich mich um und traute meinen Augen nicht. Vor mir stand Asmodeus. Sofort erstarrte ich vor Ehrfurcht und ließ die Zahnbürste fallen. Er war es tatsächlich – Asmodeus, der Dämon, der Verlassene, der Flüchtling aus dem jenseitigen Reich, wo sich nur die bösartigsten und mächtigsten Bewohner der Unterwelt aufhielten. Sein Körper war wie immer ganz und gar mit Gold überzogen, und seine Löwenpranken wirkten auf den kleinen Fliesen furchteinflößender denn je.
„Ich weine nicht“, brummte ich und spuckte den Rest der Zahnpasta ins Waschbecken.
„Sag mir, wer dich so verletzt hat, dass du Tränen vergießt!“
„Was geht dich das an? Willst du etwa losziehen und ihn verprügeln?“, gab ich ihm patzig zur Antwort, um uns beide davon zu überzeugen, dass ich überhaupt kein Problem damit hatte, gerade meinem größten Albtraum gegenüberzustehen.
Langsam atmete Asmodeus aus und hüllte mich in eine mit schwarzer Magie gefüllte Wolke aus goldenem Nebel, die mich von Kopf bis Fuß erschaudern ließ. Dann schüttelte er kurz den Kopf und durchleuchtete mit seinen Krokodilsaugen jeden Winkel meines Körpers. Augenblicklich überkam mich die erschreckende Gewissheit, dass er in meinem Geist wie in einem offenen Buch lesen und jeden meiner Gedanken erfassen konnte. Mit einem Blick schien Asmodeus alles sehen zu können, was in mir vorging.
„Du siehst es noch nicht, Insoli, aber um dich herum webt sich ein immer dichter werdendes Gespinst unterschiedlichster Gefahren, und bald wirst du darin gefangen sein wie ein Insekt im Netz der Spinne. Du bist auf dem Weg in einen Abgrund, aus dem es kein Entkommen geben wird, und ich rate dir, nicht deinen Impulsen zu folgen!“
„Pass auf, mein Lieber, ich mache dir einen Vorschlag: Ich krieche jetzt ins Bett und versuche zu vergessen, wie beschissen gerade alles ist, und du verschwindest einfach wieder unter dem Stein, unter dem du hervorgekrochen bist, okay?“, sagte ich laut, doch der Dämon lachte nur.
„Du könntest ruhig etwas netter zu mir sein, schließlich habe ich dir jüngst das Leben gerettet.“
Ja, ich war noch am Leben, doch zu welchem Preis? Nicht genug damit, dass ich Dmitri hatte opfern müssen, nein, nun kannte auch alle Welt mein dunkles Geheimnis. Zu übermäßigem Dank fühlte ich mich deswegen jedenfalls nicht verpflichtet. „Was willst du denn noch von mir?“, brummte ich. „Ich habe dich doch befreit … Kannst du nicht irgendwo anders deine Freiheit genießen?“
„Im Moment zieht es mich hierher. Später werde ich sicherlich an anderer Stelle wandeln. Ich bin ein freies Wesen, ganz und gar … befreit … wie du es nennst. Meine Warnungen magst du missachten, Insoli, aber ignoriere nicht, was sich vor deinen Augen abspielt!“
Gerade als ich ihm sagen wollte, dass ich mir lieber Stigmata oder irgendeinen anderen religiösen Mystery-Quatsch anschauen würde, als seinen kryptischen Prophezeiungen zu lauschen, verschwand Asmodeus ebenso plötzlich, wie er gekommen war.
Er löste sich ganz einfach in Luft auf und ließ nur den Gestank glimmender Holzkohle zurück.
Obwohl ich mich redlich bemühte, konnte ich mir keinen Krim auf den Besuch von Asmodeus machen. Hatte ihn etwa die Langeweile so sehr geplagt, dass er seine Spielgefährten jetzt sogar unter den Menschen oder vielmehr menschenähnlichen Wesen suchte, oder waren die Götter wider Erwarten auf die Idee gekommen, mir in diesen schwierigen Zeiten einen loyalen Dämon zur Seite zu stellen?
„Vielen Dank, ihr alten Knacker!“, murmelte ich, bevor ich einschlief, und sprach damit seit sehr langer Zeit einmal wieder so etwas wie ein Nachtgebet.
Wie lange mein Wecker schon geklingelt hatte, konnte ich nicht mehr genau sagen, aber als ich endlich meinen Arm hob, um das verdammte Ding auszuschalten, zeigten die blauen Ziffern auf der Anzeige 10 Uhr 30 an.
„Verdammt!“, schrie ich, sprang hektisch aus dem Bett und stolperte sofort über einen Haufen dreckiger Jeans. „So ein verdammter Scheißkackdreck!“
Es blieben mir weniger als dreißig Minuten für den Weg ins Zentrum, um noch rechtzeitig zum Treffen mit Patrick O’Halloran zu kommen. Eigentlich war es ein Ding der Unmöglichkeit, aber ich musste es schaffen, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass einer der reichsten Männer der Westküste es besonders amüsant finden würde, wenn man ihn bei einem Termin warten ließ. Als ich mir dazu noch Shelbys nerviges Gezeter wegen meines Zuspätkommens ausmalte, war ich fest entschlossen, alle Gesetze von Zeit und Raum zu widerlegen.
Fünf Minuten später hatte ich mich angezogen – zumindest in dem Umfang, dass ich nicht wegen unsittlichen Verhaltens in der Öffentlichkeit verhaftet werden konnte. Auch meine wilde Morgenmähne war zumindest so weit gezähmt, dass man sie mit etwas gutem Willen für eine dieser Zerzaust-aber-sexy-Frisuren halten konnte. So richtig überzeugte mich mein Look jedoch nicht, deswegen brachte ich meine Haare dann doch noch schnell mit einer Haarklammer in eine akzeptable Form.
Ich nahm die etwas längere Strecke über den Expressway, um die zeitraubenden Staus auf der Siren Bay Bridge zu vermeiden, musste aber trotzdem diverse Verkehrsregeln brechen, um es gerade noch rechtzeitig in die Parkgarage des O’Halloran Tower zu schaffen. Die Uhr am Armaturenbrett verriet mir, dass ich noch genau zwei Minuten bis zu meinem Termin hatte.
„Miss!“, rief eine Stimme hinter mir, als ich gerade den Fairlane abschloss. Ich drehte mich um und sah einen pickelgesichtigen jungen Mann in blauer Uniform auf mich zustürzen, der so wild mit seinen Armen gestikulierte, dass er sich fast die Mütze vom Kopf schlug.
„Miss, Sie können hier nicht parken!“
Ich warf einen Blick auf den Fairlane – er stand genau zwischen zwei weißen Linien, und soweit ich es erkennen konnte, hatte ich weder auf einem Behindertenparkplatz gehalten noch einen anderen Wagen zugeparkt. „Das hier ist also kein Parkplatz?“
„Dieser Platz ist für Geschäftskunden der O’Hallorans reserviert“, antwortete der junge Mann mit einer unausstehlichen Arroganz. Sofort hatte ich beschlossen, dass ich mir als gestandene Mordermittlerin nicht mal im Traum das autoritäre Gehabe eines pubertierenden Parkplatzwächters gefallen lassen musste, und ging zum Gegenangriff über.
„Jetzt passen Sie mal auf, junger Mann, ich habe ein Meeting mit Mister O’Halloran, und zwar um elf. Wenn Sie so weitermachen, komme ich zu spät, und dann werden Sie mehr Probleme kriegen, als Sie sich vorstellen können.“
„Dass Sie ein Meeting mit Mister O’Halloran haben, möchte Ich doch stark bezweifeln, Miss.“ Seinen Worten ließ er ein hochmütiges Schnauben folgen, während er mich von Kopf bis Fuß musterte. Ich folgte seinem Blick und konnte mir gut vorstellen, wie meine zerrissene Diesel-Jeans und das Dead-Kennedys-Shirt auf ihn wirken mussten. Eigentlich konnte er froh sein, dass ich wenigstens in einem sauberen Aufzug unterwegs war und weder die sonst üblichen Blutspritzer noch die glibberigen Hirnreste unbekannter Mordopfer an meinen Klamotten klebten.
„Okay, dann schauen Sie doch mal, was ich hier habe“, sagte ich und zog die Polizeimarke aus meiner schwarzen Canvasjacke, die ich kurzerhand zu meiner neuen Lieblingsjacke erkoren hatte, nachdem mir meine Motorradlederjacke im Bete Noire geklaut worden war. „Sie behindern gerade polizeiliche Ermittlungen, Kleiner, und ich glaube, es ist in Ihrem ureigensten Interesse, langsam damit aufzuhören!“
„Das Ding kann genauso gut gefälscht sein“, antwortete er nach einem kurzen Blick auf die Marke frech, und ich dachte kurz darüber nach, ob es mir wohl größere Schwierigkeiten einbringen würde, ihn einfach bis zum Ende des Meetings in den Kofferraum meines Wagens zu sperren.
„Luna!“, schrie eine Frau in grauem Wollrock und Power Blazer von der Garageneinfahrt in unsere Richtung. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass es Shelby war, die da auf uns zuhastete.
„Hi, Shelby, kannst du dem Herrn hier bitte erklären, was Sache ist?“, begrüßte ich sie leicht verärgert.
„Hören Sie mal, Vaughn, Detective Wilder ist meine Partnerin. Wir haben einen wichtigen Termin bei meinem Onkel. Und wie Sie sich denken können, wird er ganz bestimmt nicht erfreut darüber sein, dass Sie uns hier grundlos aufhalten!“, schimpfte Shelby mit dem übereifrigen Garagenwächter.
Vaughn schluckte. „Ihr … Ihr Onkel?“, stammelte er und erbleichte von einem Moment auf den anderen, als wäre er eine dieser Cartoonfiguren, die in Sekundenbruchteilen ihre Hautfarbe wechseln können.
„Onkel Patrick, nicht Onkel Seamus“, beruhigte ihn Shelby und verdrehte ihre Augen. „Und passen Sie mir gut auf das Auto des Detective auf, verstanden?“
Bei diesen Worten setzte Vaughns Atmung wieder ein, und er nickte so heftig mit dem Kopf, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn er im nächsten Augenblick von seinem Hals abgerissen und die Garageneinfahrt hinuntergerollt wäre. „Natürlich Ma’am … äh … Miss O’Halloran! Tut mir leid, Detective Wilder, ich dachte eigentlich, dass Sie nicht so … na ja, ich habe gedacht, dass Sie mehr wie Miss Shelby aussehen würden.“
Beleidigt riss ich ihm seine alberne Schirmmütze vom Kopf und warf sie in hohem Bogen in die Ecke. „Das ist die Strafe für Ihre dämlichen Bemerkungen.“
Während Vaughn seiner Mütze nachstürzte, bugsierte mich Shelby in den Aufzug und drückte den Knopf der zweiundvierzigsten Etage. „Du kannst froh sein, dass wir Patrick treffen und nicht Onkel Seamus …“
„Wieso? Hat dein Onkel Seamus etwa eine Falltür in seinem Büro, durch die er Zuspätkommer in das Haifischbecken stürzen lässt?“
Shelby strafte mich mit einem todernsten Blick.
„Sony, ich hab ein bisschen verschlafen“, versuchte ich sie zu beschwichtigen. „Die Gehirnerschütterung von gestern hat mich ganz schön mitgenommen.“ Natürlich waren der verlogene Dmitri und seine kleine ukrainische Importbraut auch nicht ganz unschuldig an meinem Zustand, aber da ich mir geschworen hatte, ihn zu vergessen, wechselte ich lieber das Gesprächsthema.
„Wenn Seamus und Patrick deine Onkel sind, wer ist dann dein Vater?“
„Mein Vater ist Thomas O’Halloran“, erwiderte sie knapp. „Er und meine Mutter sind beide früh verstorben.“
Verhext und zugenäht! Warum war ich nicht selbst daraufgekommen? Schließlich kannte jeder in Nocturne City den Namen Tommy O’Halloran und die dramatische Geschichte, wie er völlig betrunken von der Siren Bay Bridge in die Tiefe gestürzt und in dem eisigen Wasser ertrunken war. „Tut mir leid“, sagte ich aufrichtig, aber Shelby zuckte nur mit den Schultern. „Ich war erst zehn, als es passiert ist. Wie gut kennt man in dem Alter seine Eltern schon?“
Als wir uns der zweiundvierzigsten Etage näherten, wurde der Fahrstuhl langsamer. Gedankenversunken folgte ich dem Aufleuchten der letzten verbleibenden Etagenziffern, bis mein Blick auf eine sigillenhafte Wächtermarkierung fiel, die oberhalb der Anzeige in die Holzverkleidung des Fahrstuhls geritzt worden war. Augenblicklich überkam mich ein leichtes Unbehagen, das sich zu einem angstähnlichen Gefühl steigerte, als ich ein weiteres dieser Zeichen direkt über der Tür entdeckte. Um einen Ort dauerhaft mit derartigen Wächtermarkierungen zu schützen, bedurfte es einer großen magischen Kraft, wie sie nur ein Casterhexer besaß, der nicht nur über jahrzehntelange Erfahrung, sondern auch über ein enormes Talent verfügte. Welcher der Brüder für die Zeichen verantwortlich war, konnte ich nicht sagen, aber für ein flaues Gefühl in meinem Magen sorgten sie so oder so.
„Du zitterst ja, Luna. Ist dir etwa kalt?“, fragte Shelby besorgt.
„Nein. Es ist wegen dieser Zauber. Ich kann sie nicht ausstehen“, antwortete ich und zeigte auf die Wächtermarkierungen.
„Gewöhn dich lieber dran“, bemerkte Shelby trocken, als der Fahrstuhl mit einem Bing anhielt und langsam seine Türen öffnete, „sie sind nämlich überall.“
Spätestens als ich die Decke in Patrick O’Hallorans Lobby vor seinen Büros sah, wusste ich, dass Shelby nicht gelogen hatte. In den Stuck war ein sich systematisch wiederholendes Alphabet runenhafter Zeichen eingearbeitet, das wohl nur in zweiter Linie dekorativen Zwecken diente. Seine eigentliche Funktion bestand darin, einen effektiven Schutzzauber für die Büroräume und die sich darin befindlichen Personen aufzubauen.
Rechts vom Fahrstuhl stand ein nobler Schreibtisch, hinter dem eine Vorzimmerdame saß, die mich sofort nach unserem Eintreten mit skeptischem Blick zu mustern begann.
„Ist Patrick bereit für unser Treffen, Vera?“, fragte Shelby die junge Dame, die so kühl und schön wie ein Gletscher wirkte.
„Einen Augenblick noch bitte, er ist gleich so weit“, antwortete Vera mit einem oberflächlichen Lächeln. Ich konnte förmlich spüren, wie sich die Spannung zwischen den beiden erhöhte, hatte aber keine Ahnung, was der Grund dafür war.
Hinter Vera prangte eine riesige Version des Firmenlogos der O’Halloran Group an der Wand, das ich von den Schecks meiner Bank kannte. Eigenartigerweise konnte ich es nicht lange ansehen, ohne blinzeln zu müssen, und ich brauchte einige Sekunden, um den Grund für meine Missempfindung zu erkennen. Ganz offensichtlich war das Logo an der Wand ebenfalls eine Schutzmarkierung und löste wie alle magischen Gegenstände eine allergieartige Abwehrreaktion in meinem Körper aus. Langsam dämmerte mir nun, dass ich nicht nur wegen meines mickrigen Gehalts ständig Kopfschmerzen beim Anblick meiner Kontoauszüge bekam.
„Beeindruckend, nicht wahr?“, sagte Shelby und stupste mich mit dem Ellbogen in die Seite. Vera hatte mittlerweile aufgehört, mich wie eine Aussätzige anzustarren, und tippte wieder irgendwelche Sachen in ihren eleganten silberfarbenen Computer.
„Es ist etwas … üppig ausgefallen für meinen Geschmack.
Aber ich schätze, das soll so sein, damit sich eine bestimmte Personengruppe bei seinem Anblick vor Angst gehörig in die Hosen macht.“
Kaum hatte ich ausgesprochen, riss Vera den Kopf in die Höhe und strafte mich mit einem pikierten Blick. „Ist was?“, fragte ich hocken, aber anstatt zu antworten, atmete sie nur mit einem genervten Schnauben geräuschvoll aus und blickte dann wieder auf ihren Computer.
„Kümmer dich nicht um sie“, flüsterte Shelby. „Sie sitzt nur liier, weil sie die Großnichte von Onkel Seamus ist. Herrliche Vetternwirtschaft, was?“
„Sie scheint etwas nervös zu sein, wie einer dieser Yorkshire Terrier“, bemerkte ich diplomatisch.
„Ach was, Yorkshire Terrier … sie ist einfach nur ein hinterfotziges Miststück“, bekannte Shelby freimütig und biss sich im nächsten Moment verlegen auf die Unterlippe. Ich blinzelte vergnügt, aber meine Partnerin senkte beschämt den Blick, als würde sie sich am liebsten sofort den Mund mit Seife auswaschen.
Um die Wartezeit zu verkürzen, ahmte ich Vera nach, die ständig mit entnervter Miene schnaubend Luft holte, und atmete zu diesem Zweck tief durch die Nase ein. Shelby roch nach Teebaumöl, unter dem neben einem Hauch teurer Kosmetikartikel auch der typische nichtssagende Geruch eines gewöhnlichen Menschen hervorkroch. Vera hingegen verströmte einen eigenartig prickelnden Geruch, und auch das Blut in ihren Adern hatte eine fremdartige und weitaus schärfere Note.
„Jetzt versteh ich“, flüsterte ich Shelby zu. „Sie ist eine Hexe und du nicht. Kleine Rivalität unter Verwandten mit unterschiedlich viel magischem Blut in den Adern, oder was läuft zwischen euch beiden?“
Vera schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. „Bei diesem Getuschel kann ich mich unmöglich konzentrieren!“
„Ach, halt doch die Klappe, Vera!“, gab Shelby zurück. „Wenn du tatsächlich so genervt von uns bist, wie du tust, dann sag doch einfach Patrick endlich Bescheid, dass wir warten.“ Veras Gesicht lief leicht rosafarben an. Sie zögerte einen Moment. Dann verdrehte sie die Augen, drückte eine der vielen Tasten ihres Telefons, und einen Augenblick später ertönte eine geschmeidige Männerstimme durch den Lautsprecher des Apparats. „Schicken Sie bitte meine Lieblingsnichte rein, Vera. Danke!“
Kaum gaben die lichtundurchlässigen Glastüren am Ende der Lobby den Weg ins Innere von Patrick O’Hallorans Büro frei, marschierte Shelby los, ohne Vera eines weiteren Blickes zu würdigen.
„Passt irgendwie, dass sich Shelby mit einer Ihres Kalibers umgibt“, zischelte Vera mehr zu sich selbst als zu mir. Augenblicklich machte ich auf dem Absatz meines Stiefels kehrt, stützte meine Hände auf Veras Schreibtisch und fixierte sie. „Was genau meinen Sie mit einer meines Kalibers?“
Ihr Mund verzog sich zu einem Grinsen. „Ich meine damit, dass sich Shelby offensichtlich gern mit minderwertigen Wesen und Leuten aus den unteren Schichten einlässt, um ihren … äh … Makel auszugleichen.“
Noch vor ein paar Jahren – oder sagen wir lieber: Noch vor sechs Monaten hätte ich Vera nach dieser Antwort, ohne zu zögern, das Grinsen aus ihrer Visage geprügelt. Mittlerweile hatte ich derartige Auseinandersetzungen aber einfach nur satt. Außerdem war ich Shelbys Gast und wusste, dass uns ihr Onkel nicht helfen würde, wenn ich das Gesicht seiner rassistischen Sekretärin in einen formlosen Fleischklumpen verwandelte. Anstatt Hand anzulegen, zeigte ich lediglich kurz auf die spitzen Schuhe an ihren Füßen und sagte: „Nur ein kleiner Hinweis, meine Liebe, echte Manolo Blahniks haben keine angemalten Plastikabsätze. Ich hoffe nur, dass Sie nicht den vollen Preis dafür bezahlt haben, sonst würde man nämlich denken, dass Sie – äh, wie sagt man doch so schön – nicht die Allerhellste sind.“
Das schien der eiskalten Vera gehörig die Sprache zu verschlagen. Reglos starrte sie mich mit einem leicht dementen Gesichtsausdruck an und schien den Mund gar nicht wieder zuzukriegen. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen folgte ich Shelby, die vor dem Eingang zu Patricks Büro, einer Holztür mit eingelassener Stahlfrontplatte, stehen geblieben war. Kopfschüttelnd fuhr sie sich mit der linken Hand übers Gesicht, während sie mit der rechten klopfte. „Sony, Luna, aber weder Vera noch der Rest meiner Familie kann besonders gut mit Menschen umgehen, die nicht das magische Blut haben“, entschuldigte sich Shelby. Ihr angewiderter Gesichtsausdruck wirkte fast so, als würde sie vollstes Verständnis dafür haben, wenn ich aufgrund dieses Vorfalls nicht mehr mit ihr an einem Tisch sitzen wollte.
„Das nervt dich wirklich, was?“, fragte ich, woraufhin Shelby das Gesicht verzog.
„Sagen wir einfach, dass ich weiß, wie es ist, das schwarze Schaf zu sein.“
„Dann sind wir ja schon zwei, Partner“, murmelte ich, während sich die Tür öffnete.
In entspannter Haltung, mit ausgestreckten Beinen saß Patrick O’Halloran hinter seinem Schreibtisch. Mit seinem weißen Hemd und dem Ordentlich-aber-doch-strubbelig-Look seines grau melierten Haars wirkte er auf den ersten Blick legerer, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Nachdem wir eingetreten waren, stand er auf, begrüßte Shelby mit einer Umarmung und zwei Wangenküssen und streckte dann mir seine Hand entgegen. „Patrick O’Halloran, aber nennen Sie mich doch einfach Patrick. Shelbys Freunde sind mir immer willkommen.“
Beim Händeschütteln bemerkte ich, dass sein Griff nicht allzu fest, aber sehr bewusst gewählt war. Es schien fast so, als wolle er mich durch den Händedruck taxieren. Obwohl seine strahlende Erscheinung den Betrachter zu blenden wusste, ließen seine unnatürliche Solariumbräune und die kleinen Falten an Augen und Mund erahnen, dass sein Aussehen in natura nicht ganz so perfekt war, wie uns die Medienbilder glauben machen wollten.
„Wir sind alle sehr stolz auf Shelby und ihre beruflichen Leistungen“, begann er das Gespräch. „Sie hat uns auch ein paar beeindruckende Dinge über Sie erzählt, Detective.“
„Onkel Patrick, du kannst aufhören mit den Schmeicheleien. Luna wird sie dir sowieso nicht abkaufen.“
Patrick lachte herzhaft, und seine schneeweißen Zähne strahlten dabei so perfekt, dass man sie gut und gern als Landebahn-Leuchtfeuer für kleinmotorige Flugzeuge hätte benutzen können. „Ich fürchte fast, dass du recht hast, mein Engel“, lenkte er ein. „Sie ist wirklich ein kluger Kopf, nicht wahr?“
„Oh, gewiss doch. Shelby ist eine wirklich tolle Partnerin“, heuchelte ich und behielt lieber für mich, dass sie mitunter so toll war wie ein lästiger Husten oder ein kläffender Köter.
„Wir wollten dich bitten, für uns die Finanzen eines Nachtclubs zu durchleuchten, Onkel Patrick“, kam Shelby auf den Punkt. „Allerdings kann ich dir leider keine Einzelheiten dazu erzählen.“
Mit einer Geste bedeutete Patrick Shelby, dass sie sich nicht weiter zu rechtfertigen brauchte. „Natürlich. Du weißt doch, dass ich alles für dich tun würde, schließlich bist du meine Lieblingsnichte.“
Shelby war sichtlich nervös und verlagerte alle paar Sekunden ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. Ich hingegen gab mir alle Mühe, meine entspannte Fassade aufrechtzuerhalten. Mit den Händen in den Jackentaschen, dem leicht gelangweilten Blick und der seitlich ausgefahrenen Hüfte hätte ich Eiswürfel spucken müssen, um meine Coolness noch zu steigern. Auf keinen Fall wollte ich mir anmerken lassen, dass ich Patrick O’Halloran eigentlich recht unheimlich fand. Mit dem maßgeschneiderten Hemd, der exklusiven Seidenkrawatte und dem sanften Händedruck wirkte er fast wie eine lebensgroße Ken-Puppe, die immer die richtigen Worte im richtigen Moment auf den Lippen hatte – eigentlich zu perfekt, um real zu sein.
„Der Laden heißt Bete Noire“, begann Shelby und gab ihm danach die Adresse. Patrick rief ein Datenbankfenster der Federal Trade Commission auf, gab Name und Anschrift des Clubs ein und erhielt die entsprechende Steuernummer. Dann drückte er die Wechselsprechtaste auf seinem Telefon, um mit seiner Sekretärin zu sprechen.
„Vera, können Sie bitte einen Bericht für die Steuernummer erstellen lassen, die ich eben aufgerufen habe?“
Nachdem sie etwas Unverständliches zurückgeplappert hatte, ließ er die Taste los und legte die Hände entspannt hinter seinen Kopf. „Setzt euch doch bitte, es wird einen Moment dauern. Du kannst mir ja in der Zwischenzeit erzählen, wie es dir in deiner neuen Stellung ergeht, Shelby.“
„Sehr gut“, antwortete Shelby mit einem unterwürfigen Ton in der Stimme. Je mehr Patrick aufdrehte, desto kleinlauter wurde seine Nichte. In gewisser Weise gefiel mir das sogar, da mir so für ein paar Augenblicke ihr Geplapper erspart blieb.
„Wie steht’s bei Ihnen, Luna?“, wandte sich Patrick an mich. „Ich kann mich noch daran erinnern, wie Ihr Gesicht im Frühjahr die Titelseiten sämtlicher Zeitungen zierte. Haben Sie es schon verdaut, dass Sie diesen Mann töten mussten?“
Nachdem ich das durch seine Frage verursachte Stechen in meiner Magengegend verdrängt hatte, suchte ich sein Gesicht nach Hinweisen auf eine böswillige Absicht ab, aber die kameraerprobte Maske offenbarte nichts von seinen wahren Gefühlen.
„Nun, Patrick“, begann ich zögerlich zu erklären, „ich habe fast jede Nacht Albträume, in denen ich wieder und wieder mit ansehen muss, wie einer Freundin die Kehle durchgeschnitten wird und ein anderer geliebter Mensch beinahe stirbt. Meist wache ich dann schweißgebadet von meinen eigenen Schreien auf und habe den Geschmack von Alistair Duncans Blut auf der Zunge. Hört sich das so an, als ob ich es schon verdaut hätte?“ Für einen Sekundenbruchteil flackerte etwas in seinen blassblauen Augen auf. Es war, als habe eine Art Kurzschluss das sonst so selbstsichere Gesicht des charmanten Strahlemanns durchzuckt.
„Hmm … für mich hört es sich so an, als könnten Sie sich glücklich schätzen, meine kleine Nichte an Ihrer Seite zu wissen“, scherzte er nach einer kurzen Pause und war wieder ganz die strahlende Ken-Puppe.
„Glücklich ist nicht gerade das Wort, das ich benutzen würde“, brummte ich. Shelby starrte mich empört an, aber ich sah keine Notwendigkeit mehr dafür, weiter die nette Luna Wilder zu spielen. Schließlich hatte ihr Onkel schon den Gefallen veranlasst, wegen dem wir gekommen waren.
Nach einigen Augenblicken wurde das betretene Schweigen von Vera unterbrochen, die, ohne zu klopfen, hereinkam. Sie trug einen schwarzen Bleistiftrock und eine transparente Bluse, die ihren fragilen Körper an den richtigen Stellen betonte. Als nekrophil veranlagter Mann hätte ich ihren klapperdürren Körper bestimmt ziemlich sexy gefunden.
„Vielen Dank, Vera!“, sagte Patrick, während er durch den Bericht blätterte und Shelby die oberste Seite reichte. Ich beugte mich zu ihr hinüber und sah jede Menge Daten auf dem Dokument, die aber nutzlos für uns waren, da es sich größtenteils um Angaben zu nicht gezahlten Steuern handelte.
„Der Name taucht auch auf den Geschäftsunterlagen im Club auf. Den kennen wir bereits“, sagte Shelby. „Dummerweise hat er keine der personenbezogenen Daten angegeben, die eigentlich von den Behörden gefordert werden. Das bringt uns also nicht weiter. Allem Anschein nach gibt es aber noch eine zweite Person, eine Art Mitinhaber. Hier steht, dass er vor fünf Jahren gemeinsam mit dem Eigentümer einen Kreditantrag bei der Bank meines Onkels gestellt hat … sein Name ist Benny Joubert.“ Der Bankangestellte, der den Antrag damals bearbeitet hatte, war so umsichtig gewesen, eine Ausweiskopie beizufügen, von der uns nun ein Gesicht mit kantigem Kiefer, zackigem Bürstenhaarschnitt und kleinen, feindseligen Augen anstarrte.
„Bingo“, murmelte ich und stopfte die Ausweiskopie in meine Jackentasche.
„Du kannst doch nicht einfach …“, wollte Shelby einwenden, aber Patrick unterbrach sie, indem er abwinkte.
„Ist schon in Ordnung. Nehmen Sie es nur mit, wenn es Ihnen weiterhilft.“
„Vielen Dank, Onkel Patrick!“, leitete Shelby beim Aufstehen die Verabschiedung ein. „Jetzt haben wir dir aber genug von deiner kostbaren Zeit gestohlen.“
„Sei nicht albern, Shelby!“, erwiderte Patrick. „Wenn wir hier fertig sind, werde ich euch beide zum Essen einladen. Ich sehe dich sowieso viel zu selten.“
„Verflixt! Da fällt mir ein, dass ich mit Muffy und Jody in einer Stunde zum Badminton verabredet bin“, wandte ich mit einem Fingerschnippen ein. „Das nächste Mal komme ich aber bestimmt mit zum Essen.“
Mit einem überraschend energischen Griff klammerte sich Shelby an meinen Arm und fügte ihrerseits hinzu: „Wir haben wirklich alle Hände voll zu tun mit diesem Fall, Onkel Patrick. Sony!“
„Nein, nein, nein“, entgegnete Patrick und schüttelte den Kopf, während er aufstand und sich sein Jackett vom Kleider- Ständer hinter dem Schreibtisch schnappte. „Ich dulde keine Widerrede, Ladies. Wir treffen uns in zehn Minuten bei meinem Auto, und dann entführe ich euch zu diesem großartigen Fish and-Chips-Restaurant am Hafen, wo wir uns bei einem kleinen Plausch entspannen werden.“
„Okay“, gab sich Shelby mit hängenden Schultern geschlagen, „Dann treffen wir uns unten.“