Joubert schnaubte verächtlich. „Ganz kalt, Lady! Vincent ist nicht smart genug gewesen, um mich zu linken. Der Bengel war ein verdammter Junkie; ständig pleite und zu nichts zu gebrauchen! Für Dope hätte der sich ein Kleid angezogen und einen Ziegenbock bestiegen, verdammt!“
„Jetzt hör mir mal gut zu, Joubert“, fuhr ich ihn an. „Wenn du mir nicht augenblicklich erzählst, wer Vincent ermordet hat -und ich weiß, dass du es weißt oder zumindest die Hintermänner kennst –, dann wird ganz Nocturne City in einem Flammenmeer aufgehen. Dein Dope kannst du dann ins Klo schütten, mein Freund, weil die Leute weder die Zeit noch die Kohle dafür haben werden, um in deinem Drecksladen zu koksen.“
Teilnahmslos stieß Joubert einen gelangweilten Seufzer aus und starrte zur Decke. „Warum Vincent?“, fragte ich mit leiser Stimme. „Er hat doch praktisch zur Mannschaft gehört. Was hat er getan, um so einen Tod zu verdienen?“ Die Erinnerung an Vincents zusammengerollten. Körper wühlte auch die unangenehmen Gedanken an seine letzten Minuten – diese sinnlosen Schmerzen auf dem Weg in einen qualvollen Tod – wieder in mir auf. Es war mir noch immer unbegreiflich, wie man einen Menschen so bestialisch ermorden konnte. Trotz meiner gewalttätigen Natur war mir nichts fremder, als einem anderen Lebewesen willentlich derartig grausame Schmerzen zuzufügen.
„Ich hab doch gesagt, dass er dauernd pleite gewesen ist“, erklärte Joubert und zog eine zerquetschte Zigarettenschachtel aus seiner Hosentasche. „In unseren Club kommen relativ viele Promis und gesellschaftliche Größen, wie man so schön sagt. Vincent, das Spatzenhirn, hat irgendwann beschlossen, dass es nicht ausreicht, diesen Leuten einfach nur Koks zu verkaufen.“ Langsam atmete er den stinkenden blauen Qualm aus. „Hinter unserem Rücken wollte er sich was mit dreckigen Videobändern und befleckten Höschen dazuverdienen …“
In diesem Moment machte es in meinem Hirn so laut klick, dass ich fast Angst hatte, Joubert würde es hören können. Schlagartig wurde mir klar, warum Vincent hatte sterben müssen. Nicht wegen eines Krieges zwischen verfeindeten Hexenclans. Nicht aus Rache, verletztem Ehrgefühl oder ähnlich hochtrabenden Beweggründen.
„Erpressung“, stieß ich hervor.
„Richtig“, sagte Joubert nickend. „Dieser verdammte Vollidiot … Das war ein richtig schöner Nebenerwerb, und dann kommt uns diese Schwuchtel dazwischen, und alles geht den Bach runter.“
„Wen hat er erpresst?“, fragte ich. „Gib mir die Namen, und wir lassen dich zufrieden.“ Ich sagte zwar wir, ahnte aber, dass Dmitri, der wie ein bedrohlicher Schatten im Türrahmen lauerte, andere Pläne hatte.
Überhastet stand Joubert auf und flüchtete mit ein paar schnellen Schritten aus meiner Reichweite. Durch seine nervösen Bewegungen verstreute er die Asche seiner Zigarette auf dem antiken Läufer, was ihn aber nicht weiter zu stören schien. „Das kann ich nicht tun. Das wäre schlecht fürs Geschäft!“
„Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit, Joubert“, knurrte ich ihn an. „Wenn du dich besser dabei fühlst, dann schreib doch einfach die Namen auf, und ich sage später, dass ich den Zettel zwischen den Liebesbriefen unseres gemeinsamen Freunds Dmitri gefunden hätte.“ Es musste jemand sein, der den O’Hallorans nahe stand; jemand, der angesehen und reich war; jemand, dessen Gesicht oft genug im Nocturne Inquirer auftauchte und dessen Ruf eine Titelstory über seine Vorliebe für Fetischclubs, Babymützchen und vollgesaute Windeln nicht überstehen würde.
Joubert zog lange an seiner Zigarette, und als nur noch der Filter übrig war, blies er den Rauch ins Zimmer. Dann schaute er sich im Wandspiegel an und stieß einen tiefen Seufzer aus.
„Ich werde nicht einfach so verschwinden, Joubert, also pack langsam aus!“ Kurz nachdem ich zu Ende gesprochen hatte, passierte es: Eben noch starrte Joubert mürrisch sein wenig attraktives Konterfei an, und nur einen Sekundenbruchteil später zerschlug er mit der Faust den Spiegel, der in tausend Scherben auf den Fußboden regnete.
„Bei den Hex Riots! Was soll das werden, Joubert?“, schrie Dmitri von der Tür.
Joubert aber antwortete nicht. Sein ganzer Körper war zur Salzsäule erstarrt. Einzig der Kehlkopf und der Kiefer bewegten sich, so als würde er uns etwas sagen wollen. Dann drehte er sich mit den starren Bewegungen eines Spielzeugsoldaten zu uns um und fuchtelte mit einer Spiegelscherbe in seiner Hand herum.
„Nein“, schrie ich. „Nein, Joubert, nicht!“
Mechanisch hob er die Hand mit der Scherbe. Es wirkte fast so, als sei er ein ferngesteuerter Roboter, der mit jeder Faser seines Körpers gegen die ihm aufgezwungenen Bewegungen anzukämpfen versuchte. Nach einem gepressten Stöhnen platzten mehrere Gefäße in seinen Augen, und das Blut verteilte sich von der Pupille ausgehend nach außen wie ein Tintenfleck auf Löschpapier.
Hilfesuchend drehte ich mich zu Dmitri um, aber der schrie mich nur an: „Nun tu doch endlich was!“
„Benny Joubert, lassen Sie die Scherbe fallen!“, forderte ich ihn auf und ging langsam mit erhobenen Händen auf ihn zu. Normalerweise würde man einem Menschen in dieser Situation erzählen, wie sehr sich das Leben lohne und was es noch alles zu entdecken gebe, aber ich hatte das ungute Gefühl, dass bei Joubert die Das-Leben-lohnt-sich-Nummer nach hinten losgehen würde. Der Mann war ein in die Jahre gekommener Drogendealer, der mehr Haare auf dem Rücken als auf dem Kopf hatte und in einem Haus wohnte, das so aussah, als hätten es die Flodders persönlich eingerichtet. Was hätte er noch entdecken sollen?
Sobald ich mich Joubert bis auf Armlänge genähert hatte, attackierte er mich mit der Spiegelscherbe.
„Verdammt!“, schrie ich auf und machte schnell einen Satz nach hinten, aber es war zu spät – die scharfkantige Scherbe hatte meine Jacke schon ruiniert. „Joubert …“, begann ich erneut auf ihn einzureden, „… wirf die Scherbe weg, verdammt!“
Er aber starrte mich nur weiter mit einem fürchterlich verzweifelten Blick aus seinen blutigen Augen an und schien nun vollkommen in seinem eigenen Körper gefangen. Als er sich die Spiegelscherbe an den Hals führte, bettelten seine von Panik erfüllten Augen ein letztes Mal um Hilfe, bevor er sich die Kehle durchschnitt.
Hinter mir schrie jemand, während Jouberts Körper zu Boden ging und sich sein Leben in einer rot glänzenden Lache auf den Boden ergoss. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass es Irina gewesen war, die nun ihr Gesicht gegen Dmitris Brust presste. Einige Augenblicke lang stand ich wie angewurzelt im Zimmer – unfähig, mich zu bewegen oder einen klaren Gedanken zu fassen –, aber dann ließ ich mich von meinen Instinkten leiten. Ich stürzte zum Tisch und griff mir einen Lappen, den ich mit aller Kraft auf die halbmondförmige Wunde an Jouberts Hals presste. Wie ich befürchtet hatte, war es schon zu spät, denn er hatte die Halsschlagader durchtrennt, aus der nun unaufhaltsam sein Lebenssaft spritzte, während der Puls unter meinen besudelten Händen mit jeder Sekunde schwächer wurde. Nach kurzer Zeit entwich auch der letzte Rest Leben mit einem spastischen Zucken aus seinem Körper.
„Verdammte Scheiße!“, brummte ich. Dann trat Dmitri an mich heran, half mir hoch und zog mich von der Leiche weg. „Warte im Auto auf uns!“, forderte er Irina auf und führte mich aus dem Esszimmer. Behutsam legte er seine Hände auf meine Schultern, sodass ich zu ihm aufsehen musste. Seine Berührung ließ ein Zittern durch meinen Körper laufen. „Was zum Teufel ist da eben passiert?“, fragte er.
„Ich denke, wir beide wissen genau, was passiert ist, Dmitri …“
Er neigte seinen Kopf etwas zur Seite und schloss die Augen. Offensichtlich wollte er das Geschehene genauso wenig wahrhaben wie ich. Was sich Joubert gerade angetan hatte – dieser fremdgesteuerte Selbstmord –, konnte nur mit Dämonenmagie erklärt werden. Diese Erkenntnis war äußerst beängstigend, denn abgesehen von der Tatsache, dass eigentlich niemand in der Lage sein sollte, diese Magieform anzuwenden, musste ich mich nun fragen, welche Hexe in Nocturne City so mächtig war, um mit der Magie eines Dämons den Selbstmord einer anderen Person zu erzwingen.
„Muss eine Bluthexe gewesen sein, oder?“, bohrte Dmitri und verstärkte mit seiner Frage das krampfartige Gefühl in meiner Magengegend. Insgeheim dankte ich es ihm aber, denn er hatte mich schon früher mit seiner Unnachgiebigkeit auf die richtige Fährte gelenkt.
„Denke schon“, antwortete ich, verschwieg ihm allerdings, dass die Blackburns als Täter nicht wirklich infrage kamen. Vincents Familie war alles andere als wohlhabend und gehörte eher nicht zum typischen Klientel eines exklusiven und vor allem teuren Fetischclubs. Selbst wenn Joubert sie mit Fotos oder Videos erpresst haben sollte, hätte es bei ihnen außer den Blutkonserven im Keller und den schwarzen Lederklamotten nicht sonderlich viel zu holen gegeben. Eine Erpressung war demnach zumindest in Bezug auf diese Familie auszuschließen. Victor Blackburns einziges plausibles Motiv für die Ermordung Jouberts hätte darin bestanden, den Mörder seines Sohnes Vincent über den Jordan zu schicken. Ich glaubte allerdings nicht daran, dass Joubert der Mörder gewesen war, und somit machte auch dieser Erklärungsversuch wenig Sinn. Die ganze Geschichte passte vorn und hinten nicht.
„Lass uns abhauen“, sagte ich zu Dmitri und versuchte, das wacklige Gerüst aus vagen Ahnungen und halbgaren Verdachtsmomenten vorerst zu verdrängen. „Ich muss jetzt unbedingt herausfinden, wer der andere Inhaber des Clubs ist.“
„Warte mal, Luna. Ich hätte zwar nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber sollten wir nicht lieber die Bullen rufen?“, fragte Dmitri.
Gedankenversunken wandte ich Jouberts Leiche den Rücken zu und ging in die Küche, um dem ekelhaften Gestank des Werwolfbluts zu entfliehen und mich konzentrieren zu können. Auch dort roch es unangenehm, aber erträglicher als in den anderen beiden Räumen. „Noch nicht“, antwortete ich. „Im Moment wäre es gar nicht gut, wenn mein Captain hier reinmarschieren würde.“ Ich wusste, dass ich in stressigen Situationen ein leicht feindseliges Verhalten an den Tag legte und andere Leute damit regelmäßig vor den Kopf stieß. Matilda Morgan würde ein derartiges Verhalten keinesfalls dulden – schon gar nicht an einem blutverschmierten Tatort wie diesem.
„Ja, da hast du wohl recht“, kommentierte Dmitri meinen Einwand. Dann öffnete er den Kühlschrank und zuckte mit angewidertem Gesichtsausdruck zurück. „Verdammt, ist das ekelhaft … das würde ja noch nicht mal als wissenschaftliches Experiment durchgehen!“
„Wenigstens sind es keine Köpfe oder Finger oder …“
Dmitri hob die Hand, um mir Einhalt zu gebieten. „Danke, Luna. Ich hab’s kapiert!“
„Warum hast du Irina zur Partnerin genommen?“, platzte es unvermittelt aus mir heraus. „Du hast doch genau gewusst, wie sehr mich das verletzen würde!“
Dmitri seufzte, lehnte die Stirn gegen die geschlossene Kühlschranktür und sagte dann mit dem Rücken zu mir gewandt: „Das haben wir doch alles schon besprochen, Luna.“
„Ich weiß, ich weiß …“, antwortete ich mit einer Verbitterung, die mich selbst überraschte. „Du musst tun, was dein Rudel verlangt. Schön an die Kette haben sie dich gelegt, was?“
Wutentbrannt schlug Dmitri mit der Faust gegen den Kühlschrank, sodass ich erschrocken zusammenfuhr. „Mir gefällt das genauso wenig wie dir, Luna!“, knurrte er und drehte sich abrupt zu mir um. Seine Augen hatten sich erneut pechschwarz verfärbt und loderten wie Feuer. „Ich hatte nach dem Kampf mit Duncan keine andere Wahl, als das Land zu verlassen. Denkst du etwa, mir ist das leichtgefallen?“
„Keine Ahnung, Dmitri“, erwiderte ich und war fest entschlossen, noch einen Schritt weiterzugehen. „Zumindest hast du dich ziemlich schnell getröstet, nachdem du mich abserviert hast, und bist mir nichts, dir nichts mit Irina in die Kiste gehüpft.“
Ich hatte mich selbst in Rage geredet und kümmerte mich nicht mehr darum, wie meine Worte bei Dmitri ankamen. Schließlich war er es gewesen, der auf meinen Gefühlen herumgetrampelt, mich verraten und kurzerhand gegen ein nuttiges Modell eingetauscht hatte, wie es sonst nur die schäbigsten Exemplare unter den gewöhnlichen Menschen draufhatten.
Dmitri knurrte und baute sich vor mir auf, sodass ich mit dem Rücken gegen die Spüle gedrückt wurde. „Lass mich zufrieden“, schrie ich und versuchte ihn wegzustoßen. „Na los, renn ihr nach und warte bei deiner Schlampe im Auto!“
Mit einem Brüllen packte er meine Arme so fest an den Handgelenken, dass sie schmerzten, und presste sie seitlich gegen meinen Körper.
„Nenn sie nicht Schlampe!“, flüsterte er.
„Wie soll ich sie denn sonst nennen?“ Vergebens drehte und wand ich mich, um seinem Griff zu entkommen, und hatte gleichzeitig alle Mühe, nicht von dem entschlossenen Blick aus seinen schmalen Augen dominiert zu werden. „Was ist diese Frau für dich, Dmitri? Etwa deine große Liebe?“, schnaubte ich voller Verachtung.
Dmitri presste mich gegen die Spüle, sodass ich ihm nicht mehr entfliehen konnte. Sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt, sodass mir unweigerlich der kräftige Geruch des Alpha-Männchens in die Nase stieg. Während ich einerseits am liebsten wild mit Händen und Füßen um mich geschlagen hätte, war ich andererseits kurz davor, zusammenzubrechen und wegen der verfahrenen Situation loszuheulen. Mir war klar, dass ich Dmitri noch immer wollte, egal, wie mies unser letztes Treffen gelaufen sein mochte. Weder bei Trevor noch bei meinen anderen menschlichen Exfreunden hatte ich diese unbändige Sehnsucht nach Zweisamkeit verspürt. Selbst Joshua hatte ich in meinen einsamsten Momenten nicht so sehr vermisst wie Dmitri.
„Was ist sie für dich?“, flüsterte ich noch einmal, während zwei Tränen meine Wangen hinunterkullerten. Dmitri drückte sein Gesicht gegen meine Schulter, atmete tief ein und witterte mich so, wie es ein Werwolfmännchen bei seinem Weibchen tat. „Sie ist nicht so wie du“, antwortete er schließlich mit leiser Stimme.
Er schien noch mehr sagen zu wollen, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. Stattdessen schlang ich meine Arme um seinen Nacken, presste meine Lippen auf seinen Mund und küsste ihn so leidenschaftlich, dass ich mir die Zunge an seinen Zähnen aufriss. Dmitri leckte das Blut von meiner Lippe und legte seine Hände um meine Hüfte, um mich noch näher an sich zu ziehen. Als er dann mit seinem Mund an meinem Hals hinabwanderte und dabei meine Haut so sinnlich liebkoste, wie ich es vorher nicht für möglich gehalten hätte, konnte ich nicht anders, als vor Lust laut zu stöhnen.
„Was zum Teufel geht hier vor?“, schrie Irina, die plötzlich hinter uns in der Tür stand.
Mit einer raschen Bewegung wich Dmitri einen Schritt von mir zurück. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst im Auto warten!“
„Aber du bist nicht gekommen, also wollte ich nachschauen, was los ist“, erklärte Irina mit bebender Unterlippe. „Aber ich sehe schon … Jetzt kannst du zu Fuß nach Hause gehen!“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und preschte aus der Küche. Als sie die Eingangstür erreichte, brach die angestaute Wut aus ihr heraus, und sie schlug die Tür so heftig zu, dass die Tassen im Küchenregal schepperten.
Mit hochrotem Gesicht zog ich mein T-Shirt gerade und versuchte, meine leicht zerzausten Haare in Ordnung zu bringen. Auch Dmitri ließ beschämt den Kopf hängen und scharrte mit seinem Fuß auf dem Linoleumfußboden herum. „Ich glaube, sie hat vergessen, dass wir eigentlich mit deinem Auto gekommen sind …“
„Tut mir leid“, sagte ich, obwohl das nicht annähernd der Fall war. Die gehässige Seite in Luna Wilder fühlte nun, da ich auf Irinas Gesicht den gleichen Schmerz gesehen hatte, den auch ich beim Anblick der beiden hatte ertragen müssen, eine nicht zu leugnende Genugtuung. Etwas in mir war ganz offensichtlich der Meinung, dass es das Miststück nicht anders verdient hatte.
Die weitaus größere und weniger gehässige Seite meines Bewusstseins hingegen fand es einfach nur unglaublich dumm, dass ich schon wieder völlig planlos meinen Instinkten gefolgt und in die Falle getappt war. Erneut wurde mir klar, dass ich auf diese Weise nie mit der notwendigen Professionalität und dem erforderlichen Abstand an meine Arbeit würde gehen können.
„Mach dir nichts draus“, sagte Dmitri. „Ist schließlich genauso mein Fehler gewesen.“
„Äh, ja …“, stammelte ich auf der Suche nach den passenden Worten und fügte dann nur ein erbärmliches „Ich denke, wir können gleich gehen“ hinzu.
Schau ihm jetzt bloß nicht in die Augen, Luna, und vergiss lieber gleich, was gerade fast passiert wäre. Das ändert nämlich überhaupt nichts!
Mit diesen Gedanken im Kopf machte ich mich daran, die Schubladen von Jouberts Küchenschränken zu durchsuchen. In den meisten war jedoch außer verdrecktem Geschirr und abgelaufenen Lebensmitteln nicht viel zu finden. Als ich schon fast aufgeben wollte, entdeckte ich in der Schublade nahe der Spüle eine 38er mit kurzem Lauf. Auf der Anrichte darüber stand ein altes Telefon mit Wählscheibe, neben dem ein Adressbüchlein lag. Es war beim Buchstaben C aufgeschlagen.
„Na also“, murmelte ich triumphierend. Entgegen den Darstellungen in Film und Fernsehen versteckten Kriminelle ihre kleinen und großen Geheimnisse in der Realität eher selten in mysteriösen Fächern unter dem Fußboden oder in längst abgelaufenen Cornflakes-Packungen. Meistens verhielten sie sich genauso dämlich wie Otto Normalverbraucher und ließen wichtige Dokumente und belastende Gegenstände für alle sichtbar herumliegen. Auf der aufgeschlagenen Seite des Adressbüchleins gab es nur zwei Einträge. Einer lautete Cat’s. Angesichts der begrenzten Interessen des Toten tippte ich darauf, dass es sich bei der Nummer um einen Stripclub oder ein Bordell handeln musste, und schenkte ihr keine weitere Beachtung. Meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich viel eher auf eine von Flecken übersäte Telefonnummer darunter. Mit der Handschrift eines Fünfjährigen hatte Joubert die Worte Carrie – Koffe Kart neben die Nummer gekritzelt. Koffe Kart war der Name des Cafés in der Lobby des O’Halloran Tower. Vor Vincents Autopsie-Ergebnissen hätte ich an einen Zufall geglaubt, aber so wie die Dinge lagen, wirkte diese Verbindung mehr als verdächtig auf mich.
Ich riss die Seite kurzerhand aus dem Adressbüchlein, steckte sie in meine Jackentasche und stupste auf dem Weg zur Tür Dmitri an. „Komm, wir gehen.“
Als wir draußen waren, meldete ich den Selbstmord per Handy an die Zentrale. Nachdem ich aufgelegt hatte, setzte ich mich in den Wagen. „Soll ich dich im Zentrum absetzen?“, fragte ich und hoffte insgeheim, dass er mein Angebot ausschlagen würde. Nach der Szene in der Küche würde mir eine halbstündige Autofahrt mit ihm schwer zu schaffen machen.
„Im Zentrum nicht, aber vielleicht kannst du mich in Waterfront rauswerfen?“ Waterfront war früher Dmitris Territorium als Rudelführer gewesen, gehörte jetzt aber seinem Nachfolger bei den Redbacks. Sich in dieser Gegend blicken zu lassen, war äußerst gefährlich für Dmitri und würde todsicher mit einer anständigen Tracht Prügel für ihn enden.
Als ich seine Bitte gerade mit einem Hinweis auf die in Waterfront lauernde Gefahr verneinen wollte, musste ich an Irina denken. Schmerzhaft fiel mir wieder ein, wie mich Dmitri bei ihrem Anblick von sich geschoben hatte.
„Sicher doch. Steig ein“, forderte ich ihn auf.