27. KAPITEL

Vergangenheit und Gegenwart

on einem Augenblick zum anderen wich die kalte V Wüstennacht einem warmen Tag, aber ich wehrte mich dagegen. Meine Liebe zu Ourida machte es unerträglich. Jene Zeit und jenen Ort zu verlassen bedeutete, die Geliebte endgültig zu verlieren. Ich spürte noch den Stich, den unser Abschied meinem Herzen versetzt hatte, eben erst, und doch war es sechs Jahrhunderte her.

Dabei war mir bewußt, daß die Trennung eine endgültige gewesen war, hatte ich doch schon einmal erlebt, wie jene Nacht endete – mit meinem Tod.

Deutlich sah ich Gilbert d’Alamar und seine Ordensbrüder in ihren schwarz-weißen Mänteln mit dem doppelten Kreuz vor mir. Ich sah mich gegen sie kämpfen, nicht um mein Leben, sondern um einen Vorsprung für Ourida. Ich hörte das Klirren der aufeinan-dertreffenden Schwerter, die Schreie der Männer, den Hufschlag der Pferde. Und ich spürte die Klingen, die wieder und wieder in meinen Leib fuhren und das Leben aus mir herausschnitten.

Wer konnte schon von sich behaupten, daß er seinen eigenen Tod erlebt hatte und dennoch am Leben war?

Ich war nicht sicher, ob das Schicksal mich begünstigte oder quälte. Ouridas Verlust war eine unsagbare Pein, und doch hatte ich auch Glück, hatte ich sie doch nach Jahrhunderten wiedergetroffen, in einem neuen Leben.

So viele Seltsamkeiten, so viele Fragen! In meinem Kopf schwirrte es wie in einem Hornissennest, und Schwindel ergriff von mir Besitz. Aber war das ein Wunder, wenn Vergangenheit und Gegenwart sich auf solche Weise vermischten? Wenn man von dem Vergangenen nicht nur hörte oder las, sondern es erlebte?

Mir wurde übel. Ich drehte mich zur Seite und übergab mich.

»War es zuviel für dich, Musâfir?« fragte eine tiefe, sanfte Stimme.

Jussuf, der Scheik der Abnaa Al Salieb, beugte sich besorgt über mich.

Ich riß ein Grasbüschel aus und wischte mir den Mund ab, um ihn anschließend mit etwas Wasser aus dem Rinnsal auszuspülen. Dabei hielt der Scheik mich an den Schultern wie ein Vater, der den kranken Sohn stützt. Ich spürte eine seltsame Vertrautheit zwischen uns, obwohl wir einander erst seit wenigen Tagen kannten. Ich trank noch von dem Wasser, bevor ich mich wieder an den Palmenstamm lehnte.

Jussuf griff nach einem herabgefallenen Palmwedel und fächerte mir damit Luft zu. »Ich mache mir große Vorwürfe. Du bist zu lange in der Vergangenheit gewesen, hast zuviel erlebt für die wenigen Stunden, die wir hier sind. Ich hätte mehr Rücksicht auf deinen geschwächten Zustand nehmen sollen.«

»Es geht schon wieder, nur noch einen Augenblick«, sagte ich und blickte zur Sonne auf.

Sie war ein gutes Stück nach Westen gewandert, und die Palmen warfen lange Schatten. Bald würde der Abend über das Tal der Abnaa Al Salieb hereinbrechen.

Jussuf hatte meinen Blick bemerkt. »Wir sollten jetzt ins Lager zurückkehren und etwas essen. Das wird uns beiden guttun.«

Ich ging darauf gar nicht ein, sondern fragte: »Wie hast du das gemacht, Jussuf? Wie hast du mich in die Vergangenheit versetzt?«

» Gemacht habe ich gar nichts. Ich war dir lediglich eine Unterstützung. Alles war in dir und hat nur eine Hilfe gebraucht, einen Antrieb.«

»Ich dachte, du machst etwas mit deinen Augen.«

»Mit meinen Augen?« Er lachte auf. »Ich benutze meine Augen hauptsächlich zum Sehen wie alle anderen Menschen auch. Nein, vonnöten waren meine Augen nicht, aber sie waren eine Hilfe. Du hast in sie hinein-gesehen wie in einen Spiegel und dabei dich selbst erblickt – oder den, der du einmal warst.«

»Du stellst dein Licht unter den Scheffel, Jussuf. Oh-ne dich hätte nichts von all dem gesehen. Was ist das für eine Gabe? Woher kommt sie?«

»Hat Ourida dir nicht gesagt, daß es Menschen mit besonderen Gaben gibt? Zu fragen, woher diese Fähigkeiten kommen, hieße, Allâhs Pläne erforschen zu wollen. Wer will sich das anmaßen? Du?«

»Ich will mich nicht an Gottes Stelle setzen. Ich möchte nur verstehen! Warum seid ausgerechnet ihr mit dieser Gabe gesegnet, Ourida und du?«

»Sprichst du von der früheren Ourida oder der jetzigen?«

»Bleibt sich das nicht gleich? Aber gut, sprechen wir von der jetzigen.«

»Auch ihr hat Allâh seine Pläne schwerlich offenbart. Aber wenn du eine irdische Erklärung dafür suchst, daß sowohl Ourida als auch ich diese Gabe besitzen, wirst du dich vielleicht mit der Antwort zufrie-dengeben, daß sie die Tochter meiner Schwester ist.«

»Du bist … ihr Onkel?«

»Auch so könnte man es ausdrücken«, sagte er und erhob sich lächelnd. »Jetzt aber, Musâfir, sollten wir wirklich ins Lager zurückkehren, damit du dich vor dem Essen noch etwas ausruhen kannst. Heute abend stehe ich dir Rede und Antwort. Aber solange wir nicht ein gutes Stück Hammelfleisch im Magen haben, sage ich nichts mehr!«

Er wollte mir aufhelfen, doch ich kam aus eigener Kraft auf die Beine. Anfangs fühlte ich mich etwas wacklig, aber nach ein paar Schritten ging es. Vermutlich hatte Jussuf recht, und ich brauchte dringend etwas Festes im Magen, wenn ich auch keinen Hunger verspürte. Als wir den ruhigen Platz verließen, an dem ich

– zwar nicht leibhaftig, aber doch mit dem Geist – in die Vergangenheit gereist war, beschlich mich leise Wehmut. Mir war, als ließe ich ein Stück von mir selbst zurück.

Als wir auf die Zelte der Abnaa Al Salieb zugingen, tauchte vor meinem geistigen Auge ein anderes, viel kleineres Zeltlager auf: das Lager Rassams, und ich sah wieder die toten Beduinen vor mir liegen. Das schreckliche Bild aus der Vergangenheit überlagerte die friedliche Gegenwart, und ich spürte, wie eine eisige Hand nach meinem Herzen griff. Ganz so, als hätte ich nichts Vergangenes gesehen, sondern Zukünftiges.

»Ist dir nicht wohl?« fragte Jussuf.

»Doch, es geht schon«, sagte ich, weil ich befürchtete, er würde mich sonst schonen wollen und mir an diesem Abend keine weiteren Antworten geben. »Ich bin nur etwas durcheinander. Das ist wohl kein Wunder nach allem, was ich heute erfahren habe.«

Wir setzten unseren Weg fort, und lärmende Kinder kamen uns entgegen. Sie tobten ausgelassen um uns herum und fanden Gefallen daran, sich von ihrem Scheik necken zu lassen. Seine Unbekümmertheit überraschte mich. Wurde ein Mann mit seiner Gabe, seinem Wissen, von seiner Verantwortung nicht geradezu erdrückt? Vielleicht war genau das die Antwort: Durch seinen unbeschwerten Umgang mit den Kindern schuf er sich ein Gegengewicht zu all den ernsten Dingen, die ihn beschäftigen mussten.

Nach Rabja suchte ich in der Kinderschar vergebens.

Ich fand sie in der Nähe von Jussufs Zelt, wo sie uner-müdlich ihren Ball in die Luft warf und wieder auffing, als gäbe es auf der Welt nichts außer ihr und diesem Spielzeug. Dabei wirkte sie aber nicht fröhlich, wie ich es von einem spielenden Kind erwartete, sondern ernst und geistesabwesend. War sie in Gedanken bei ihrer Mutter, ihrem Vater? Durchlebte sie noch einmal das Gemetzel, bei dem ihre Eltern ums Leben gekommen waren?

Ich glaubte, mich gut in das Mädchen hineinverset-zen zu können. Auch ich hatte meine Eltern früh verloren, und so wie Jussuf sich Rabjas angenommen hatte, hatte sich damals Onkel Jean um mich gekümmert. Die Zeit im Kloster St. Jacques mochte in der Rückschau eine schöne gewesen sein, aber es hatte doch Momente gegeben, in denen ich mit meinem Schicksal und mit Gott haderte.

Onkel Jean hatte sich nach Kräften um mich ge-kümmert, aber er war nun einmal nicht mein Vater, und die Mönche waren trotz aller Herzlichkeit nicht meine Familie. Manchmal, wenn ich mich unbeobachtet glaubte, hatte ich, den Zeichenblock auf den Knien, dagesessen und einfach nur geweint.

Unsere Schritte rissen Rabja aus ihrer Versunkenheit, und bei unserem Anblick trat sogar ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht. Sie warf mir den Ball zu, aber ich war wohl zu geschwächt. Obwohl es ein einfacher Wurf war, griff ich daneben. Statt meiner hob der Scheik ihn auf und warf ihn wieder zu Rabja, die hochsprang und ihn fing.

»Musâfir fühlt sich nicht recht wohl«, erklärte Jussuf dem Kind. »Er kann erst morgen wieder mit dir Ball spielen.«

Enttäuschung verdüsterte Rabjas Züge.

Ich trat zu ihr, strich ihr übers Haar und sagte auf arabisch:

»Wenn du magst, komm mit ins Zelt. Dann üben wir noch ein wenig die Sprache der Franken.«

Sie warf Jussuf einen fragenden Blick zu, und er ge-währte ihr die Erlaubnis durch ein Lächeln.

Im Zelt streckte ich mich auf meinem Lager aus und spürte sogleich, wie gut mir das tat. Obwohl ich den Tag über nicht viel mehr getan hatte, als im Schatten der Palmen zu sitzen, empfand ich eine Erschöpfung, als hätte ich die lange Schlacht bei den Hörnern von Hattin und all die folgenden Abenteuer Roland de Girauds leibhaftig durchgestanden.

Ich zwang mich, nicht mehr daran zu denken. Es würde mir helfen, für eine Weile abgelenkt zu sein. Ich drehte mich auf die Seite, stützte mich auf den Ellbogen und sah Rabja an, die meinen Blick mit abwartender Neugier erwiderte. Unvermittelt setzte ich ein Grinsen auf, und auch Rabja, durch mich angesteckt, grinste breit. Dann lachte sie.

»Lachen«, sagte ich. Es war das erste französische Wort, das Rabja an diesem Tag lernen sollte.