8. KAPITEL
Der Sultan des Feuers
ls Onkel Jean und ich uns am Nachmittag auf den A Weg zu Maruf ibn Saad machten, um ihn zu unserem gemeinsamen Besuch in der Bibliothek des Ägyptischen Instituts abzuholen, verließ ich unser Haus mit gemischten Gefühlen.
Mein Onkel bemerkte meinen zweifelnden Blick zu-rück. »Was hast du, Bastien? Fällt es dir schwer, unseren Gast allein zu lassen?«
»Vielleicht schwebt Ourida wirklich in Gefahr. Auch wenn das heute vormittag ein falscher Alarm gewesen sein sollte, könnten diejenigen, die ihr im Tempel das Leben nehmen wollten, ihren Plan weiterverfolgen.
Außerdem wissen wir nicht, auf wen der Soldat im Garten wirklich geschossen hat. Vielleicht war es nur ein harmloser Dieb. Vielleicht war er aber auch ein Spion oder ein Attentäter wie jener, der Abul auf dem Gewissen hat. Ja, Onkel, mir ist tatsächlich nicht wohl bei dem Gedanken, Ourida allein zu lassen.«
»Sie ist nicht allein. Wir haben die Wachen verstärkt, und ein Posten steht direkt vor ihrem Zimmer.
Bei uns im Haus ist sie sicher.«
»Hoffen wir es«, murmelte ich.
Unvermittelt begann mein Onkel zu lachen. »Ich glaube, Bastien, du bist verliebt.«
»Verliebt?« Ich schüttelte den Kopf. »Unsinn, Onkel, in wen denn?«
Meine Reaktion fiel wohl nur deshalb so heftig aus, weil Onkel Jean die Wahrheit gesagt hatte. Ourida hatte mich in ihren Bann gezogen. Ihre Schönheit. Das Geheimnis, das sie umgab. Die tödliche Gefahr, in der sie schwebte und vor der sie bei mir Schutz gesucht hatte. Das alles ließ mich für sie entflammen. Aber da war noch mehr. Ich erinnerte mich daran, wie sie einige Stunden zuvor in meinen Armen gelegen hatte. Wie vertraut sie mir erschienen war! Und wenn ich es noch so vehement bestritt, ich hatte eine heftige Zuneigung zu Ourida gefaßt.
Onkel Jean blieb mitten auf der Straße stehen und deutete auf unser Haus. »In wen du verliebt bist, ist nicht schwer zu erraten, mein Junge. Ich kann dich verstehen. Eine geheimnisvolle Schönheit in Gefahr bringt das Herz fast eines jeden Mannes zum Schmelzen.«
Eben noch heiter, fuhr er mit einem ernsten Unterton fort: »Aber sei vorsichtig, Bastien. Wir kennen nicht die Hintergründe dessen, was ihr im Tempel angetan werden sollte. Wir wissen nicht, wer sie ist, woher sie kommt, welche Ziele sie verfolgt. Oder hat sie mit dir darüber gesprochen?«
»N-nein«, antwortete ich, vielleicht ein wenig zu hastig. »Du weißt doch, daß Ourida nicht spricht.«
»Es hätte ja sein können, daß sie ihr Schweigen dir gegenüber gebrochen hat. Immerhin scheint sie dir ein gewisses Vertrauen entgegenzubringen. Du würdest es mir doch sagen, wenn du etwas von ihr erfährst, oder?«
»Aber natürlich, Onkel.«
Ich konnte nur hoffen, daß ich bei diesen Worten nicht rot wurde. Mein Gewissen drängte mich, ihm von meinem seltsamen Erlebnis am Vormittag zu berichten.
Doch ich schwieg.
Über meine Beweggründe war ich mir selbst nicht recht im klaren. Bis zu diesem Tag war ich meinem Onkel gegenüber stets loyal gewesen. Aber seit ich Ourida kannte, hatte sich etwas in meinem Leben verändert. Ich fühlte mich ihr verpflichtet, ohne daß ich es hätte begründen können. Es schien ein Teil ihres Geheimnisses zu sein. Mehr noch, ich selbst war ein Teil davon. Das glaubte ich zumindest, wenn ich an meine Vision dachte.
Ein schweres, mit Holzbalken beladenes und von zwei Ochsen gezogenes Fuhrwerk rumpelte auf uns zu, und eilig setzten wir unseren Weg fort. Ich war froh darüber, denn ich fürchtete, dem prüfenden Blick meines Onkels nicht mehr lange standhalten zu können.
Der Ochsenkarren, den zwei Soldaten begleiteten, rollte stadtauswärts. Daraus schloß ich, daß die Ladung zur Verstärkung der Schanzen dienen sollte, die General Bonaparte rings um Kairo zum Schutz gegen einen Angriff der Mamelucken oder der Engländer anlegen ließ. Die Einheimischen, die das Ochsengespann führten und die Ladung zu beiden Seiten sicherten, blickten mürrisch drein. War es ihnen bloß lästig, in der Hitze des frühen Nachmittags arbeiten zu müssen? Oder galt ihre Verstimmung den fremden Soldaten, denen sie dienten? Zwar achtete Bonaparte streng darauf, daß alle Ägypter für ihre Dienste angemessen bezahlt wurden und daß man niemanden zur Fronarbeit zwang, aber ich wäre mir seltsam vorgekommen, hätte ich für Fremde arbeiten müssen, die mein Land besetzt hielten.
Mir war die Ergebenheit, mit der sich die Bewohner Kairos den französischen Eroberern gefügt hatten, bis-weilen unbegreiflich. Was Aflah heute morgen über meine Landsleute gesagt hatte, wies in eine andere Richtung. Ich nahm nicht an, daß sie der einzige Mensch in Kairo war, der solche Ansichten hegte.
Wir bekamen Aflah nicht zu Gesicht, was ich bedauerte. Nicht wegen ihrer Ansichten, sondern weil sie eine hübsche Erscheinung war, selbst – oder erst recht –
dann, wenn sie in Wut geriet. Maruf ibn Saad begrüßte uns wie alte Freunde und war innerhalb weniger Minuten bereit, uns zum Ägyptischen Institut zu begleiten.
Auf unserem Weg durch die belebten Straßen, wo Händler aller Art laut ihre Waren feilboten, plauderten wir munter in französischer Sprache. Mit keinem Wort erwähnte Maruf das Verhalten seiner Tochter, und er erkundigte sich auch nicht nach dem Vorfall auf unserem Anwesen, obwohl er zweifelsohne etwas davon mitbekommen haben mußte. Veranlaßte ihn die Höflichkeit, derart zurückhaltend zu sein? Oder mußte er nichts fragen, weil er ohnehin gut unterrichtet war?
Noch immer schwelte in mir der Verdacht, er könnte auf die eine oder andere Weise etwas mit dem Vorfall zu tun haben. Aber ich konnte nichts beweisen, es blieb ein bloßer Verdacht.
Als wir die Eingangshalle der Bibliothek betraten, verlangsamten sich Marufs Schritte, und vor der Tür zum Lesesaal blieb er fast stehen.
»Nur keine Scheu«, ermunterte Onkel Jean unseren Gast. »Ein Gelehrter wie Sie ist hier stets willkommen.
Die Bibliothek steht jedermann, der sein Wissen zu er-weitern sucht, offen.«
»Jedermann?« fragte Maruf. »Gilt das auch für den einfachen Soldaten oder den gemeinen Diener?«
»Selbstverständlich«, antwortete ich. »In Frankreich ist das Volk für die Gleichheit aller auf die Straße gegangen und hat sein Blut vergossen für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Jedermann hat das Recht, zu lesen und zu lernen.«
»Das ist lobens- und bewundernswert«, seufzte der Gelehrte. »Aber Sie haben mein Verhalten falsch gedeu-tet. Ich habe meine Schritte nicht aus Scheu verlangsamt, sondern aus Ehrfurcht vor den versammelten Gedanken so vieler kluger Männer, deren wir gleich teilhaftig werden. Ich habe ein stilles Gebet zu Allâh gesandt zum Dank dafür, daß er mich durch Sie, meine Freunde, hergeführt hat.«
Wir betraten den großen Lesesaal, in dem nicht sonderlich viel Betrieb herrschte. Die meisten Stühle an dem langgestreckten Tisch waren leer. Nur eine Handvoll französischer Gelehrter und zwei oder drei Offiziere widmeten sich schweigsam ihrer Lektüre. Sie schau-ten zu uns auf, ein wenig länger vielleicht als sonst, weil ein Ägypter hier wohl willkommen, aber doch kein alltäglicher Anblick war. Mein Onkel war ein bekannter Mann, und ein paar der Besucher nickten ihm zu, was er lächelnd erwiderte. Wir setzten uns, wobei Onkel Jean und ich Maruf in die Mitte nahmen. Man sah, daß er es nicht gewohnt war, auf einem Stuhl zu sitzen.
Mein Onkel wandte sich in dem hier üblichen Flü-
sterton an ihn. »Gibt es ein bestimmtes Buch oder ein besonderes Wissensgebiet, das Sie interessiert, mein Freund?«
»Sind hier Bücher über die Kreuzritter zu finden?«
»Eine ausgezeichnete Idee. Die gibt es ganz sicher.«
Maruf blickte sich forschend um. »Dann müssen wir sie suchen.«
»Das wird nicht nötig sein«, entgegnete Onkel Jean mit einem kleinen Lächeln. »Es gibt Angestellte, die das für uns erledigen. Sie kennen sich bestens aus.«
Er winkte einen der Bediensteten heran, um ihm unseren Wunsch vorzutragen.
Der Mann verschwand zwischen den langen Reihen hoher Regale und kehrte schon wenige Minuten später mit einem Stapel Bücher zurück, den er mit elegantem Schwung vor uns auf den Tisch legte. Gleich darauf begann er nach weiteren Büchern über die christlichen Kreuzfahrer im Heiligen Land zu suchen.
Maruf sah ihm nach und nickte anerkennend. »Die Franzosen haben ihr Bibliothekswesen gut organisiert, wie alles, was sie tun. So fällt es leicht, sich Wissen an-zueignen.«
»Wissen ist Macht«, erwiderte Onkel Jean. »Das hat allerdings kein Franzose gesagt, sondern ein Engländer.«
Wir steckten unsere Nasen in die Bücher. Ich las die französische Übersetzung einer Abhandlung über die Geschichte der Kreuzzüge, verfaßt von einem niederländischen Gelehrten im Jahr 1669. Er berichtete über den ersten Kreuzzug normannischer und lothringischer Ritter, die im Jahr 1099 den Ungläubigen die Stadt Jerusalem entrissen, aus der daraufhin ein christliches Königreich wurde. Dann ging er über zum zweiten Kreuzzug in der Mitte des zwölften Jahrhunderts, ausgelöst durch den Verlust Edessas an die Seldschuken; insgesamt ein Feldzug, in dem sich die christlichen Heere wenig ruhmreich schlugen. Erfolgreicher erschien da der dritte Kreuzzug, der im Jahr 1187 zur Rückeroberung des an den ägyptischen Sultan Saladin gefallenen Jerusalem führte, gefolgt von der Einnahme Akkons anno 1191 durch den englischen König Richard Lö-
wenherz und den französischen König Philipp II. August.
Vor meinen Augen verschwammen die Buchstaben und wichen Bildern, die mir wie Illustrationen des eben Gelesenen erschienen und gleichzeitig so plastisch vor mir standen, als hätte ich die Szenen leibhaftig miterlebt. Ich hörte das Klirren der Waffen, das Wiehern der Pferde und das Knarren des Sattelzeugs. Ich spürte den heißen Atem der Wüste im Gesicht, fühlte den feinen Sand, für den Kleidung kein Hindernis war und der wie eine zweite Haut auf mir klebte. Ich ritt mit meinen Brüdern in den Kampf für unseren gütigen, allmächtigen Gott und seinen Sohn Jesus Christus. Vor uns füllte eine lange Reihe Ungläubiger den Horizont, Berittene und Fußkämpfer, Bogenschützen und Männer mit Steinschleudern. Ihre dunklen, sonnenverbrannten, bärtigen Gesichter wirkten fest entschlossen, ganz so wie unsere. Wir hoben unsere Schwerter, trieben die Pferde an und preschten auf die feindlichen Reihen zu …
Ich schüttelte den Kopf und fuhr mir über die Augen, um die Bilder einer Schlacht loszuwerden, die sich viele Jahrhunderte zuvor zugetragen hatte und die mir doch auf eigentümliche Weise gegenwärtig erschien.
Die Walstatt verblaßte. Ich saß wieder – oder noch immer – an unserem Tisch in der Bibliothek. Statt langer Reihen bis an die Zähne bewaffneter Krieger umgaben mich nicht enden wollende Regale voller Bücher.
Die Wüstenschlacht schien nur ein Trugbild gewesen zu sein, aber allmählich fragte ich mich, was Einbildung und was Wirklichkeit war. War ich in Wahrheit ein Kreuzritter, der all dies hier nur träumte?
Onkel Jean bedachte mich mit einem besorgten Blick. »Was ist los mit dir, Bastien? Du atmest so schwer, und deine Wangen sind gerötet. Geht es dir nicht gut?«
»Nur eine kurze Atemnot«, beschwichtigte ich.
»Willst du nach draußen gehen an die frische Luft?«
»Danke, nicht nötig, es geht schon wieder.«
Ich beugte mich über mein Buch und versuchte, mich auf die Lektüre zu konzentrieren. Der vierte, der fünfte, der sechste und der siebte Kreuzzug lagen noch vor mir.
Bislang hatte ich nicht den geringsten Hinweis auf die geheimnisvollen Ritter mit dem Doppelkreuz entdeckt.
Ziemlich entmutigt blätterte ich weiter und war froh, als ich durch eine allgemeine Unruhe abgelenkt wurde.
Die Bibliotheksbesucher auf der mir gegenüberliegenden Tischseite blickten einer nach dem anderen erstaunt auf. Offenbar war in der Tür, die sich in meinem Rücken befand, jemand erschienen, den sie interessanter fanden als die Bücher, in denen sie lasen. Ich wandte den Kopf und erblickte den Auslöser der Unruhe.
Ein kleiner, drahtiger Mann in ausgebleichter Generalsuniform stand in der Tür und ließ seinen Blick durch den Lesesaal schweifen. Die leicht gebeugte Haltung und die ausgeprägte, zur Spitze hin gebogene Nase verstärkten noch den Eindruck eines Raubvogels, der sein Jagdrevier nach Beute absucht. Eine dicke dunkle Locke fiel in die Stirn und verlieh dem Gesicht einen Hauch jugendlicher Unbekümmertheit, der im Widerspruch zu den ansonsten strengen Zügen stand. Obwohl der Offizier jung genannt werden konnte – er hatte sein dreißigstes Lebensjahr noch nicht vollendet –, verriet der Ausdruck von Abgeklärtheit in seinen leicht zusammengekniffenen Augen, daß er schon einiges erlebt hatte, mehr als mancher andere Mann in seinem ganzen Leben.
Alle Besucher der Bibliothek erhoben sich von ihren Plätzen und näherten sich dem Eintretenden, um ihn zu begrüßen. Auch Onkel Jean, Maruf ibn Saad und ich standen auf und warteten geduldig, bis wir an der Reihe waren, mit Napoleon Bonaparte zu sprechen. Meinem Onkel gegenüber schlug der Oberbefehlshaber unserer Armee einen besonders freundlichen Ton an.
Sie hatten einander kennengelernt, als Bonaparte Anfang des Jahres in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden war. Mich begrüßte er knapp, aber höflich, und dann ruhte sein Blick forschend auf Maruf.
»Ein Ägypter in unserer Bibliothek, das freut mich sehr«, sagte er schließlich in jenem kantigen Tonfall, dem man anhörte, daß der gebürtige Korse die franzö-
sische Sprache erst in späten Jahren richtig erlernt hatte. »Ich hoffe, bald noch viel mehr von Ihren Landsleu-ten hier zu sehen. Wenn die Kulturen des Morgen- und des Abendlandes sich einander öffnen und gegenseitig befruchten, kann etwas Neues, Großes daraus entstehen.«
Maruf verneigte sich und sagte mit kaum mehr Akzent in seinem Französisch als Bonaparte: »Es ist mir eine Ehre, den berühmten Sultan des Feuers kennenzulernen. Um so mehr, als er nicht nur ein unschlagbarer Feldherr ist, sondern auch ein Förderer der Wissenschaften.«
Sultan des Feuers – diesen Namen hatten die um blumige Wendungen nie verlegenenen Orientalen Bonaparte gegeben. Und dieser schien sich, wie ich seinem Lächeln entnahm, über die Bezeichnung zu freuen.
Mein Onkel richtete wieder das Wort an Bonaparte:
»Bürger General, darf ich Ihnen meinen Nachbarn Maruf ibn Saad vorstellen? Er hat meinen Neffen und mich heute in die Bibliothek begleitet.«
»Heute und hoffentlich noch an vielen anderen Tagen«, sagte Bonaparte, zu Maruf gewandt. »Die Bibliothek des Instituts von Ägypten steht Ihnen zur Verfü-
gung, wann immer Sie es wünschen. Fühlen Sie sich hier wie in Ihrer eigenen, die gewiß auch gut sortiert ist.«
Maruf nickte. »Das ist wahr, aber woher weiß der Sultan des Feuers das?«
»Natürlich ist mir der Name Maruf ibn Saad bekannt. Sie zählen zu den bedeutendsten Gelehrten dieses Landes. Übrigens werden Sie Ihre berühmte Abhandlung über die Bedeutung der Mathematik für die anderen Wissenschaften hier vergeblich suchen. Ich habe sie schon vor geraumer Zeit ausgeliehen und lese sie jetzt zum dritten Mal. Wir müssen uns bei nächster Gelegenheit unbedingt darüber unterhalten!«
Der Ägypter verbeugte sich leicht. »Sehr gern.«
Bonaparte wandte sich an Onkel Jean. »Bürger Cordelier, haben Sie etwas Zeit für mich?«
»Immer, das wissen Sie doch, Bürger General«, erwiderte mein Onkel und begleitete Bonaparte hinaus.
Alle anderen setzten sich wieder, um ihre Lektüre fortzusetzen. Mir aber fiel es nun noch schwerer als zuvor, mich auf mein Buch über die Kreuzzüge zu konzentrieren. Ich hatte Bonaparte nicht zum ersten Mal gesehen, und doch hatte er tiefen Eindruck auf mich gemacht.
Vielleicht, weil er mir so nahe gewesen war.
Obwohl nur einige Jahre älter als ich, hatte er bereits mehr erreicht als die meisten anderen Menschen auf diesem Planeten. Vom armen Militärschüler, der sein Studium nur dank eines Stipendiums absolvieren konnte, war er innerhalb weniger Jahre zu einem der mächtigsten Männer Frankreichs aufgestiegen. In Gedanken ging ich die bedeutendsten Stationen seiner Karriere durch.
Im Jahr 1793 hatte er sich als Artillerieoffizier bei der Belagerung Toulons hervorgetan und sich dadurch die Beförderung zum Brigadegeneral verdient. Zwei Jahre später war er maßgeblich an der Niederschlagung des Pariser Royalistenaufstands beteiligt gewesen, was ihm die Ernennung zum kommandierenden General der Heimatarmee eingetragen hatte. 1796 hatte er den Oberbefehl über die Italienarmee übernommen, die er zu solch glorreichen Siegen über die Österreicher und ihre Verbündeten führte, daß ganz Frankreich – soweit es sich nicht der royalistischen Sache verschrieben hatte
– Heldengesänge auf ihn anstimmte. Nach der Neuord-nung Mittelitaliens, bei der er sich auf den Feldern der Politik und der Diplomatie als ebenso geschickt erwiesen hatte, wie er es als General war, hatte niemand ihm den Wunsch abschlagen können, eine Armee nach Ägypten zu führen.
Daß die Franzosen an der englischen Küste landeten, hatte sich als undurchführbar erwiesen, deshalb wollte Bonaparte die Engländer in ihren Kolonien schlagen.
Das Direktorium in Paris hatte seinem Plan begeistert zugestimmt. Allerdings munkelte man, das Direktorium sei froh gewesen, den immer mächtiger werdenden Korsen möglichst weit weg schicken zu können. Hier in Ägypten stellte Bonaparte seine Fähigkeiten als Feldherr und als Staatsmann erneut unter Beweis. Auch wenn er dem ägyptischen Diwan, den er eingesetzt hatte, zahlreiche Verwaltungsaufgaben übertragen hatte, regierte doch in Wahrheit er das besetzte Land, war hier so einflußreich, wie es das Direktorium in Frankreich war.
In Bonaparte vereinigte sich ein genialer Verstand mit Wagemut und Eifer. Das Glück des Tüchtigen war ihm hold, und sein Charisma riß nahezu jeden mit, an der Verwirklichung seiner Pläne zu arbeiten, mochten sie noch so hochfliegend erscheinen. Auch in dem Moment, als er den Lesesaal betrat, hatte ich es gespürt.
Obwohl von kleiner Gestalt, zog er alle Blicke auf sich und bildete den Mittelpunkt jeder Gesellschaft. Die Soldaten liebten ihn und jubelten ihm zu, wenn er ihre Reihen abschritt oder an ihnen vorüberritt. Sie hatten nicht vergessen, daß er aus ärmlichen Verhältnissen stammte und daher viel mit ihnen gemeinsam hatte.
Blieb nur zu hoffen, daß die große Macht, über die er verfügte, ihn die Sorgen und Bedürfnisse der einfachen Leute nicht vergessen ließ.
»Der Sultan des Feuers ist ein bemerkenswerter Mann, klein an Gestalt, aber groß an Verstand und Tatkraft. Gebe Allâh, daß in ihm auch die Liebe zu den vielen tausend Menschen, für die er verantwortlich ist, groß sein möge!« Maruf ibn Saads Worte rissen mich aus meinen Gedanken, und ich starrte ihn verblüfft an.
»Sie haben ausgesprochen, was auch mich just in diesem Moment beschäftigte«, gestand ich. »Fast so, als hätten Sie meine Gedanken gelesen.«
»Das habe ich auch, jedenfalls in gewisser Hinsicht.
Sie haben mehrmals zu der Tür gesehen, durch die Ihr Onkel mit dem Sultan des Feuers gegangen ist. Ihr Blick war nachdenklich, aber auch voller Bewunderung. In Anbetracht der vorausgegangenen Begegnung war es nicht sehr schwer, ihre Gedanken zu lesen, wie Sie es ausdrückten.«
Ich setzte ein entschuldigendes Lächeln auf. »Zuge-geben, meine Gedanken drehen sich derzeit mehr um den General als um die Kreuzzüge von Männern, die schon seit Jahrhunderten zu Staub zerfallen sind.«
»Staub ist zuweilen gefährlicher als Schwerter und Kanonen. Er dringt durch jede Ritze wie der Wüstensand im Sturm, setzt sich überall fest und läßt sich nur schwer wieder entfernen. Mit den Ereignissen der Vergangenheit verhält es sich ähnlich. Auf den ersten Blick sind sie vergessen, dabei haften sie unsichtbar an allem, auch an uns, und sind so Teil unseres Lebens.«
»Was wollen Sie damit sagen, Maruf ibn Saad?« Er machte eine wegwerfende Handbewegung und betrachtete den Bücherstapel vor uns. »Nichts weiter. Es war nur so ein Gedanke, der mir angesichts der vielen alten Schriften in den Sinn kam. Vielleicht sollten wir uns eine Pause gönnen, um unseren Geist zu erfrischen.«
Freudig stimmte ich zu, und wir gingen hinaus in den Innenhof, der von Palmen und Mangobäumen beschattet wurde. Eine Schwalbe mit roter Brust floh vor uns in den blauen Himmel, als wir zu dem kleinen Teich gingen und uns dort auf einer Steinbank niederließen. Ein Katzenwels trübte das Wasser, indem er so heftig im Schlamm wühlte, als wollte er sich schnellstmöglich zum Nil durchgraben.
»Dem Fisch scheint es hier nicht zu gefallen«, scherz-te ich. »Entweder will er sich im Schlamm verstecken, oder er versucht, sein wäßriges Gefängnis zu verlassen.«
»Dann geht es ihm nicht anders als vielen Menschen in dieser Stadt«, erwiderte Maruf ibn Saad unerwartet ernst. »Auch wenn die Franzosen sich alles in allem bemühen, uns gerecht zu behandeln, gibt es doch viele, die sich gegen die fremde Herrschaft sträuben und sie lieber heute als morgen abschütteln würden.«
»Den Eindruck habe ich nicht. Natürlich gibt es immer einzelne Unzufriedene, aber im allgemeinen scheinen die Ägypter sich überraschend schnell an uns ge-wöhnt zu haben.«
»Das Schnelle ist nicht immer auch das Tiefgreifen-de, im Gegenteil. Die Sache mit den französischen Soldaten vor meinem Haus und die ablehnende Haltung meiner Tochter sollten Ihnen warnende Beispiele sein, Monsieur Topart. Und heute vormittag, nachdem Sie und Ihr Onkel mich verlassen hatten, gab es auf Ihrem Anwesen Tumult. Ich habe sogar einen Schuß gehört.
Ist da etwas Ernstes vorgefallen?«
Er brachte die Frage beiläufig an, aber ich schluckte eine unbedachte Antwort lieber hinunter. Ich wollte nichts verraten, was Ourida betraf.
Der Verdacht, daß Maruf selbst hinter dem Ganzen steckte, keimte erneut in mir auf. Wollte er jetzt durch eine unverfänglich erscheinende Plauderei das in Erfahrung bringen, was sein Spion einige Stunden zuvor nicht herausgefunden hatte?
»Wir wissen selbst nicht genau, was geschehen ist«, sagte ich vage und log damit noch nicht einmal. »Ein Soldat hat auf eine Gestalt geschossen, die er im Garten gesehen hat. Vielleicht war es ein Dieb, vielleicht hat der Soldat sich aber auch getäuscht.«
»Wie ich hörte, haben die Soldaten Ihr Haus gründlich durchsucht.«
»Nach dem Vorfall mit dem Attentäter, mit dem ich ein tödliches Duell auszustehen hatte, hielten wir es für besser, Vorsicht walten zu lassen.«
»Gewiß, das war sehr vernünftig.«
Ich hatte den Eindruck, daß er mir nicht glaubte, und war froh, als ich meinen Onkel mit eiligen Schritten auf uns zukommen sah.
Er breitete entschuldigend die Arme aus. »Maruf ibn Saad, es tut mir sehr leid, aber mein Neffe und ich werden von dringenden Geschäften fortgerufen. Lassen Sie sich dadurch aber bitte nicht stören, die Bibliothek steht Ihnen, wie General Bonaparte gesagt hat, zur Verfügung.«
»Dann werde ich mich gleich wieder in die Bücher vergraben«, antwortete der Ägypter und erhob sich.
»Möge Allâh Sie beide auf Ihrem Weg begleiten! Wir sehen uns sicher bald wieder.«
Als er uns verlassen hatte, stand auch ich auf. »Was haben wir denn plötzlich für dringende Geschäfte, Onkel?«
»Wir müssen einiges für den Abend vorbereiten. Ein hoher Gast hat sich zum Essen angemeldet.«
»Ein hoher Gast?«
»Bonaparte.«
»Aber … wieso kommt er zu uns?«
»Er will unbedingt Ourida kennenlernen.«