Und Mansfield ist ein Informant?“, fragte Emmanuel überrascht.

„Genau so sieht s aus“, antwortete ich mit einem Kopfnicken. „Wir sind sehr besorgt wegen einiger Transaktionen, die Seamus O’Halloran getätigt hat.“

„O’Halloran? Der Typ ist ein absoluter Sklaventreiber!“, empörte sich Emmanuel. „Erst letztes Jahr hat er das Krankengeld für die Belegschaft gekürzt.“

„Sehen Sie, Emmanuel, es gibt ganz offensichtlich noch mehr Gründe, warum ich mit Mr Mansfield sprechen muss“, redete ich auf ihn ein. Emmanuel blickte kurz zu seinem Kollegen, der in ein Magazin mit Bikinimodels auf dem Cover vertieft war, und reichte mir dann eine weiße Plastikkarte.

„Hier, nehmen Sie“, sagte er. „Damit kommen Sie bis in den vierzigsten Stock. Danach geht’s nur mit persönlichen Codenummern und speziellen Chipkarten weiter.“

„Vielen Dank für Ihre Hilfe!“, sagte ich aufrichtig.

„Nichts zu danken, Lady. Für mich ist es Belohnung genug, wenn ich eines Tages Zeuge werde, wie die Blutsauger hier in Handschellen rausgeführt werden“, antwortete Emmanuel. Ich hoffte natürlich, ihm seinen Wunsch im Fall von Seamus O’Halloran erfüllen zu können.

Die oberen Stockwerke des Towers lagen alle im Dunkeln, und auch Gerard Mansfield war schon lange nach Hause gegangen. Lediglich das einsam vor sich hin dudelnde Radio auf einem Putzwagen am Ende des Flurs der achtunddreißigsten Etage zeugte von Leben.

Geschwind stibitzte ich den Schlüsselring vom Wagen, an dem sich zu meinem unfassbaren Glück die Generalschlüssel aller Etagen befanden. Mit der Nummer 38 öffnete ich die Tür mit der Aufschrift MANSFIELD und schlüpfte in das dunkle Büro.

Mansfield schien ein mustergültiger Mitarbeiter zu sein:

Abgesehen von ein paar angekauten Stiften und einer Schachtel mit Kirschpralinen konnte ich auf seinem tadellos aufgeräumten Schreibtisch nichts entdecken, was mir weitergeholfen hätte. Mit einem Blick unter die Pralinenschachtel fand ich dann aber doch, was ich suchte – seine Schlüsselkarte. Ich hatte zwar ein schlechtes Gewissen, einen mir unbekannten Menschen auf diese Weise ausnutzen zu müssen, steckte die leicht klebrige Karte dann aber trotzdem in die Tasche und verließ das Büro.

Als ich es schon fast wieder in den Fahrstuhl geschafft hatte, kam völlig unerwartet die Putzfrau um die Ecke.

„Was machen Sie hier?“, blaffte sie mich an. „Diese Etage ist abends gesperrt!“

Ich ahnte, dass ich ihr kaum erzählen konnte, mich beim Ausliefern einer Pizza in der Etage geirrt zu haben. „No entiendo, senora“, sagte ich verlegen lächelnd und hoffte, dass sie mich gehen lassen würde.

„Sie bleiben hier“, erwiderte sie, wobei sie darauf achtete, laut und deutlich zu sprechen. Ganz offenbar war sie auch einer dieser Menschen, die glaubten, dass man nur laut und langsam genug reden müsse, damit Leute mit einer anderen Muttersprache sie verstehen würden. Ich stellte mich weiter dumm und drückte grinsend auf den Fahrstuhlknopf. „Nein, nein, nein“, plärrte sie mir ins Ohr. „Ich rufe jetzt erst mal den Sicherheitsdienst, und Sie bleiben so lange hier stehen, verstanden?“

Wenn sie jetzt Joshuas Leute alarmiert, bin ich erledigt, schoss es mir durch den Kopf. Mit einer schnellen Bewegung verlagerte ich mein Gewicht nach vorn und verpasste ihr einen rechten Haken unters Kinn. Noch bevor sie den Schmerz überhaupt spüren konnte, sank sie bewusstlos zu Boden.

Als ich ihren Körper in den Fahrstuhl gezerrt und mit Mansfields Schlüsselkarte die oberste Etage gewählt hatte, stellte ich mit Entsetzen fest, dass sich die Umsetzung meines noblen Plans zur Rettung der Menschheit mehr und mehr in einen erbärmlichen Raubüberfall mit jeder Menge unschuldiger Opfer zu verwandeln drohte. Kopfschüttelnd fragte ich mich, ob James Bond jemals so tief gesunken war, dass er eine Putzfrau hatte bewusstlos schlagen müssen.

Nach einer Weile öffneten sich endlich die Fahrstuhltüren und gaben den Weg zu Seamus’ Büro frei. Es war vollkommen dunkel, lediglich die Lichter der Stadt verliehen dem Raum einen unheimlichen Glanz. Dank meines geschärften Sehvermögens und der Erinnerung an meinen letzten Besuch erkannte ich neben Schreibtisch, Sessel und Bar auch die Wand wieder, hinter der sich der geheime Aufzug – und laut Shelbys Skizze auch das Privatapartment von Seamus – befand.

Nachdem ich das Licht angeschaltet und den Fahrstuhl mit der Putzfrau in die Kelleretage geschickt hatte, schob ich die Wandverkleidung zur Seite und legte die geheimnisvolle Metalltür frei. Dabei vermied ich es tunlichst, die Knöpfe auf der Metallplatte zu berühren, die Seamus benutzt hatte, da ich nicht wusste, ob sie einen Alarm auslösen würden. Die Tür war klein und machte einen recht ramponierten Eindruck. Anscheinend hatte sie schon einige Male ein gewalttätiges Eindringen verhindern müssen. Ich konnte zwar keine Alarmvorrichtungen oder ausgeklügelten Bewegungssensoren erkennen, spürte aber selbst aus einigen Metern Entfernung das unangenehme Prickeln der mächtigen Wächter, mit denen die Tür gesichert war. Sie mit Gewalt öffnen zu wollen, hatte keinen Zweck. Bei der geringsten Berührung würden mich die Wächter wie ein paar Pommes frittieren.

„Vielen Dank für deine Hilfe, Shelby!“, murmelte ich frustriert. Obwohl ich mittlerweile auch erkannt hatte, dass mein Vorhaben eine schlechte Idee war, fühlte ich gleichzeitig eine tiefe Enttäuschung in mir aufsteigen. Es sah ganz so aus, als würde mich eine simple Feuerschutztür zur Aufgabe zwingen.

Mit einem Seufzer ließ ich mich in den riesigen Schreibtischsessel fallen und dachte nach.

Als ich meinen Blick über Seamus’ Schreibtisch wandern ließ, wurde ich auf das Telefon aufmerksam. Neben den Nummerntasten waren auf dem Apparat auch Direktwahltasten für die Lobby, die Garage und den Sicherheitsdienst zu finden.

Beim Anblick des Telefons machte sich eine Idee in meinem Kopf breit, die genauso gefährlich und absurd war, wie den Pazifik in einer Badewanne überqueren zu wollen. Da aber schlechte Ideen seit jeher eine gewisse Attraktivität auf mich ausübten, griff ich nach dem Hörer und drückte eine der Direktwahltasten.

„Security hier“, meldete sich eine tiefe Stimme, der man deutlich anhörte, dass auf der anderen Seite der Leitung gerade jemand aus einem Nickerchen erwacht war.

„Sie müssen mir helfen!“, kreischte ich in den Hörer, wobei ich mir alle Mühe gab, meine Stimme so dramatisch wie möglich klingen zu lassen. „Hier versucht gerade jemand einzubrechen!“

„Wo sind Sie, Miss?“, fragte die plötzlich hellwache Stimme.

„Im Sechzigsten!“, quiekte ich und knallte den Hörer auf den Apparat. Damit hatte ich den Sicherheitsdienst gehörig aufgescheucht. Ich war mir sicher, dass zu dieser Uhrzeit niemand außer Seamus etwas in der sechzigsten Etage verloren hatte. Mir blieben schätzungsweise sechzig Sekunden, bevor Joshuas Schläger in das Büro stürmen würden. Hastig stürzte ich zur Wand und drückte so lange auf der Schalterleiste herum, bis ich den richtigen Schalter traf und schwere schwarze Jalousien die Fensterfront verdunkelten. Dann schaltete ich geschwind die Lichter aus und legte mich neben der Fahrstuhltür auf die Lauer.

Der ganze Raum war nun in vollkommene Dunkelheit getaucht. Ein gewöhnlicher Mensch wäre noch nicht einmal in der Lage gewesen, die eigene Hand vor Augen zu sehen. Ich aber verfügte über die Sehkraft einer Wölfin und konnte sehr wohl die tiefschwarzen Umrisse der Möbel und den schmalen Lichtstreifen am Rand der Jalousien wahrnehmen. Es war kein großer Vorteil, aber ich hoffte, dass er ausreichen würde.

Angespannt lauschte ich den Geräuschen aus dem Fahrstuhl-Schacht. Kurze Zeit später ertönte auch schon das helle „Ping“, und die Aufzugtüren öffneten sich.

Ohne Vorwarnung packte ich zu, als sich der Erste mit vorgehaltener Waffe in der einen und Taschenlampe in der anderen Hand vorsichtig aus dem Fahrstuhl wagte. Mit einer schwungvollen Bewegung verdrehte ich sein Handgelenk, entriss ihm die Waffe und rammte den Griff der Pistole direkt in sein Gesicht. Wowy eine SIG-Sauer P226!, schoss es mir durch den Kopf. Offenbar gab es für die Privatarmee der O’Hallorans nur das Beste.

Der zweite Typ im Fahrstuhl schrie entsetzt auf, als sein blutender Partner rückwärts auf ihn fiel. Von Panik ergriffen, feuerte er einen Schuss in den dunklen Raum. Ich wartete geduldig, bis auch er sich aus dem Fahrstuhl traute. Das nervöse Zucken seiner Taschenlampe ließ darauf schließen, dass er die Hosen gestrichen voll hatte.

„Wer zum Teufel ist da?“, schrie er. „Ich bin bewaffnet!“

Die Fahrstuhltüren schlössen sich wieder, sodass wir bis auf den Lichtkegel der Taschenlampe vollkommen im Dunkeln standen. Wie ein Blitz schnellte ich hinter den Sicherheitsmann, ergriff seinen Arm mit der Pistole und riss ihn mit voller Kraft hinter seinen Rücken. Noch bevor er reagieren konnte, war er in meinem Polizeigriff gefangen. Mit der ganzen Kraft seines Körpers versuchte er sich zu befreien, aber als ich ihm von hinten mein Knie in die Nieren rammte, gab er auf und ging stöhnend zu Boden.

„Damit kommen Sie niemals durch!“, presste er unter Schmerzen hervor.

„Das werden wir ja sehen! Schlüssel her!“ Ich erhöhte den Druck an seinem Handgelenk, sodass nur noch wenige Millimeter fehlten, um es zu brechen. Obwohl es der Typ sicher nicht anders verdient hatte, so wollte ich doch vermeiden, ihn zum Krüppel zu machen.

„Schlüssel? Schlüssel für was?“

„Für O’Hallorans Apartment“, knurrte ich von hinten in sein Ohr. „Her damit!“

„Ich weiß nicht … äh … ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!“, versuchte er, seine Unwissenheit zu beteuern. Ich lehnte mich über seine Schulter, sodass er mein Gesicht sehen konnte und ließ meine Augen in der goldenen Farbe der Wölfin auflodern. Sofort begann er nach Luft zu schnappen und am ganzen Körper zu zittern. Mit bebender Stimme stammelte er: „Oh mein Gott … oh mein Gott …“

„Der wird Ihnen jetzt auch nicht helfen“, fauchte ich ihn an, bevor er verzweifelt mit seinem freien Arm nach mir zu schlagen versuchte. Obwohl ich ihm einen gesunden Überlebenswillen attestieren musste, erreichte er mit seinen unkoordinierten Bewegungen nicht viel mehr, als dass die Lampe in seiner Hand gegen seinen Hinterkopf krachte. Wütend griff ich mir die Taschenlampe und schleuderte sie gegen die Fahrstuhltüren. Nachdem die Glühbirne ihren Geist aufgegeben hatte, war der Raum wieder vollkommen dunkel.

Der Sicherheitsmann fing nun an zu wimmern. „Bitte, bitte, töten Sie mich nicht!“

„Mann, wenn ich Sie hätte töten wollen, würden Ihre Eingeweide schon längst von der Decke tropfen! Und jetzt her mit den Schlüsseln!“, schrie ich ihn an.

„Die Schlüssel sind an meinem Gürtel. B … b … bitte …“, stotterte er.

Vorsichtig tastete ich seine Hüfte ab und fand nach kurzem Suchen einen dicken Schlüsselring. Sehr schön!

„Bitte …“

„Was?“

„Können Sie mich vielleicht k. o. schlagen? Bitte!“, bettelte er. „Wenn Sie mich einfach nur fesseln, wird mein Chef wissen, dass ich überwältigt worden bin, und dann verliere ich meinen Job. Einfach mit der Taschenlampe einen Schlag auf den Hinterkopf; dann kann ich sagen, dass ich Sie gar nicht gesehen hab.“

„Das glaub ich jetzt nicht, oder? Da scheint Joshua ja ein paar echte Fachkräfte angeheuert zu haben“, murmelte ich und griff mir die Taschenlampe. In der Dunkelheit konnte ich nur grob auf den Haaransatz an seinem Hinterkopf zielen, aber als der Mann nach meinem Schlag keinen Mucks mehr von sich gab, wusste ich, dass ich getroffen hatte.

Irgendwie ahnte ich aber, dass sich seine Dankbarkeit beim Aufwachen in Grenzen halten würde.