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Als ich endlich wieder in der Stadt war, tanzten die letzten Strahlen der untergehenden Sonne über die dunkle Silhouette der Siren Bay Bridge. Sanft tauchten sie mein Cottage in ein rosafarbenes Licht und umspielten die zarten Blüten der Kletterrosen, die die maroden Außenwände zierten. Im Haus schaltete ich als Erstes Handy und Festnetztelefon aus, warf meine Pistole auf den Küchentisch und riss mir auf dem Weg ins Bad die Klamotten vom Leib. Dann drehte ich den rostigen Warmwasserhahn der launischen Mischbatterie so weit wie möglich auf, um mir Joshuas Gestank vom Körper zu waschen.

Eine halbe Stunde später war ich zwar sauber und roch nach Teebaumöl und Aprikose, aber meine finsteren Gedanken hatte ich unter der heißen Dusche nicht loswerden können. Seit Ewigkeiten hatte ich mich nicht mehr so verwirrt, wütend und müde zugleich gefühlt. Wie hatte es Joshua wagen können, mich dominieren zu wollen? Und wieso um alles in der Welt war ich darauf hereingefallen? Bisher hatte ich mich immer als eine stolze Insoli gesehen, die vor niemandem das Haupt senkt. Außer vor dem Mann, der dich zu dem gemacht hat, was du jetzt bist, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf.

Ich stieg aus der Badewanne, wickelte mein Haar in ein Handtuch, bedeckte meinen Körper mit einem zweiten und kickte die herumliegenden Kleidungsstücke in Richtung Wäschekorb. Ordnung und Sauberkeit waren Sunnys Aufgaben gewesen, ich zog es vor, meine Zeit mit all den anderen Dingen außer Aufräumen und Putzen zu verschwenden.

Die Sache mit Joshua bereitete mir weiterhin Kopfzerbrechen – wenn er tatsächlich noch einen derart großen Einfluss auf mich ausübte, dass er mich dominieren und durch seinen bloßen Blick gefügig machen konnte, hatte ich ein verdammt großes Problem. Nicht nur, dass mein Status als freie Werwölfin dahin wäre, auch meinen Job bei der Polizei könnte ich dann an den Nagel hängen. In dem Moment, in dem sich unsere Blicke in der Lodge begegnet waren, hatte ich all das aufs Spiel gesetzt, was mir bisher lieb und teuer gewesen war.

Hex noch mal!

Verbittert kramte ich nach einer alten Flasche Scotch, die als Partyüberbleibsel seit Urzeiten in dem Schränkchen unter dem Waschbecken lagerte. Ich hatte für heute nur noch ein Ziel: mich hemmungslos zu betrinken. Gerade als ich zu einem ersten Trostschluck ansetzen wollte, hörte ich plötzlich Stimmen von unten. Vor Schreck fast erstarrt, stellte ich die Flasche behutsam ab und reckte die Nase in die Höhe, um Witterung aufzunehmen. Mein ausgeprägter Geruchssinn verriet mir, dass es sich um drei Personen handelte – zwei weiblich, eine männlich –, die alle den intensiven Moschusgeruch von Werwölfen verströmten. Einbrecher! In meinem Haus! „Wer immer ihr auch seid, gleich werdet ihr es fürchterlich bereuen, einfach so in meine Wohnung zu spazieren“, murmelte ich vor mich hin, während ich barfuß die Treppe hinuntertappte. Auf der letzten Stufe holte ich tief Luft, ballte entschlossen die Fäuste und stürmte schreiend in die Küche. „Was zum Teufel habt ihr in meinem Haus zu suchen?“

Irina, Sergei und Yelena unterbrachen ihr Flüstern und beäugten mit amüsierten Blicken meinen Aufzug, der immer noch aus zwei flauschigen Badehandtüchern mit rosa und weißen Streifen bestand. „Wir wollten dir mal einen Besuch abstatten“, sagte Irina mit einem Grinsen.

Ich setzte einen zornigen Blick auf und ließ das Gold der Wölfin in meinen Augen aufflackern. „Wie seid ihr überhaupt reingekommen?“

„Die Tür war offen“, antwortete Sergei schroff. Bei unserem ersten Treffen in der Gasse hinter dem Bete Noire hatte ich ihn nur flüchtig gemustert und nicht für voll genommen. Im hellen Licht der Küche erschien er mir durch seinen kräftigen Körperbau und das vernarbte Gesicht wie ein abgebrühter Mafiaschläger.

„Irina möchte mit dir sprechen“, sagte Yelena, die das komplette Gegenteil ihres unansehnlichen Partners war. Mit ihrem graziösen Körper und den feinen Zügen hätte ich sie sofort in die Schublade „ehemalige Balletttänzerin“ gesteckt, aber die Tätowierungen auf ihren Fingerknöcheln und die rauen Züge um ihren Mund wiesen auf ein weitaus härteres und äußerst entbehrungsreiches Leben hin.

. „Willkommen in der Zivilisation, Süße. Hier benutzen wir Telefone, wenn wir was voneinander wollen, und statten nicht wegen jeder Kleinigkeit Hausbesuche ab“, blaffte ich. Irina aber starrte mich nur wütend an und schlug mit der Faust wieder und wieder in ihre Handfläche, als wäre sie ein großmäuliger Fünftklässler, der einem ABC-Schützen auf dem Schulhof Prügel androhte.

„Okay, überspringen wir mal die Einleitung und reden Klartext“, kündigte Yelena an. Langsam schob ich mein linkes Bein vor und nahm so unauffällig wie möglich meine Kampfhaltung ein. Auch wenn ich nur mit zwei Handtüchern bekleidet war, hatte ich nicht vor, mir ihren Mist gefallen zu lassen.

„Bin ganz Ohr.“

„Irina hat uns erzählt, dass du Dmitri gezwungen hast, sich bei einem Kampf mit einem anderen Werwolf teilweise zu verwandeln, sodass die Infektion voll von ihm Besitz ergreifen konnte. Anscheinend legst du es darauf an, seinen Zustand weiter zu verschlimmern“, sagte Sergei. Dann holte er tief Luft, als hätten ihn diese zwei einfachen Sätze über alle Maßen erschöpft.

„Wir hätten dich gleich am Anfang unschädlich machen sollen“, erklärte Yelena. „Dmitri ist immer ein loyales Mitglied des Rudels gewesen, und daher haben wir seine Bitte, dich in Ruhe zu lassen, respektiert.“

„Das war ein Fehler“, fügte Irina überflüssigerweise hinzu.

Obwohl ich spürte, wie sich langsam Angst in meiner Magen -gegend ausbreitete, verdrehte ich nur die Augen und tat so, als hätte ich gerade tausend wichtigere Dinge zu tun, als mich mit ihnen zu unterhalten. „Nur damit ich das richtig verstehe: Es sind drei ukrainische Werwölfe nötig, um mir diese einfache Nachricht zu überbringen? Sprecht ihr unsere Sprache wirklich so schlecht?“

Luna, jetzt hast du es geschafft! Drei angepisste Werwölfe in deiner Küche, und du hast noch nicht mal einen Tanga an, den du zu deiner Verteidigung einsetzen könntest.

Ich versuchte mich zusammenzureißen und über einen Ausweg aus dieser Situation nachzudenken. Aber außer weiteren sarkastischen Kommentaren wollte mir partout nichts einfallen. Dann bemerkte ich, wie Sergei und Yelena seitlich ausschwärmten, während Irina sich direkt vor mir aufbaute. Aus den Tierdokumentationen im Nachtprogramm wusste ich, dass sie mich gerade einkreisten und einen Angriff auf ihre einsame Beute planten … und es gefiel mir gar nicht, die Beute zu sein!

„Ihr könnt mich nicht einfach so töten“, protestierte ich halbherzig. „Ich bin Polizistin, und falls ihr es noch nicht mitbekommen habt, in unserem Land steht es unter Strafe, einen Polizisten anzugreifen.“

Yelena stieß ein lautes Lachen aus. „Glaubst du wirklich, dass sich die Redbacks in irgendeinem Land um gewöhnliche Menschenbullen scheren würden, Insoli?“

Der Punkt ging an sie. Meine Lage war aussichtslos. Ich konnte weder kämpfen noch weglaufen, und auch der Versuch, sie mit meinem nackten Körper zu verwirren, um irgendwie an meine Waffe auf dem Küchentisch zu gelangen, wäre ein sinnloses Unterfangen gewesen. Durch meine Prügelei mit Dmitri während des Duncan-Falls hatte ich eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, wie schnell und unerbittlich seine Rudelgefährten mich bei der geringsten Bewegung zerfleischen würden.

„Hast du noch irgendetwas zu sagen?“, fragte Sergei – eher rhetorisch. Mit einer hochgezogenen Augenbraue gab er mir zu verstehen, dass ich lieber schweigen und meine bevorstehende Zerlegung nicht weiter hinauszögern sollte.

Wenn mir der Biss eines Serpent Eye eine gute Eigenschaft mit auf den Weg gegeben hatte, dann war es ein unerschütterlicher Überlebenswille. Selbst in den ausweglosesten Situationen fielen mir die verrücktesten Sachen ein, um meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. So auch dieses Mal.

„Ich werde ihn heilen“, rief ich hastig aus.

Irina erhob sich aus ihrer Lauerstellung und starrte mich ungläubig an. „Was?“

Ich schluckte und versuchte in dem selbstsicheren Ton zu antworten, der sich bei Verkehrskontrollen bewährt hatte. „Ich werde Dmitri von der Infektion mit dem Dämonenblut heilen. Ihr müsst mir nur etwas Zeit geben.“

Sichtlich überrascht hielt nun auch Yelena inne und blickte mich fragend an. „Warum bist du dir so sicher, dass du das schaffen kannst? Noch nicht einmal wir hatten Erfolg, und dabei sind wir sein Rudel. Du bist nur eine Insoli – eine einzelne Wölfin, die im Dreck der Gosse nach Essensresten schnüffelt.“

„Ich will dich wirklich nicht beleidigen, Yelena, aber vielleicht hat es gerade wegen eures Rudelquatsches nicht geklappt“, entgegnete ich ärgerlich, denn dumme Kommentare über Insolis brachten mich nach wie vor auf die Palme. „Ich verstehe ja, dass ihr eure Traditionen habt, aber meiner Meinung nach könnt ihr bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag eure Sprüche aufsagen und Salbeizweige über Dmitris Kopf schwenken und werdet trotzdem keinen Erfolg haben – denn kein Mensch und kein Werwolf ist in der Lage, einen Dämonenbiss zu heilen!“

Sergei fixierte mich mit seinen strengen Augen und kraulte sich dabei nachdenklich das Kinn. Ich erwiderte seinen Blick und bemühte mich nach Kräften, ihm die Stirn zu bieten. Bei unserem kurzen Blickduell ging es nicht darum, den anderen zu dominieren, sondern die Willensstärke des Gegenübers zu testen. Nach einer Weile senkte er seinen Blick, spuckte geräuschvoll auf den Küchenfußboden und sagte: „Gut, geben wir ihr eine Chance.“

Sofort begannen Yelena und Irina auf Ukrainisch zu lamentieren, aber Sergei würgte ihre Einwände mit einem kurzen Knurren ab.

„Meinetwegen“, murrte Irina und warf dabei schwungvoll ihre blonde Mähne zur Seite, wie man es von der verwöhnten Königstochter aus den Märchenfilmen kennt. „Soll sie es ruhig versuchen. Wird sicher ganz unterhaltsam, ihr beim Scheitern zuzusehen.“

„Halt bloß die Klappe, Prinzesschen, oder ich hetze dir ’ne Bluthexe auf den Hals!“, schnauzte ich sie an. „Diesmal hast du verloren, also find dich gefälligst damit ab.“

„Schlampe!“, brummte sie und stürmte hinaus. Als sie am Eingang das Fliegengitter hinter sich zuknallte, lief Yelena ihr eilig nach. Durch die offene Tür zog kalte Luft in die Küche und kletterte an meinen nackten Beinen empor, sodass ich am ganzen Körper zu zittern begann. Sergei rümpfte die Nase, als ob er etwas Verbranntes gerochen hätte, und erhob dann drohend den Zeigefinger. „Du hast bis zum nächsten Vollmond Zeit, Insoli!“

„Mach die Tür zu, wenn du rausgehst, und pass auf, dass sie dir nicht auf deinen ukrainischen Arsch knallt!“ Obwohl die alten Holzdielen unter seiner wuchtigen Statur eigentlich hätten aufstöhnen müssen, verließ er mit fast lautlosen Schritten die Küche. Kein Wunder, dass ich nicht gehört hatte, wie die drei hereingekommen waren.

Nachdem Sergei gegangen war, brauchte ich einen Moment, um zu begreifen, dass ich den Rudelältesten der Redbacks tatsächlich versprochen hatte, Dmitri von der Infektion eines Dämonen-Werwolf-Hybriden zu heilen, der bereits lange tot war! Und zu allem Übel hatte ich dafür nur etwas mehr als eine Woche Zeit.

Herrlich, Luna, du schaffst es wirklich immer wieder aufs Neue, dich selbst in die Bredouille zu bringen!

Nachdem ich die weiß-rosa gestreiften Badehandtücher gegen richtige Kleidung eingetauscht hatte, rief ich sofort Sunny an.

„Es ist ja nicht so, dass ich mich nicht freuen würde, von dir zu hören, Luna“, begrüßte sie mich zögernd, „aber dein Ton verrät mir, dass etwas unglaublich Schreckliches passiert sein muss.“

„Hmm, na ja …“, erwiderte ich vorsichtig.

„Raus mit der Sprache, was ist passiert?“

Ich seufzte. „Wäre besser, wenn du herkommst.“

Knapp fünfzehn Minuten später klopfte Sunny an die Tür. Für die weite Strecke von Battery Beach war das eine beachtliche Leistung.

„Du weißt, Sunny: Rasen tötet“, zitierte ich die Warnhinweise auf dem Highway. „Das wäre ein schöner Zweihundert-Dollar-Strafzettel geworden, wenn dich einer dieser gelangweilten Verkehrspolizisten erwischt hätte.“

„Und wenn schon“, antwortete sie. „Mir können sie nichts. Ich bin die Cousine einer Polizistin, schon vergessen?“

Unter anderen Umständen hätte ich vermutlich herzhaft darüber gelacht, dass mein schlechter Einfluss die sonst so vernünftige Sunflower Swann gründlich vom Pfad der Tugend abgebracht zu haben schien, doch im Moment konnte ich nicht mehr als ein müdes Grinsen hervorbringen. Mich belasteten einfach zu viele Dinge – zum Beispiel mein unmittelbar bevorstehendes und äußerst qualvolles Ableben, falls ich die Sache mit Dmitri nicht aus der Welt schaffen konnte.

Ich machte Sunny einen Kakao, da die Bestände ihres Jasmin-Weizengras-Dingsbums-Tees nun endgültig aufgebraucht waren, und erzählte ihr dann die Kurzversion meines Dilemmas. Dass ich Irinas Kopf nur zu gern mit einem Fleischklopfer zu einer hauchdünnen Filetscheibe verarbeitet hätte, ließ ich dabei aber lieber aus.

Sunny wirkte besorgt. „Luna, warum machst du nur solche Sachen?“

„Ich war halb nackt und stand kurz davor, gevierteilt zu werden. Allzu viele Möglichkeiten hatte ich da nicht.“

„Ja, ja, ja … aber hättest du ihnen anstelle einer Wunderheilung nicht etwas Geld oder irgendwelche Luxusgüter versprechen können? Gold vielleicht? Ich habe gehört, dass Gold auf dem russischen Schwarzmarkt sehr begehrt ist.“

„Erst einmal“, wandte ich ein, „sind die Redbacks Ukrainer, und zweitens bist du gerade keine große Hilfe.“

„Ich verstehe nicht ganz, was du von mir willst!“, rief Sunny verärgert. „Ich kann schließlich nicht einfach einen Heiltrunk für Dämonengift herbeizaubern!“

Absurderweise hatte ich insgeheim genau das gehofft, aber spätestens jetzt wusste ich mit Sicherheit, dass meine Situation nahezu aussichtslos war. „Gibt es überhaupt etwas, was wir machen können, Sunny?“

Nachdem sie sehr lange nachgedacht hatte, schüttelte sie schließlich den Kopf. „Tut mir leid, mir fällt einfach nichts ein.“

Wenigstens war sie nett genug, nicht zu betonen, dass es in diesem ganzen Chaos eigentlich kein Wir gab. Sollte ich versagen, würde Sunnys Leben garantiert auch ohne ihre impulsive, permanent schlecht gelaunte und shoppingsüchtige Cousine Luna Wilder weitergehen.

Der Verzweiflung nahe, legte ich die Hände auf meine brennenden Augen. Der Schmerz erinnerte mich daran, dass ich seit mindestens vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen hatte. „Hex noch mal! Das war s dann wohl. Ich bin geliefert.“

„Nur die Magie eines Dämons kann eine Vergiftung durch Dämonenblut wieder rückgängig machen“, erklärte Sunny. „Falls du also einen Blutzauber in petto hast und einen Dämon herbeirufen kannst, solltest du das tun, ansonsten …“

Selbst wenn mir tausend wütende Werwölfe an den Kragen gewollt hätten, wäre diese Option nicht infrage gekommen. Und selbst wenn, wäre das Vorhaben spätestens daran gescheitert, dass Asmodeus selten dann auftauchte, wenn er gerufen wurde. Genauer gesagt, war der Typ nie zur Stelle, wenn ich ihn brauchte. Vielleicht hätte ich mir beizeiten eine Art Hundepfeife für Dämonen zulegen sollen.

„Danke für deine Hilfe“, murmelte ich und legte meinen müden Kopf auf den Tisch. Ich wollte einfach nur noch schlafen – so etwa einen Monat lang – und beim Aufwachen merken, dass alles ein schrecklicher Albtraum gewesen war.

Sunny stand auf und klopfte mir auf die Schulter. „Keine Sorge, Luna, wir lassen uns was einfallen. Ich werde mal ein wenig in Rhodas Bibliothek recherchieren.“

„Meinst du, es bringt was, wenn ich den Bibliothekskatalog der Uni als Opfergabe für die Recherchegötter verbrenne?“, nuschelte ich in einer Mischung aus Verzweiflung und Sarkasmus.

Nachdem Sunny mit ihrem Cabrio davongefahren war, holte ich mein Handy und wählte Dmitris Nummer, die noch aus vergangenen Tagen in mein Gedächtnis eingebrannt war. Wie jede betrogene Frau hatte ich nach unserer Trennung in einem Anfall ohnmächtiger Wut nicht nur seine Nummer, sondern auch seine einzige E-Mail unwiederbringlich gelöscht. Leider konnte ich die Festplatte in meinem Schädel nicht so einfach von Dmitris Spuren befreien.

Beim ersten Mal wartete ich nicht einmal das erste Klingeln ab, sondern klappte das Handy sofort wieder zu. Beim nächsten Versuch schaffte ich es immerhin bis zum zweiten Klingeln, aber auch dann legte ich wieder panisch auf.

„Reiß dich zusammen, du bist keine vierzehn mehr!“, ermahnte ich mich, als ich die Nummer zum dritten Mal wählte. Diesmal gab ich Dmitri genug Zeit, um den Anruf anzunehmen.

„Ja?“, meldete sich die wohlvertraute Stimme, aber anstatt zu antworten, schwieg ich und dachte krampfhaft darüber nach, was ich ihm sagen sollte.

Hey, deine ukrainische Sexpuppe war gerade hier und wollte mir an die Gurgel. Jetzt muss ich dich heilen. Oder: Hallo, wie geht's? Kannst du dich eigentlich noch an den Dämonenbiss von Stephen Duncan erinnern? Wenn ja, sollten wir reden. Oder: Grüß dich, Dmitri, hier ist deine verrückte Ex, Luna. Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich das Dämonengift aus deinem Blut filtern muss, andernfalls verarbeitet mich dein Rudel zu Werwolffutter.

„Luna, ich weiß, dass du es bist. Deine Nummer steht auf meinem Display“, sagte Dmitri genervt. Sofort schoss mir die Schamesröte ins Gesicht, und ich ließ das Handy zuschnappen. Es war unglaublich … nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht hatten, war ich jetzt nicht einmal mehr imstande, ein einfaches Telefongespräch mit ihm zu führen. Peinlicher konnte es kaum noch werden. Aber was hätte ich ihm auch sagen sollen? Diese ganze Geschichte mit Irina war genauso absurd wie mein selbstmörderischer Deal mit den Ältesten.

 

Das Einzige, was mir noch immer nicht egal war, war Dmitri. Er bedeutete mir nach wie vor alles …

Empört darüber, in welche Niederungen ich mich als erwachsene Frau wegen einer enttäuschten Liebe begab, holte ich mir den Scotch und fing an, mich volllaufen zu lassen. Seit meinem Eintritt ins NCPD hatte ich keinen Alkohol mehr angerührt, und nun hoffte ich gegen besseres Wissen, mir die hässliche Realität schön saufen zu können. Als ich kurze Zeit später die Treppe hinaufstolperte und in mein Bett fiel, hatte sich nichts verändert. Ich war immer noch dieselbe Luna Wilder – eine unglücklich verliebte, um Job und Leben fürchtende, absolut erbärmliche Kreatur.