TEIL III
29. KAPITEL
Tödlicher Donner
onner riß mich aus dem Schlaf, so laut, daß ich D mich mit einem Ruck aufsetzte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich meine Umgebung erkannte.
Ich befand mich in Jussufs Zelt, hinter dem Vorhang, und erinnerte mich, wie ich mich nach dem langen Gespräch mit dem Scheik müde und aufgewühlt zugleich hingelegt hatte. Lange hatte ich mich hin und her gewälzt und über das nachgedacht, was ich von Jussuf erfahren hatte. Vielleicht hatte auch der über-reichlich genossene Kaffee mich trotz meiner Erschöpfung so lange wach gehalten. Am Ende hatte ich doch geschlafen, tief und fest sogar.
Was war das für ein Lärm, der mich geweckt hatte?
Nur ein Hauch von Helligkeit drang durch die Zelt-wände. Es mußte noch früh am Morgen sein.
Wieder ertönte lauter Donner, mehrfach kurz hinter-einander. Wo kam ein solches Unwetter her? Gewitter-stürme kannte ich aus Frankreich, aber in Ägypten hatte ich noch keinen erlebt. Vielleicht zog ein Gewitter hier ebenso unerwartet auf wie der Sandsturm, der Leutnant Dumonts Husaren und mich auf unserem Ritt nach Kairo überfallen hatte. Der Gedanke an den Chamsin erfüllte mich mit einer eigenartigen, ungewissen Furcht. Mit dem Sandsturm waren die Ritter vom Verlorenen Kreuz über uns gekommen. War auch dieses Gewitter nur der Vorbote von etwas viel Gefährli-cherem?
Schreie drangen an meine Ohren, undeutlich, und doch erfaßte ich die Panik darin. Die Furcht, das unerklärliche Gefühl, daß eine große Gefahr über das Tal der Abnaa Al Salieb hereingebrochen war, ergriff ganz und gar von mir Besitz. Ich sprang auf und wollte nach draußen laufen, um zu sehen, was dort vor sich ging.
Da erbebte der Boden unter meinen Füßen, so heftig, daß ich den Halt verlor und durch die Luft gewirbelt wurde. Ich fiel mit der linken Seite auf etwas Hartes und spürte einen stechenden Schmerz. Sand geriet mir in Augen, Nase und Mund. Ich hustete und spuckte, während Donnerschlag auf Donnerschlag über das Tal rollte. Da waren Stimmen, die einander übertönten: Schreie, Befehle, Schmerzenslaute. Aber mit all dem Sand in den Augen konnte ich nichts sehen. Ich rieb mir die Augen, auch wenn es schmerzte und brannte; Trä-
nen rannen mir über die Wangen, aber endlich lüfteten sich die Schleier. Was ich sah, war das, was ich hörte: ein einziges Chaos!
Scheik Jussufs großes Zelt, in dem ich eben noch gelegen hatte, stand nicht mehr. Es war nichts davon übrig als ein paar große Wollfetzen, die traurig an einigen Zeltstangen hingen. Ich lag in einer Kuhle unter freiem Himmel, unter mir ein Kochkessel, auf den ich gefallen war.
Verängstigte Beduinen irrten umher und suchten ihre Angehörigen. Viele waren, wie ich, aus dem Schlaf gerissen worden und nur unzureichend bekleidet, etliche waren verletzt. Eine Frau mit blutverschmiertem Gesicht wankte an mir vorüber. Die Wunde an ihrer Stirn schien sie nicht zu kümmern. Ihr Blick glitt suchend über das Lager, und immer wieder rief sie verzweifelt mehrere Namen, wohl die ihrer Kinder.
Wieder ertönte der unheimliche Donner, und jetzt sah ich auch die dazugehörigen Blitze: feurige Zungen, die über eine der schroffen Felswände leckten.
Jetzt wußte ich, was das für ein Donner war und weshalb er mir – ganz zu Recht – solche Furcht eingeflößt hatte. Ähnliches hatte ich gehört, als Bonapartes Artillerie in der Schlacht bei den Pyramiden ihre mächtige Stimme erhoben hatte.
Dort in den zerklüfteten Felsen, die den Beduinen Schutz vor Feinden hatten gewähren sollen, standen Kanonen, die Salve um Salve ins Tal schossen. Kugeln klatschten in den Boden und jagten Sandfontänen in die Luft. Granaten explodierten mit ohrenbetäubendem Krachen. Kartätschen zerplatzten ringsum und ver-spritzten ihre todbringende Ladung aus Blei- und Eisen-stücken.
Hatten die Abnaa Al Salieb mit der Verlegung ihres Lagers zu lange gewartet? Offenbar, denn die Ritter vom Verlorenen Kreuz schienen sie aufgespürt zu haben. Aber wieso benutzten die plötzlich moderne Artillerie statt Schwert und Streitaxt? Und woher hatten sie die Kanonen?
Mein Blick fiel wieder auf die blutende Frau, die eins ihrer Kinder gefunden hatte, vor ihm auf die Knie fiel und es glücklich an sich drückte. Eine Granate pfiff heran, und mein Warnruf ging im Lärm der Kanonade unter. Ich warf mich zurück auf den Boden, drückte das Gesicht in den Dreck und bedeckte meinen Kopf mit beiden Armen. Die nahe Explosion wollte meine Ohren zerreißen. Als ich aufblickte, waren Mutter und Kind nur noch zerfetztes Fleisch. Während ich mich noch übergab, dachte ich an ein anderes Kind, nach dem keine Mutter suchen würde. Ich spuckte, fuhr mit dem Handrücken über meinen Mund und schrie:
»Raaabjaaa!« Mein suchender Blick glitt über die kläglichen Reste von Jussufs Zelt, doch ich sah weder den Scheik noch die alte Muna, noch Rabja.
Als ich mich aufrappelte, merkte ich, daß meine Beine zitterten. Roland de Giraud war ein Krieger gewesen, ein Soldat. Ich war es nicht. Als Dumonts Husaren und ich von den Rittern überfallen wurden, hatte es wenigstens einen Kampf Mann gegen Mann gegeben und damit eine Aussicht, den Feind zu überwinden. Aber wie sollte ich gegen den vielfachen Tod ankämpfen, den die Kanonen drüben im sicheren Schutz der Felsen aus-spuckten? Ich hatte schreckliche Angst um Rabja, die mir so ans Herz gewachsen war.
Rechts von mir riß eine Rundkugel ein weiteres Zelt ein, und ein gutes Stück weiter links wirbelte eine ex-plodierende Granate den Boden auf, während ich durch die Überreste von Jussufs Zelt taumelte und in den Trümmern verzweifelt nach einem Anzeichen von Leben Ausschau hielt.
Mein linker Fuß stieß gegen etwas Großes, Weiches, das unter einem Fetzen Kamelwolle lag, einem Teil des Zeltes. Ich riß das Tuch beiseite und starrte auf einen zusammengekrümmten Leib, der in einer Blutlache mehr schwamm als lag. Es war Muna, und sie war tot.
Ihr runzliges Gesicht war im Schreck erstarrt. Die Granate, die das Zelt getroffen hatte, hatte ihr den halben Leib weggerissen. Ihre knotige Rechte zeigte mit aus-gestreckten Fingern nach rechts, als hätte sie im Augenblick des Todes noch nach etwas greifen wollen.
Mein Blick ging in dieselbe Richtung und fiel auf einen Trümmerhaufen aus Kochutensilien, zerbrochenen Zeltstangen und Stücken des Zelttuches. Ich wühlte mich durch diesen Haufen – und fand Rabja!
Das Glücksgefühl des ersten Augenblicks verwandelte sich schlagartig in Bestürzung. Reglos lag sie vor mir, auf dem Bauch, das Gesicht zur Seite gedreht und die Augen geschlossen. Nichts deutete darauf hin, daß noch Leben in ihr war. Am Hinterkopf war ihr Haar blutverschmiert. Vorsichtig tastete ich mit meinen schmutzigen Fingern darüber. Es kam mir nicht vor wie eine Wunde von Granatsplittern, eher so, als sei infolge der Explosion ein schwerer Gegenstand gegen ihren Kopf geschlagen.
Vorsichtig drehte ich sie herum, bemüht, dem kleinen, zerbrechlichen Körper nicht noch mehr Schaden zuzufügen. Weitere Wunden konnte ich nicht entdek-ken, aber ihr Kopf fiel wieder zur Seite, die Augen blieben geschlossen, und sie schien nicht zu atmen.
Ich fühlte ihren Puls und stockte. Hatte ich da nicht etwas gespürt? Doch, wahrhaftig, es war noch Leben in Rabja! Sofort war ich von einem einzigen Gedanken erfüllt: Wie konnte ich sie von hier fortbringen, ir-gendwohin, wo sie vor dem unablässigen Beschuß sicher war und wo man sich um sie kümmern würde?
Hastig blickte ich mich um und hielt nach Hilfe Ausschau, doch ich sah nichts als verwundete oder erschüttert umherirrende Beduinen.
Wo war Jussuf? Wenn er sich zu Beginn des Angriffs im Zelt aufgehalten hatte, lag er vielleicht auch irgendwo hier unter den Trümmern. Möglicherweise brauchte er Hilfe. Meine ganze Sorge aber galt Rabja. Vorsichtig hob ich sie hoch. Sie erschien mir federleicht – viel zu leicht und zu klein, um zu sterben.
Der Beschuß schien nur von einer der beiden Felswände zu kommen, von der im Nordosten. Also lief ich mit Rabja in die entgegengesetzte Richtung. Immer noch schlugen Geschosse ein, zerstörten das Beduinenlager, zerfleischten und töteten seine Bewohner. Doch ich ging unbeirrt weiter, über den aufgepflügten Boden, stieg über Schutt, Leichen und jammernde Verwundete, das Kind auf meinen Armen, denn ich wußte: Ich konnte nichts anderes tun. Von links hörte ich seltsame Ge-räusche, die lauter wurden und sich gegen den Geschützdonner durchzusetzen begannen: Trommelwirbel und den gleichmäßigen Tritt unzähliger Füße in festen Soldatenschuhen. Die Sonne kletterte über die Felsen und warf ihr rötliches Licht auf eine heranrückende Masse blau-weißer Uniformen, die aus der Morgendämmerung heraustrat wie eine Armee aus dem Jenseits.
Ich blieb stehen und kniff die Augen zusammen. Sah ich das wirklich? Oder erlagen mein erschöpfter Leib und meine überreizten Sinne einem Trugbild? Eine lebende Mauer aus Soldaten, die fast die ganze Breite des Tals ausfüllte, marschierte zum dröhnenden Klang der Trommeln direkt auf mich zu. Als ich die Fahne mit den Farben der Revolution – Blau, Weiß und Rot –
über ihren Köpfen wehen sah, verflog der letzte Zweifel: Es waren Franzosen!
Sie trugen ihre Hüte mit den Spitzen zur Seite, en ba-taille, zur Schlacht bereit. In diesem ägyptischen Tal wirkte ihre präzise, auf Dutzenden europäischer Schlachtfelder erprobte Formation völlig fehl am Platz.
Wenn nicht aus dem Jenseits, so kamen sie doch aus einer anderen Welt. Fassungslos fragte ich mich, was sie hierhergeführt hatte.
Während ich noch ungläubig dieses Bild in mich aufnahm, erkannte ich den berittenen Offizier in ihrer Mitte, der sie mit gezogenem Säbel ins Gefecht führte und auf dessen Hut der rot-weiße Federbusch eines französischen Brigadegenerals prangte. Vor meiner Ab-reise aus Kairo hatte ich zweimal mit ihm gesprochen: General Lannes.
Er rief etwas, das ich nicht verstand, und deutete mit dem Säbel nach vorn. Die Soldaten hielten an, und das vorderste Glied ging in die Knie, um den Ansturm einer berittenen Beduinenschar zur erwarten, die im vollen Galopp auf den vielfach überlegenen Gegner zuhielt.
Die Krieger der Abnaa Al Salieb hatten sich offenbar von der Überraschung des Feuerüberfalls erholt und gingen zum Gegenangriff über, einhundert oder ein-hundertfünfzig Reiter, angeführt von Scheik Jussuf!
Erleichtert sah ich, daß er die Kanonade überlebt hatte. Er war wohl schon frühmorgens nach draußen gegangen, um sich mit seinen Kriegern im Kämpfen zu üben. Das hatte ihn und die meisten Männer vor dem schrecklichen Schicksal bewahrt, dem ihre Frauen, Kinder und Alten anheimgefallen waren.
Eine Salve der Franzosen riß Lücken in die Reihen der Beduinen, hielt ihren Ansturm aber nicht auf. Hastig luden die Infanteristen nach, während die Beduinen auf ihren schnellen Pferden näher und näher kamen. Es war ein Wettlauf um Leben oder Tod. Die Wüstensöh-ne stießen gellende Kriegslaute aus, bereit, ihre blanken Klingen in die Leiber der Franzosen zu stoßen.
Da erbebte der Boden unter den Abnaa Al Salieb, als Kanonenkugeln zwischen sie fuhren, Granaten sie von ihren Pferden sprengten und Kartätschen sie mit ihren Ladungen durchsiebten. Der Reiterangriff verwandelte sich in ein ungeordnetes Knäuel stürzender Pferde, Toter und Verwundeter. Und schon hatte die Infanterie nachgeladen. General Lannes stieß den erhobenen Säbel in Richtung der Beduinen und gab erneut den Befehl zum Feuern. Die Salve, aus nächster Nähe abgegeben, traf einen Großteil jener Wüstenkrieger, die sich noch im Sattel hielten. Als ich die tapferen Abnaa Al Salieb reihenweise fallen sah, fühlte ich einen körperlichen Schmerz.
Ein weiterer Befehl Lannes’, und das kniende vorderste Glied erhob sich. Die Soldaten hielten sich nicht mit Nachladen auf. Alle drei Glieder gingen zum Bajonett-angriff über und warfen sich unter lautem Geschrei auf die Beduinen. Ich entdeckte den Scheik, der sich schwankend erhob und mit blankem Säbel dem Feind entgegenstürzte. Er rammte einem Infanteristen die Klinge in den Leib und brachte einem zweiten eine Wunde an der Schulter bei, ging dann aber, von einem Bajonett getroffen, auf die Knie. Sofort war eine Handvoll Soldaten über ihm, um mit Bajonetten und Gewehrkolben sein Leben auszulöschen.
Wie gelähmt hatte ich den Kampf verfolgt. Nun gab ich mir einen Ruck und wandte mich, Tränen in den Augen, ab, lief fort von dem Gemetzel, um wenigstens Rabja zu retten. Ein Trupp Dragoner sprengte heran und schloß eine Lücke, die den Beduinen eine Rück-zugsmöglichkeit gewährt hätte. So kamen die französischen Reiter in meine unmittelbare Nähe und waren plötzlich rings um mich her. Mit Rabja auf den Armen war es mir unmöglich, ihnen zu entkommen.
Einer hatte mich erblickt und ritt mit gezogenem Sä-
bel auf mich zu. Ungläubig starrte ich ihn an und fragte mich, ob er mich wirklich töten würde. Erst dann begriff ich, daß er mich für einen Beduinen halten mußte.
Für einen Wüstensohn, der sein Kind in den Armen hielt.
Rabja! Mein Tod würde auch den ihren bedeuten!
»Ich bin Franzose!« brüllte ich dem Dragoner entgegen. »Ich heiße Bastien Topart!«
Ich wiederholte den Namen, schrie ihn wieder und wieder hinaus in den blutigen Morgen.
Hatte der Dragoner mich verstanden? Er galoppierte an mir vorüber. Andere zügelten ihr Pferd, und aus ihren staub- und schweißbedeckten Gesichtern sprach Verwunderung. Irgendwann drängte ein Reiter, dessen blauer Rock unter den grünen der Dragoner auffiel, seinen Rappen zwischen ihnen hindurch. Statt eines Helms trug er einen federgeschmückten Zweispitz. Auf meiner Höhe zügelte er sein Pferd und beugte sich zu mir herunter; plötzlich waren die markanten Züge von General Lannes zum Greifen nahe. »Mein Gott, Sie sind’s wirklich, Bürger Topart! In dem Aufzug hätte ich Sie kaum erkannt. Ihr Onkel wird sich freuen. Wir hatten wenig Hoffnung, Sie lebend zu finden. Sind Sie verletzt?«
Ich wußte es nicht, und es war mir auch nicht wichtig. Aber ich hielt das reglose Bündel hoch, das ich schon die ganze Zeit mit mir herumtrug.
»Helfen Sie ihr, bitte!«
»Wer ist das?«
»Rabja.«
»Rabja?«
»Ein Mädchen.«
»Europäerin?« fragte Lannes zweifelnd.
»Einfach ein Mädchen. Sie braucht dringend ärztliche Hilfe. Bitte!«
Der General richtete sich auf und bellte: »Einen Arzt, schnell!«
Vorsichtig ging ich in die Knie und legte Rabja auf den Boden. Noch immer hielt sie die Augen geschlossen, als wollte sie nicht ein zweites Mal mit ansehen, wie ihre Leute massakriert wurden. Um uns herum waren Dragoner und Husaren, die sich vergewisserten, ob die am Boden liegenden Beduinen auch wirklich tot waren. Wo das nicht der Fall war, halfen sie mit einem schnellen Säbelhieb nach.
»Die Beduinenkrieger …« brachte ich mit brüchiger Stimme heraus.
»… sind besiegt«, verkündete Lannes voller Stolz.
»Der Angriff ist ganz nach Plan verlaufen. Keine Sorge, Topart, Sie haben von den Entführern nichts mehr zu befürchten!«
»Entführer?«
Mehr konnte ich nicht sagen. Stumm schüttelte ich den Kopf angesichts des Elends um mich her.
Ein Arzt kam herangeritten, stieg von seinem Braunen und nahm verwundert zur Kenntnis, daß seine Pa-tientin ein Beduinenmädchen war.
Entrüstet wandte er sich an Lannes: »Aber, Bürger General, dort hinten liegen mehrere Grenadiere, deren Wunden noch versorgt werden müssen!«
»Das kommt noch«, erwiderte Lannes mit unbewegter Stimme. »Jetzt kümmern Sie sich um das Mädchen, Doktor!« Es war eindeutig, daß der General keinen Widerspruch duldete. Auch wenn ich meine letzte Begegnung mit ihm in unangenehmer Erinnerung hatte, in diesem Augenblick war ich ihm so dankbar, daß er alles von mir hätte verlangen können.
Der Militärarzt ließ sich neben Rabja nieder und untersuchte sie nur kurz, bevor er sich zu Lannes umwandte und sagte:
»Ich kann dem Mädchen nicht mehr helfen, Bürger General. Es ist tot.«
Tot.
Das Wort traf mich schlimmer als ein Säbelhieb. Ich dachte daran, wie ich mit Rabja Ball gespielt und wie ich ihr die ersten französischen Worte beigebracht hatte. Ich dachte an ihr glucksendes Lachen, das in mir die Hoffnung erweckt hatte, sie würde über den schrecklichen Tod ihrer Eltern hinwegkommen.
Ich packte den Arzt am Kragen und schüttelte ihn.
»Das kann nicht sein! Sie müssen sie gründlicher untersuchen. Eben habe ich noch ihren Puls gefühlt!«
Der Arzt löste sich von mir und trat einen Schritt zu-rück. »Es tut mir leid, Bürger, aber ich kann Ihnen nichts anderes sagen. Das Mädchen ist tot. Wenn eben noch Leben in ihr war, so war es ein letztes Aufflackern.
Sie hat eine schwere Kopfverletzung. Ein Erwachsener hätte das vielleicht überstanden, aber so ein Kind …« Er schüttelte den Kopf und stieg wieder aufs Pferd. »Bürger General, mit Ihrer Erlaubnis kümmere ich mich jetzt wieder um unsere Verwundeten.«
Lannes nickte knapp, und der Arzt trieb sein Pferd an. Ich hockte mich neben Rabja und drückte ihr Gesicht an meine Brust. Meine Hände färbten sich rot von ihrem Blut. Tränen rannen mir übers Gesicht, und ich gab mir keine Mühe, es vor den Soldaten zu verbergen.
»Was immer dieses Kind Ihnen bedeutet haben mag, Bürger Topart«, sagte General Lannes, »seien Sie meines aufrichtigen Beileids versichert.«
»Darf ich Sie um etwas bitten, Bürger General?«
»Um was?«
»Ich möchte, daß Rabjas Leichnam auf ordentliche Weise bestattet wird, so, wie ihr Glaube es verlangt, mit dem Gesicht nach Mekka.«
Lannes wandte sich an den Dragoneroffizier neben ihm.
»Leutnant, Sie werden sich darum kümmern. Au-
ßerdem brauche ich ein Pferd für den Bürger Topart.«
»Jawohl, General.«
Auf Befehl des Leutnants brachte ein Dragoner ein reiterloses Kavalleriepferd. Nur mit großer Anstrengung schaffte ich es in den Sattel. Ich fühlte mich am Ende meiner Kräfte. Lannes bat mich, ihn zu begleiten, und wir entfernten uns vom Ort der blutigen Auseinandersetzung.
Zwiespältige Gefühle begleiteten mich. Ich kam mir vor wie ein Verräter, weil ich Rabja, Jussuf und all die anderen hier zurückließ. Um mich zu beruhigen, hämmerte ich mir förmlich ein, daß ich ihnen nicht mehr helfen konnte. Und ein Teil von mir war sogar froh, von dem Ort wegzukommen, an dem die Leichen all jener lagen, die am Abend zuvor noch so voller Lebens-freude gewesen waren.
Der morgendliche Donner hatte die Oase in eine Stätte des Todes verwandelt, über der bereits die hung-rigen Wüstengeier kreisten. Während ich, an der Seite des Generals, auf die nordöstliche Felswand zuhielt, war mir, als spürte ich die anklagenden Blicke der Abnaa Al Salieb im Rücken.