3. KAPITEL

In Kairo

m Nachmittag des übernächsten Tages erreich-A ten wir Kairo, ohne ein weiteres Mal in Gefahr geraten zu sein. Zwar hatten wir am späten Vormittag hinter uns eine Staubwolke bemerkt und schemenhaft auch Reiter erkannt, als wir durch das Fernrohr meines Onkels sahen. Aber die Reiter hatten sich uns nicht genähert. Unmöglich zu sagen, ob es die Ritter aus dem Tempel gewesen waren oder zufällig unseren Weg kreuzende Beduinen.

Das zurückliegende Abenteuer trat in den Hinter-grund, sobald uns der Trubel in der großen Stadt am Nil umbrandete. Überall in den Außenbezirken waren französische Soldaten mit Schanzarbeiten beschäftigt.

Sie rissen ganze Gebäude ein, um an ihrer Stelle Ver-teidigungsbollwerke zu errichten oder einfach nur ein freies Schußfeld für die Artillerie zu gewinnen. Zwar hatte unsere Armee das Mameluckenheer in der Schlacht bei den Pyramiden besiegt, aber nach dem Untergang unserer Flotte mußten wir besondere Vorsicht walten lassen. Der umsichtige General Bonaparte stellte sich, wie mein Onkel mir berichtet hatte, darauf ein, daß die Engländer ein Expeditionskorps anlande-ten, um Kairo zu erobern.

Die Stadt hatte sich in den zwei Monaten seit unserem Einmarsch stark verändert und deutlich europä-

ische, um nicht zu sagen französische, Züge angenommen. Überall hatten Restaurants und Kaffeehäuser eröffnet, die sich mit Interieur und Speisekarte dem abendländischen Geschmack anpaßten. Selbst die europäische Mode wurde inzwischen von den Einheimischen – besonders den weiblichen – nachgeahmt, nicht stets zur Freude der Männer, die ihre Frauen nur un-gern unverschleiert durch die Straßen flanieren sahen.

Sergeant Kalfan begab sich mit den meisten seiner Soldaten zum Lager seiner Kompanie, weil der heftig fiebernde Gaspard dringend ärztlicher Hilfe bedurfte.

Zwei Grenadiere begleiteten meinen Onkel, die noch immer schweigsame Wüstenrose und mich zu unserem von Palmen beschatteten Haus in der Nähe der Al-Hussein-Moschee. Die ursprünglichen Bewohner waren vor dem französischen Einmarsch geflohen, und so hatten Onkel Jean und ich hier Quartier bezogen. Empfangen wurden wir von dem alten Malik, seiner Frau Zeineb und beider Enkelsohn Nafi, unseren Bediensteten.

Malik, der an der Haustür stand, zog den zerbeulten Zweispitz, den er irgendwo aufgelesen hatte und seitdem fast unablässig trug, wohl um uns Franken, wie die Araber uns nannten, seinen Respekt zu erweisen.

Maliks Name bedeutete nicht weniger als »König«, und er trug den traurigen Hut wahrhaftig so würdevoll wie eine Krone. Er verbeugte sich in einer Geste, die europäische Höflichkeit nachahmte, aber sehr ungelenk wirkte, und begrüßte uns in dem eigentümlichen Gemisch aus französischen und arabischen Wörtern, das er sich angeeignet hatte.

Nafi, ein vielleicht zwölf- oder dreizehnjähriger Knabe von flinkem Wesen und mit stets wachen Augen, kümmerte sich um unsere Esel, während wir anderen ins Haus gingen. Auf Onkel Jeans Geheiß brachte Zeineb unsere Begleiterin in ein Gästezimmer im rückwärtigen Teil des Hauses. Mein Onkel und ich ließen uns in der Bibliothek nieder und mußten nicht lange darauf warten, daß Malik uns zwei Karaffen mit Wasser und Wein brachte. Onkel Jean wies ihn an, auch den beiden Grenadieren, die vor dem Haus Wache hielten, eine Erfrischung zu bringen.

Ich lehnte mich in einem der alten Sessel zurück, schloß die Augen und labte mich an der kühlen Mischung aus Wasser und Wein. »Das tut gut nach Tagen in der Wüste, die uns nichts eingebracht haben als Schmutz, Schweiß und Todesgefahr.«

»Das siehst du bei weitem zu düster«, widersprach mein Onkel. »Vergiß nicht den Tempel, den wir entdeckt haben, die liebreizende Ourida und das hier.«

Ich hörte, wie er etwas Schweres auf den Tisch legte, und öffnete die Augen wieder. Es war ein länglicher, in ein großes Tuch eingeschlagener Gegenstand, den er nicht mit unserem übrigen Gepäck Nafi anvertraut, sondern mit ins Haus genommen hatte. Als er das Tuch entfernte, erkannte ich die mittelalterliche Waffe, die er im Tempel erbeutet und mit deren Hilfe er mir das Leben gerettet hatte.

»Das Schwert!« staunte ich. »Ich habe gar nicht mehr daran gedacht, daß Sie es bei sich haben, Onkel.«

Die Finger meines Onkels strichen langsam über die breite Klinge. »Der Beweis dafür, daß wir uns die seltsame Geschichte nicht bloß eingebildet haben. Eine solide Arbeit und aufschlußreich dazu.«

»Wie meinen Sie das?« fragte ich und beugte mich vor, um die Waffe genauer zu betrachten.

»Zweischneidige Schwerter mit nußförmigem Knauf wie dieses wurden im Mittelalter verwendet, im zwölften oder dreizehnten Jahrhundert.«

»So alt ist es?«

»Nein, dazu ist es zu gut erhalten. Aber wer immer es auch geschmiedet hat, ihm haben zweifellos Schwerter aus der genannten Zeit als Vorbild gedient. Besonders interessant ist das hier!«

Er wies auf ein hell schimmerndes Kreuz, das eine Seite des Knaufs schmückte. Dann drehte er das Schwert um. Auch auf der anderen Knaufseite war ein Kreuz eingraviert, hier allerdings von rötlicher Färbung.

»Ein weißes und ein rotes Kreuz!« stieß ich aufgeregt hervor. »Wie auf den Mänteln dieser Ritter – oder wie man sie bezeichnen soll.«

»Laß uns ruhig von Rittern sprechen, Bastien. Offenbar orientieren sich diese Männer, was ihre Kleidung und Bewaffnung angeht, an den Kreuzrittern, die einst in dieses Land kamen.«

»Aber wozu der Mummenschanz?«

»Ich würde nicht von Mummenschanz sprechen.

Dahinter steckt mehr, etwas sehr Gefährliches, wie wir am eigenen Leib erfahren haben. Leider wissen wir zu wenig, um die Frage nach dem Warum auch nur ansatzweise beantworten zu können. Wäre sie nicht so verschlossen, könnte Ourida uns gewiß weiterhelfen.«

Mein Onkel ging zum Bücherregal, zog einen schweren Band hervor und legte ihn neben das Schwert. Es war ein bebildertes Werk über das Mittelalter, in dem ich selbst auch schon gelesen hatte. Zielstrebig schlug Onkel Jean den Teil auf, der sich mit den Kreuzfahrten beschäftigte. »Hm«, brummte er nach kurzem, kon-zentriertem Lesen. »Das hilft uns auch nicht weiter. Die Kreuzfahrer trugen die unterschiedlichsten Gewänder, auch die Angehörigen religiöser Ritterorden: weiß mit rotem Kreuz die Templer, weiß mit schwarzem Kreuz die vom Deutschen Orden, weiß mit rotem Kreuz und rotem Schwert die Schwertbrüder, schwarz mit weißem Kreuz die Johanniter. Aber hier steht nichts von schwarz-weißen Mänteln oder von einer Vereinigung, die sowohl das rote als auch das weiße Kreuz zu ihrem Zeichen erhob. Es bleibt ein Rätsel, das …«

Ein lautes Krachen, unzweifelhaft ein Schuß, schnitt ihm das Wort ab.

»Das kam von vorn!« rief ich, sprang auf und eilte an das Fenster, das zur Straße hinausging.

Onkel Jean trat neben mich, und wir beobachteten einen Aufruhr vor dem Haus, das unserem direkt gegenüberlag. Dort wohnte ein ägyptischer Gelehrter, der sehr zurückgezogen lebte und von dem wir nicht viel mehr wußten als den Namen: Maruf ibn Saad. Ein einziges Mal hatte ich einen flüchtigen Blick auf ihn werfen können, als er durch seinen Garten spazierte: ein hochgewachsener, schlanker, sehr würdevoll wirkender Mann mittleren Alters. Vor seiner Haustür drängten sich zehn bis fünfzehn Personen, die in eine lautstarke Auseinandersetzung verwickelt waren, Ägypter, vermutlich Bedienstete von Maruf ibn Saad, und französische Soldaten in der Uniform der leichten Infanterie.

»Das gefällt mir nicht«, knurrte mein Onkel und war auch schon auf dem Weg nach draußen.

Ich folgte ihm und kam dazu, als Onkel Jean den Anführer der Soldaten, einen schlecht rasierten Korporal in schmutziger Uniform, zur Rede stellte.

»Was soll der Aufstand, Korporal? Wer hat hier geschossen?«

Der Korporal maß meinen Onkel mit einem abschätzenden Blick. »Einer meiner Männer. Er hat sich gegen einen dieser stinkenden Kameltreiber verteidigt, als der handgreiflich werden wollte.«

Jetzt erst bemerkte ich den Ägypter, der blutend am Boden lag. Ich konnte nicht erkennen, ob er noch lebte.

»Was wollen Sie hier?« fragte Onkel Jean. »Hier soll ein Gelehrter wohnen, der viele Bücher hat. Die wären in der Bibliothek des Instituts von Ägypten besser aufgehoben, haben wir uns gedacht. Schließlich sind wir jetzt die Herren im Land. Außerdem wird das Institut sich im Gegenzug sicher großzügig zeigen.«

»Das glaube ich nicht!« schnarrte mein Onkel. »Ich bin Jean Cordelier, ich gehöre dem Institut von Ägypten an.«

Eine leichte Unsicherheit flackerte in den Augen des Korporals auf.

»Das Institut kauft Bücher, aber es stiehlt sie nicht«, fuhr Onkel Jean fort. »Und wir Franzosen sind nicht in dieses Land gekommen, um die Ägypter zu unterdrük-ken und auszurauben, sondern um sie von der Mameluckenherrschaft zu befreien. Ihr Verhalten, Korporal, ist mehr als schändlich, geradezu verbrecherisch. Wir leben in Frieden mit den Kairoern, aber Sie und Ihre Männer gefährden diesen Frieden. Wenn Sie nicht augenblicklich von hier verschwinden, werde ich Ihr Verhalten General Bonaparte melden!«

Dem Korporal war deutlich anzusehen, wie es in ihm arbeitete. Die Muskeln zuckten, und die Kiefer mahlten heftig, während er sich die Worte meines Onkels durch den Kopf gehen ließ.

Seine Männer und er würden, wenn sie meinem Onkel gehorchten, um eine fette Beute gebracht werden.

Gehorchten sie aber nicht, mochte statt der erhofften Belohnung ein Exekutionskommando auf sie warten.

Ein weiterer Trupp Soldaten eilte herbei, und ich be-fürchtete schon, der Korporal und seine Bande von Plünderern könnten Verstärkung erhalten. Aber dann erkannte ich unseren wackeren Sergeant Kalfan an der Spitze eines halben Dutzends Grenadiere.

Sie nahmen neben Onkel Jean und mir Aufstellung, und Kalfan fragte: »Worum geht es hier, Professor Cordelier?«

»Nur um ein Mißverständnis, hoffe ich«, sagte mein Onkel energisch und fixierte den Korporal. »Die Kameraden von der leichten Infanterie wollten sich ohnehin gerade verabschieden. Nicht wahr, meine Herren?«

Zögernd antwortete der Korporal: »Jawohl, das wollten wir.«

Kaum hatte er mit seinen Männern das Grundstück verlassen, ließen sich ein paar der Ägypter neben dem am Boden liegenden Mann nieder und drehten ihn so weit herum, daß auch ich sein Gesicht sehen konnte. Er war jung, noch keine zwanzig Jahre alt, und er atmete.

Aber über der Brust war sein Gewand rot von Blut.

»Das sieht schlimm aus«, sagte Kalfan, der in seinem langen Soldatenleben schon viele Verwundete gesehen hatte. Onkel Jean nickte. »Sergeant, schicken Sie sofort einen Boten zu Ihrem Regimentsarzt! Ich bitte ihn, um-gehend herzukommen und sich des Verwundeten anzu-nehmen.« Kalfan war verblüfft. »Aber, Herr Professor, ich weiß nicht ob er wegen eines … eines …«

»Ein Mensch ist schwer verwundet, und die Schuld daran trägt ein Schandexemplar von einem französischen Soldaten«, erklärte mein Onkel. »Also sollte die Sache auch durch einen französischen Soldaten in Ordnung gebracht werden. Der Bote soll dem Regimentsarzt ausrichten, daß er mir mit seinem baldigen Erscheinen einen großen Gefallen täte!«

»Jawohl«, antwortete Kalfan knapp und schickte einen seiner Soldaten mit der Botschaft zum Regiments-stab.

Unterdessen war in der Haustür ein Mann in einem vornehm bestickten Gewand erschienen, und ich erkannte sofort Maruf ibn Saad.

»Als Herr dieses Hauses bin ich Ihnen für Ihre Hilfe zu Dank verpflichtet, Monsieur«, sagte er in einem Französisch, das zwar mit einem starken Akzent behaf-tet, ansonsten aber fehlerlos war. »Mein Name ist Maruf ibn Saad, und mein Haus ist das Ihre, wann immer Sie es wünschen.« Er wandte sich seinen Bediensteten zu und wies sie in seiner Muttersprache an, den Verwundeten vorsichtig ins Haus zu bringen, bevor er sich wieder meinem Onkel zuwandte. »Ich würde Sie gern sofort in mein Haus bitten, aber vielleicht sollten wir erst den Besuch des Arztes abwarten und Ruhe einkeh-ren lassen. Darf ich Sie und Ihren Neffen für morgen vormittag zum Kaffee einladen?«

»Gern«, antwortete Onkel Jean und verbeugte sich.

»Aber woher wissen Sie, daß dieser junge Mann mein Neffe ist?« Der Ägypter lächelte. »Wir sind Nachbarn, oder?«

Nachdem wir uns von Maruf ibn Saad verabschiedet hatten, sagte mein Onkel zu Kalfan: »Sie und Ihre Männer sind gerade im rechten Augenblick aufgetaucht. Wie kommt es, daß Sie so schnell hier waren?«

»Ich dachte, wir sollten dem alten Abul einen Besuch abstatten, bevor es Abend wird.«

»Das ist ein guter Gedanke, Sergeant. Genau das sollten wir tun!«