33.
KAPITEL
»Hüte dich vor den Griechen
und ihren Geschenken!«
m Verlauf der beiden folgenden Tage normalisierten I sich die Verhältnisse in Kairo bis zu einem gewissen Grad. Der Aufstand war zusammengebrochen, und die französischen Truppen durchkämmten die Stadt auf der Suche nach den Anführern. An allen wichtigen Straßen und Kreuzungen standen Posten, die jeden aufhielten, der auch nur entfernt nach einem Orientalen aussah.
Sonderkommandos sammelten die über die ganze Stadt verteilten Leichen ein und räumten die vielen Barrikaden beiseite, die ein geregeltes Vorankommen ernsthaft be-hinderten. General Bonaparte zog die Zügel straffer und setzte den Großen Diwan, den er ursprünglich mit der Verwaltung der Stadt beauftragt hatte, ab, um in allen wichtigen Fragen selbst zu entscheiden.
An unserem zweiten Morgen in Kairo fand unsere Dienerschaft sich wieder ein und nahm ihre Arbeit auf, als sei weiter nichts vorgefallen. Mein Onkel entschloß sich, Malik, Zeineb und Nafi keine Vorhaltungen zu machen. Angesichts der Verwüstungen in unserem Haus mußten wir jede helfende Hand willkommen hei-
ßen.
Die Tage nach dem Aufstand waren vom Morgen bis zum Abend mit Arbeit angefüllt. Zerstörte Möbel, Tü-
ren und Fenster mußten ausgebessert oder ersetzt werden. Da überall in Kairo die Häuser von Europäern und mit ihnen sympathisierenden Einheimischen ähnlich zugerichtet waren, gestaltete sich die Suche nach verfügbaren Handwerkern schwierig. Zu unserem Glück erwies sich der junge Nafi als sehr geschickt im Umgang mit Hammer und Säge, und ein von Onkel Jean in Aussicht gestelltes Goldstück spornte ihn zu-sätzlich an.
Mein Onkel selbst hielt sich vorwiegend in der Bibliothek auf, um die Bücher, die nicht der Zerstörungswut anheimgefallen waren, in die von Nafi ausgebesser-ten Regale einzusortieren. Wann immer ich nicht auf der Jagd nach Helfern das Handwerkerviertel durchstreifte, ging ich ihm zur Hand, wobei wir meistens über Ourida und das Wahre Kreuz sprachen.
Noch immer suchten wir nach einem Anhaltspunkt für ihren Aufenthaltsort.
»Leider sieht es so aus, als wären die Ritter vom Verlorenen Kreuz über die Jahrhunderte hinweg sehr darauf bedacht gewesen, im verborgenen zu wirken«, sagte Onkel Jean. »Ich sehe hier in jedes Buch, das die Kreuzzüge und Ritter behandelt, aber über diesen Orden habe ich noch nichts gefunden. Zumindest scheint er von der Kirche nie anerkannt worden zu sein.«
»Das wäre dem Wirken im geheimen auch eher ab-träglich gewesen.«
»Wie wahr. Gleichwohl mag es Aufzeichnungen über diese Ritter geben, wenn auch nicht in den offiziellen Chroniken der Kreuzzüge. Denk nur an den Reisebericht, aus dem Maruf ibn Saad uns vorgelesen hat.
Wir sollten die Bibliothek des Ägyptischen Instituts daraufhin durchsehen, sobald sie wieder geöffnet wird.«
»Vielleicht gibt es noch eine andere Bibliothek, die uns Aufschluß geben kann«, sagte ich. »Die im Wü-
stentempel.« Das Leuchten in Onkel Jeans Augen verriet, daß ihm meine Idee gefiel. »Aber ja, die Bücher dort könnten sehr aufschlußreich sein. Wir sollten Bonaparte unseren ursprünglichen Vorschlag unterbreiten, uns Professor Ladoux als Verstärkung zu schicken.
Wenn einer die ungewöhnliche Schrift entziffern kann, dann er.«
»Gut, wann gehen wir zu Bonaparte?«
»Am besten sofort. Wichtige Angelegenheiten soll man nicht aufschieben. Einverstanden?«
Und ob ich das war! Alles, was mich zu Ourida brachte, war mir recht. Seit unserer Rückkehr nach Kairo hatte ich das Gefühl gehabt, auf der Stelle zu treten. Jetzt endlich ging es voran!
Als wir am vierten Tag nach unserer Rückkehr auf die Straße traten, lag sie, im Vergleich zu sonst, sehr ruhig unter der Vormittagssonne. Viele der alltäglichen Geschäfte waren infolge des Aufstands zum Erliegen gekommen. Nicht wenige Ägypter verbargen sich aus Angst vor Rache in ihren Häusern, und diese Angst war berechtigt.
Nicht nur französische Soldaten zogen plündernd durch die Wohnviertel der Muslime, auch die in Kairo lebenden Christen und Orthodoxen hielten sich auf niederträchtige Weise für während des Aufstands tatsächlich oder angeblich erlittenes Leid schadlos. All das erfüllte mich mit Besorgnis, konnte es doch kaum dazu beitragen, das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen auf Dauer zum Besseren zu wenden.
Mein Blick fiel auf Maruf ibn Saads großes Anwesen. Es lag so ruhig und scheinbar verlassen da wie schon an den vergangenen Tagen. Nur hin und wieder sah man einen Dienstboten eilig das Haus verlassen oder dahin zurückkehren. Vermutlich war unser Nachbar so gescheit gewesen, sich während des Aufstands möglichst still zu verhalten. Als Muslim war er den Christen verdächtig und als Freund von Franken den Muslimen. Sich nicht zu rühren und von den Dienstboten nur das Nötigste erledigen zu lassen war das Klügste, was er tun konnte.
Als ich Onkel Jean darauf ansprach, sagte er: »Sobald wir etwas Zeit haben, suchen wir Maruf auf und fragen ihn, ob wir ihm in irgendeiner Weise behilflich sein können.«
Trotz der immer noch zahlreichen Straßenkontrollen kamen wir gut voran. Uns sah man schon von weitem an, daß wir Europäer waren, und viele der wachhaben-den Offiziere und Unteroffiziere kannten meinen Onkel. Die Brände waren längst gelöscht, aber die Spuren der Kämpfe und die Verwüstung, sei es durch Artille-riebeschuß, sei es durch menschliche Zerstörungswut, waren allgegenwärtig. Die reiche Stadt am Nil hatte ihren morgenländischen Zauber verloren. Kairo wirkte ärmlich und schmutzig. Al-Kahira hieß es auf arabisch, die Siegreiche. Der Name paßte nicht mehr. Wir gingen durch eine besiegte und geschändete Stadt, die lange brauchen würde, um sich zu erholen.
Der Platz vor Bonapartes Hauptquartier wurde von einem dichten Kordon ausgesuchter Grenadiere abge-riegelt. Uns ließ der befehlshabende Offizier passieren, und wir betraten den schattigen Palast. Alle Spuren des Kampfes, der wenige Tage zuvor in diesen Gängen ge-tobt hatte, waren getilgt. Vermutlich mochte Bonaparte nicht daran erinnert werden, daß die Rebellen bis in sein Haus vorgedrungen waren.
»Ob beim Angriff auf den Palast nachgeholfen worden ist?« fragte ich meinen Onkel. »Wenn wirklich die Ritter vom Verlorenen Kreuz Ourida entführt haben, konnten sie schwerlich abwarten, ob die Rebellen den Palast stürmen oder nicht.«
»Du meinst, sie haben die Menge dazu angesta-chelt?«
»Vielleicht nicht nur das«, spann ich den Faden weiter. »Vielleicht geht der ganze Aufstand auf ihre Rechnung. Sie könnten ihn, die Unzufriedenheit der Einheimischen ausnutzend, in Gang gebracht haben, um sich im Zuge des allgemeinen Aufruhrs Ouridas zu bemächtigen. Anders wäre es ihnen wohl kaum gelungen, in Bonapartes Hauptquartier vorzudringen.«
»Dann hätten eine Menge Menschen ihr Leben nur dafür gelassen.«
»Seit sechshundert Jahren nehmen die Ritter vom Verlorenen Kreuz es hin, daß Menschen ihretwegen ihr Leben lassen. Warum sollte sie das jetzt stören?«
»Deine Überlegung ist nicht von der Hand zu weisen, Bastien. Aber wenn es sich wirklich so verhält, sind die Ritter noch viel gefährlicher, als wir bislang dachten. Vielleicht sollten wir Bonaparte in alles einweihen.«
»Nicht, wenn es sich vermeiden läßt, Onkel. Denken Sie an Ihr Versprechen!«
Wir bogen um eine Ecke, und vor uns tauchte Bonapartes Vorzimmer auf. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, den Oberbefehlshaber einzuweihen. Gewiß konnten seine Macht und seine Soldaten bei der Suche nach Ourida nützlich sein. Aber mir stand das Bild des zerstörten Beduinenlagers noch zu deutlich vor Augen.
Fast jede Nacht träumte ich davon. Seit dem Angriff auf das Tal der Abnaa Al Salieb wußte ich, daß der General im Zweifelsfall über Leichen ging. Ich wollte nicht, daß auch Ourida ihm zum Opfer fiel.
Wir mußten fast eine Stunde warten, bis wir vorge-lassen wurden. Als es schließlich soweit war, kehrte Bonaparte uns den Rücken zu. Er stand mit den Generälen Berthier, Dommartin und Lannes vor einer gro-
ßen Wandkarte Kairos und besprach mit ihnen neue Befestigungsmaßnahmen. »Wir müssen die Forts so anlegen, daß alle wichtigen Punkte der Stadt von mindestens zwei Seiten unter Feuer genommen werden können«, sagte er. »Dann können wir, sollte es wieder zu einem Aufstand kommen, jede Zusammenrottung durch einen gezielten Beschuß schon im Keim erstik-ken.«
»Rechnen Sie mit weiteren Aufständen, Bürger General?« fragte Onkel Jean.
Irritiert wandte Bonaparte sich zu uns um. »Ah, Sie sind’s, Cordelier. Nun, nach den Ereignissen der vergangenen Tage möchte ich auf alles vorbereitet sein.
Für unsere Soldaten ist es die Hölle, sich in den engen Gassen der Stadt Haus für Haus vorwärtszukämpfen.
Wenn es noch einmal zu einer Rebellion kommt, werden unsere Geschütze so aufgestellt sein, daß sie den betreffenden Stadtteil in Schutt und Asche legen können. Aber Sie sind sicher nicht gekommen, um militärische Belange mit mir zu erörtern.«
»Nein«, bestätigte mein Onkel und trug ihm unser Anliegen vor.
Bonaparte setzte eine abweisende Miene auf. »Sie wollen mit Professor Ladoux wieder zu dem Tempel, ausgerechnet jetzt? Wir mögen Kairo unter Kontrolle haben, aber für die angrenzenden Gebiete kann ich nicht garantieren. Wir müssen mit marodierenden Be-duinenbanden rechnen. Ja, wir wissen derzeit nicht einmal, ob die Soldaten am Tempel noch leben. Ich müßte Ihnen also eine große Eskorte mitgeben, wenn ich nicht Gefahr laufen will, zwei so hervorragende Wissenschaftler wie Sie, Professor, und Ihren Kollegen Ladoux zu verlieren. Zur Zeit brauche ich meine Soldaten aber hier in Kairo. Ich fürchte daher, Sie müssen die Expedition verschieben.«
Enttäuscht ergriff ich das Wort: »Gerade weil die Lage in der Wüste so unsicher ist, sollten Sie mehr Truppen zum Tempel schicken, Bürger General. Die Bücher in der Geheimbibliothek könnten von unschätzbarem Wert sein.«
Ein Hauch von Zweifel trat in Bonapartes Züge, während er seinen Blick auf mich richtete. »Was hat es mit dieser Bibliothek auf sich?«
Ich erzählte, wie wir die unterirdische Bibliothek gefunden hatten, und bemerkte sein wachsendes Interesse.
Während ich noch sprach, hörten wir von draußen laute Stimmen und Schüsse. Wir eilten an die Fenster und sahen eine große Menschenmenge, die sich vor dem Palast versammelt hatte. Männer und Frauen in Lan-destracht drängten sich dort und wurden, wie es aussah, nur von den Bajonetten der Grenadiere davon abgehalten, in den Palast einzudringen.
»Ein neuer Aufstand?« entfuhr es General Berthier.
»Das werden wir gleich wissen«, sagte Bonaparte und wandte sich an einen Adjutanten. »Leutnant, gehen Sie, und fragen Sie den Wachhabenden, was der Lärm soll!«
Während der junge Offizier hinauseilte, beobachteten wir den Vorplatz weiter.
»Wie ein Aufstand sieht mir das nicht aus«, meinte Onkel Jean. »Die Gesichter sind nicht zornig, sondern eher verängstigt. Wahrscheinlich wegen der Schüsse eben.«
»Hoffentlich haben Sie recht, Professor«, brummte Berthier.
Wenig später kam der Adjutant zurück und meldete:
»Bürger General, die Menschen dort wollen Ihnen Geschenke überbringen.«
»Geschenke? Mir? Warum?«
»Um Sie ihrer Treue zu versichern.«
»Und wer hat auf sie geschossen?«
»Die Wachen. Sie haben sich von den Leuten be-drängt gefühlt.«
»Idioten!« schnappte Bonaparte und fixierte den Adjutanten.
»Geschenke also, hm?«
»Ja, Bürger General. Die Menschen kommen aus allen Stadtteilen. Es sind zumeist einfache Leute. Jeder einzelne bringt ein Geschenk für Sie. Sie wollen sich mit Ihnen versöhnen.«
»Ausgezeichnet«, befand Bonaparte. »Wenn das in Kairo die Runde macht – und wir werden dafür sorgen, daß es das tut –, wird den Aufrührern der Wind aus den Segeln genommen. Gut gemacht, Leutnant. Gehen Sie wieder hinunter, und sagen Sie den Leuten, daß ich gleich bei ihnen sein werde.«
Als der Adjutant gegangen war, wandte Lannes sich mit besorgter Miene an Bonaparte: »Sie sollten nicht da rausgehen! Es ist viel zu gefährlich. Da können sich leicht Aufständische unter die Menge gemischt haben.«
Berthier sekundierte ihm: »Hüte dich vor den Griechen und ihren Geschenken!«
Bonaparte lächelte. »Ich weiß, wie gebildet Sie sind, Berthier. Aber Sie vergessen, daß wir nicht in Troja sind und daß da draußen keine Griechen auf uns warten. Und Sie, mein guter Freund Lannes, sind stets um mich besorgt, das weiß ich auch. Aber mir ist um meine Sicherheit nicht bange. Die Grenadiere da unten sind mit der Waffe schnell bei der Hand, das haben sie eben gezeigt. Diese einzigartige Gelegenheit, ein Zeichen der Versöhnung zwischen uns und den Ägyptern zu setzen, dürfen wir nicht ungenutzt verstreichen lassen. Außerdem ist da noch ein Punkt.«
»Ja?« fragte Lannes.
Aus Bonapartes Lächeln wurde ein breites Grinsen.
»Ich liebe Überraschungsgeschenke.«
Mein Onkel und ich begleiteten Bonaparte, seine Generäle und Adjutanten, einen Schreiber und den Bürger Venture, der fließend Arabisch und Türkisch sprach und Bonaparte als Übersetzer diente, auf den Vorplatz. Dort war es dem Adjutanten gelungen, die Menge zu beruhigen, und erwartungsvolle Gesichter starrten uns an.
Bonaparte begann zu sprechen, und Venture übersetzte Stück für Stück: »Bürger Kairos, ihr seid heute zu mir gekommen, um euch mit mir und allen Franzosen zu versöhnen. Ich empfinde tiefe Dankbarkeit für diese großmütige Geste, und ich empfinde Freude, denn ihr tut das Richtige. Man mag euch eingeredet haben, wir seien in euer Land gekommen, um euch euren Glauben streitig zu machen und euch auszubeuten. Das ist nicht wahr! Sagt jenen, die euch belügen und verführen, daß ich zu euch gekommen bin, um eure Rechte zu wahren und euch von jenen zu befreien, die euch seit Jahrhunderten unterdrücken. Jene, die Mamelucken, geben vor, nach dem Koran zu leben, und doch behandeln sie euch, ihre Glaubensgenossen, wie niedere Wesen. Ich lebe mehr nach den Gesetzen des Korans als jene. Ich gewähre euch Freiheiten, sorge für Sauberkeit und Sicherheit und glaube daran, daß alle Menschen gleich sind im Angesicht Gottes, den ihr Allâh nennt. Nicht der Glaube unterscheidet die Menschen, nicht die Farbe ihrer Haut, sondern allein ihr Verstand, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten. Wenn Ägypter und Franzosen das stets beachten, und dafür will ich eintreten, werden wir künftig wie Brüder und Schwestern in Eintracht miteinander leben!«
Als Venture mit der Übersetzung geendet hatte, brach ein ohrenbetäubender Jubel los. Die Menschen waren wohl einfach erleichtert zu hören, daß Bonaparte keine Sanktionen gegen sie plante, sondern sie als Brü-
der und Schwestern bezeichnete. Daß seine Worte wenig Neues enthielten, spielte da keine Rolle. Nach der Einnahme Alexandrias hatte Bonaparte eine Proklamation an die in seiner Marschrichtung liegenden Ortschaften gesandt, um deren Einwohner zu beruhigen, und fast alles, was er soeben verkündet hatte, erinnerte mich an Passagen aus jenem Schreiben.
Als der Jubel nach langen Minuten verebbte, trat ein alter, bärtiger Ägypter, der einen bronzebeschlagenen Kasten in den Händen hielt, vor und sagte: »Mächtiger Sultan des Feuers, wir, die Einwohner Kairos, danken dir für deine weisen und guten Worte. Schatten sind auf unsere Stadt und unsere Seelen gefallen, weil einige von uns den Frieden gebrochen und die Waffen gegen unsere Freunde aus dem Frankenland erhoben haben. Jetzt wissen wir, daß du kein zorniger, sondern ein gütiger Sultan bist. Wir sind hier, um dich unserer unverbrüchlichen Treue zu versichern und dir unsere Geschenke zu überreichen, wie sie nach unserem Brauch der Gast dem Gastgeber überreicht. Das soll dir zeigen, daß wir dich als Herrn über uns, unsere Stadt und unser Land anerkennen. Es sind nur kleine Gaben, denn wir sind nicht die wohlhabenden, sondern die einfachen Einwohner Kairos. Aber es sind Gaben, die jedem von uns etwas bedeuten und somit hoffentlich auch dir. In diesem Kasten liegt ein Rosenkranz mit hundert Perlen, um Allâhs Namen und seine neunundneunzig Beinamen aufzuzählen. Er befindet sich seit Generationen im Besitz meiner Ahnen, und man erzählt sich, der Prophet selbst hätte ihn einmal berührt. Dieser Rosenkranz soll über die Kraft verfügen, Krankheiten zu heilen und das Böse fernzuhalten. Ich lege ihn dir zu Füßen!« Während Venture noch übersetzte und der Alte vor Bonaparte trat und niederkniete, um sein Geschenk vor ihm auf den Boden zu stellen, mußte ich an das Gespräch denken, das ich mit meinem Onkel über die Bedeutung von Reliquien geführt hatte. Offenbar sehnte sich jeder Gläubige nach etwas, das greifbarer war als das para-diesische Jenseits. Bei den einen mochte es das Wahre Kreuz sein, bei den anderen ein Rosenkranz, der angeblich schon durch die Hände des Propheten Mohammed gegangen war. Ich meinte, irgendwo gelesen zu haben, daß Mohammed nie einen Rosenkranz benutzt hatte.
Vielleicht täuschte ich mich, vielleicht war das für den alten Ägypter auch nicht wichtig. Hauptsache, er hatte einen Gegenstand, an dem er seinen Glauben festma-chen konnte.
Als der Alte sich erhob, ergriff Bonaparte seine Schultern, drückte ihn an sich und küßte ihn brüderlich auf beide Wangen, was den beabsichtigten Eindruck nicht verfehlte. Ein Raunen ging durch die Menge, begleitet von Rufen, die den Sultan des Feuers hochleben ließen.
Einer nach dem anderen trat jetzt vor, um Bonaparte seine Gabe zu Füßen zu legen. Venture übersetzte gewissenhaft, um was es sich handelte, und der Schreiber trug ebenso gewissenhaft jeden einzelnen Gegenstand in eine Liste ein. Vermutlich nicht nur, damit der Beschenkte den Überblick behielt, sondern auch, um damit in einer Erklärung an die Bevölkerung Kairos auf-zutrumpfen, die Bonaparte gewiß herausgeben würde.
Als die meisten Gaben schon überreicht waren, trat eine verschleierte Frau vor und murmelte etwas von einer wertvollen Kette, die sie dem Sultan des Feuers schenken wolle. Sie hielt einen länglichen, schmucklosen Holzkasten in Händen, den sie aber Bonaparte nicht zu Füßen legte. Statt dessen öffnete sie ihn, als wolle sie dem General das Geschenk zeigen. Sie griff mit der Rechten in den Kasten, und gleichzeitig verrutschte ihr Schleier.
»Aflah!« rief ich überrascht.
Als Maruf ibn Saads Tochter ihren Namen hörte, zögerte sie eine Sekunde. Ich sah den Dolch in ihrer Hand; die Spitze war auf Bonaparte gerichtet.
Daß ich mich auf sie warf und sie mit mir zu Boden riß, geschah nicht des Generals wegen, sondern um sie zu retten. Hätte sie ihr Vorhaben ausgeführt, wäre sie von den Soldaten, die Bonaparte verehrten, bei lebendi-gem Leib in Stücke gerissen worden. Ich hielt sie am Boden nieder und entwand ihrer Hand den Dolch.
Von allen Seiten stürzten Grenadiere herbei, und dicht vor Aflahs Gesicht funkelten die Bajonette.
»Nicht zustoßen!« schrie ich. »Es besteht keine Gefahr mehr!«
Binnen weniger Sekunden hatte sich die eben noch so feierliche Versammlung auf dem Esbekijehplatz in ein Tollhaus verwandelt. Menschen schrien durcheinander, die Masse geriet in Wallung, und die Grenadiere rückten mit gefällten Bajonetten vor, um ihren Oberbefehlshaber zu schützen. Aber kein Schuß fiel, und kein Bajonett fuhr in Aflahs Leib. Während ich noch auf ihr hockte und sie festhielt, hörte ich General Bonaparte sprechen, und ich konnte nicht anders, als ihn für seine Kaltblütigkeit zu bewundern. Und für die Fähigkeit, sich blitzschnell auf eine neue Lage einzustellen. Er hielt den Rosenkranz, den der alte Ägypter ihm geschenkt hatte, über seinen Kopf und sagte mit lauter, fester Stimme: »Meine Freunde, mir ist nichts geschehen! Seht diesen Rosenkranz, den schon der Prophet Mohammed berührte! Er hat mich vor dem Bösen beschützt und verhindert, daß das Band zwischen euch und mir zerschnitten wird. Allâh hält eine schützende Hand über mich!«
Die Menge beruhigte sich wieder, und die Menschen starrten mit großen Augen den Rosenkranz an in dem festen Glauben, Zeugen eines Wunders oder zumindest göttlichen Eingreifens geworden zu sein. Der Sultan des Feuers stand unter Allâhs Schutz!
Diesen Satz und ähnliche hörte ich von allen Seiten.
Und so verstand Bonaparte es, aus dem Anschlag noch Kapital zu schlagen.
An eine Fortsetzung der Geschenkübergabe schien niemand zu denken. Ohnehin hatten die meisten Ägypter ihre Gaben überreicht, und so trafen die Grenadiere auf keinen Widerstand, als sie den Platz mit sanftem Druck räumten. Ich sah in Aflahs Gesicht. Tränen standen in ihren Augen, und ihre Züge waren von Trauer, Wut und Haß gezeichnet, einem Haß, der mir ebenso zu gelten schien wie dem Mann, den sie hatte töten wollen.