4. KAPITEL
Der Dolch des Mörders
buls Haus stand in einem der westlichen Außen-A bezirke Kairos, einer alles andere als vornehmen Gegend. Die meisten Gebäude hier erweckten einen halb verfallenen Eindruck. Ihre Bewohner schienen sich kaum um den Erhalt der Behausungen zu kümmern, waren dazu entweder zu arm oder zu träge. Vielleicht hatten sie sich auch einen Ausspruch zu Herzen genommen, der ihrem Propheten Mohammed zugeschrieben wurde: »Was den Wohlstand eines Gläubigen auf-frißt, ist das Bauen.«
In so manches Haus hätte ein Europäer keinen Fuß gesetzt, aus Angst, ihm könne jeden Augenblick die Decke auf den Kopf fallen. Und doch lebten in solchen Ruinen ganze Großfamilien und waren sich der Gefahr scheinbar nicht einmal bewußt.
Die Schatten waren bereits sehr lang, als wir die gewundene Gasse erreichten, an deren Ende unser treulo-ser Führer wohnte. Sergeant Kalfan und zwei Grenadiere begleiteten Onkel Jean und mich. Die übrigen Grenadiere hatten den Befehl erhalten, unser Haus zu bewachen und gleichzeitig ein Auge auf Maruf ibn Saads Anwesen zu haben. Zahlreiche Augenpaare beobachteten uns neugierig aus Hauseingängen und Fensteröffnungen, während wir, die Fremden aus dem fernen Frankenland, die Gasse durchschritten. Abuls wind-schiefes Haus erweckte einen verlassenen Eindruck; die Tür war verschlossen. Mein Onkel klopfte mehrmals laut, aber nichts geschah.
»Niemand zu Hause?« fragte ich zweifelnd.
»Ich glaube eher, daß da jemand nicht angetroffen werden will, und das aus gutem Grund«, schnaubte Onkel Jean. »Lassen Sie die Tür aufbrechen, Sergeant!«
Die Haustür war alt und morsch, so daß es voraus-sichtlich keiner großen Anstrengung bedurfte, sie zu öffnen. Sergeant Kalfan selbst warf sich mit der Schulter dagegen, einmal, zweimal, und schon knirschte es gefährlich.
Bevor der Sergeant einen dritten Anlauf nehmen konnte, hörten wir das Schaben eines Riegels, und quiet-schend schwang die Tür auf. Wir sahen uns einer alten Frau gegenüber, deren unverschleiertes Gesicht nur aus Falten zu bestehen schien. Sie musterte uns halb ängstlich, halb verärgert. Hierzulande galt es schon als grobe Unhöflichkeit, ungebeten ein fremdes Haus zu betreten, von gewaltsamem Eindringen ganz zu schweigen.
Mein Onkel fragte die Frau nach Abul, erst auf französisch, dann in ihrer Sprache, aber sie würdigte ihn keiner Antwort. Aus dem hinteren Bereich des Hauses drang ein dumpfer Laut an unsere Ohren, wie von einem schweren Gegenstand, der umgefallen war. Die schweigsame Alte war also nicht allein. Wir drängten sie zur Seite und eilten in den rückwärtigen Raum, aus dem das Geräusch gekommen zu sein schien. Onkel Jean schlug den zerschlissenen Vorhang zur Seite, der den Raum vom Rest des Hauses abteilte.
Auf dem Boden lag, in seitlicher Haltung, ein knochiger alter Mann, das Gesicht mit dem spitzen Kinnbart auf den vergilbten Teppich gepreßt, als lausche er einem von unten kommenden Geräusch. Unter ihm breitete sich eine Blutlache aus.
Es war Abul.
Kalfan kniete sich neben ihn und drehte ihn herum.
Wir sahen, daß sein helles Gewand vor der Brust blutge-tränkt war.
»Mausetot, der alte Ziegenbart«, knurrte der Sergeant.
Die Frau trat hinter uns, stieß beim Anblick des Toten einen Schrei aus und schluchzte: » Ja mussihbe, ja za
’all« Was soviel hieß wie: »Welch ein Unglück, welch ein Leid!«
Sie warf sich über den Toten und begann hemmungslos zu weinen, wobei sie zwischendurch immer wieder Abuls Namen rief.
»Abul scheint ihr Mann gewesen zu sein«, sagte ich.
»Offenbar ist sie von seinem Tod ebenso überrascht wie wir.«
»Er kann auch noch nicht lange tot sein«, sagte Kalfan und erhob sich wieder. »Er ist noch ganz warm.
Möchte wissen, wer …«
Ein Geräusch über uns ließ ihn verstummen. Es waren unverkennbar Schritte auf dem Dach.
»Das muß er sein!« entfuhr es dem Sergeanten, und es war klar, daß er Abuls Mörder meinte. »Ihm nach!«
Vor dem Durchgang zum rückwärtigen Raum stand die Leiter, die auf das Flachdach führte. Ich war als erster oben und blickte mich suchend um. Wäsche flatterte an einer Leine, und in einer Ecke lagen auf einem ausgebreiteten Tuch Früchte zum Trocknen aus, aber ein Mensch war nicht zu sehen. Abuls Mörder mußte über die niedrige Mauer, die das Dach einfaßte, geklet-tert und hinuntergesprungen sein.
Aber auf welcher Seite des Hauses? Es war schon reichlich dunkel, und in diesem Randbezirk der Stadt hatte sich die von Bonaparte verordnete Straßenbe-leuchtung noch nicht durchgesetzt. Die Häuser verwandelten sich zusehends in nur schemenhaft wahr-nehmbare Gebilde, zwischen denen ein einzelner Mensch mit Leichtigkeit untertauchen konnte.
»Den finden wir nicht mehr«, meinte dann auch einer der Grenadiere.
»Wir sollten es wenigstens versuchen«, erwiderte mein Onkel. »Ich glaube nicht, daß Abul zufällig ermordet wurde, von irgendeinem dahergelaufenen Räuber.«
Erstaunt sah ich Onkel Jean an. »Sie meinen, er sollte zum Schweigen gebracht werden?«
»Alles andere würde mich überraschen. Der Mörder kann uns vielleicht sagen, was Abul uns nicht mehr verraten kann. Aber dazu müssen wir ihn erst einmal finden!«
Eilig stiegen wir wieder nach unten und verließen das Haus. Draußen verteilten wir uns in sämtliche Himmelsrichtungen, um nach dem Flüchtigen zu suchen. Angesichts der hereinbrechenden Dunkelheit glaubte ich kaum an einen Erfolg und schlug mehr aus Pflichtbewußtsein aufs Geratewohl einen schmalen Weg ein, der von der Gasse abzweigte. Irgendwann fiel mir ein, daß ich nicht einmal bewaffnet war. Nur das Klappmesser steckte in einer meiner Rocktaschen.
Plötzlich bewegte sich etwas vor mir, und ein Schatten löste sich aus der allgemeinen Dunkelheit. Das karge Mondlicht, das die sich links und rechts von mir erhebenden Häuser durchließen, fiel auf einen orientalisch gekleideten Mann, der mir den Weg versperrte. Er streckte seinen rechten Arm aus, wie um mir die Hand zu reichen. Aber dann sah ich den Dolch und wußte, daß ich den Mörder gefunden hatte. Ich verwarf den Gedanken, mein Klappmesser hervorzukramen. Das hätte viel zu lange gedauert, und außerdem erschien mir die kleine Klinge im Vergleich zu dem großen Dolch meines Gegenübers geradezu lächerlich.
Der Mörder schien erkannt zu haben, daß ich waf-fenlos war, und kam langsam auf mich zu. Ich wich zurück und versuchte, die Panik zu unterdrücken, die in mir hochsteigen wollte. Nicht einmal meinen Onkel und die Grenadiere konnte ich rufen, denn ich vermochte keinen Laut hervorzubringen. Mir war, als be-fände ich mich wieder in dem unterirdischen Tempel und spürte die kettengeschützten Hände des Ritters an meiner Kehle.
Ein schwacher Lichtstrahl fiel auf die große, kräftige Gestalt vor mir. Ich blickte in ein orientalisch anmutendes Gesicht mit schwarzem Vollbart. Über der scharf gebogenen Nase saßen wachsame Augen, die jede meiner Bewegungen verfolgten. Der Mann war noch jung, höchstens vier oder fünf Jahre älter als ich.
Er schien es nicht eilig damit zu haben, mich zu tö-
ten. Es war, als warte er – wie ein Bäcker, der genau weiß, wann er das Brot aus dem Ofen ziehen muß – auf den richtigen Zeitpunkt.
Dieser Zeitpunkt kam schneller, als mir lieb war. Ein Satz des Fremden nach vorn, ein schneller Stoß mit der rechten Hand, und ich sah den Dolch schon in mein Herz eindringen. Meine Angst und die damit verbunde-ne Unachtsamkeit retteten mich, als ich beim ungelenken Zurückweichen stolperte und rücklings zu Boden fiel. Auch der Mörder stolperte jetzt, und zwar über mich. Er landete unsanft auf meiner linken Schulter, die augenblicklich von einem stechenden Schmerz durch-fahren wurde. Der Pfad zwischen den Häusern war nicht breit genug, daß zwei ausgewachsene Männer nebeneinander liegen konnten.
Der Fremde schien sich bei dem Sturz ebenfalls verletzt zu haben, denn er stieß einen Schmerzenslaut aus.
Ein seltsam kehliges Geräusch, wie ich es noch nie ge-hört hatte. Es erinnerte mich an das Knurren eines Raubtiers.
Ich war geistesgegenwärtig genug, die Verwirrung des Mannes auszunutzen, und schwang mich rittlings auf ihn. Wieder stieß er jenes eigenartige Knurren aus, das diesmal klang wie ein Ausdruck unbändiger Wut.
Seine rechte Hand fuhr hoch und wollte den Dolch in meine Brust rammen, aber es gelang mir, sie zu pak-ken und umzudrehen. Wie im Rausch drückte ich die fremde Hand samt Dolch nach unten, ignorierte den Schmerz in meiner Schulter und mobilisierte sämtliche Kraftreserven.
Vielleicht hatte der Mörder sich bei dem Sturz stärker verletzt, als ich angenommen hatte, vielleicht war er auch nur überrascht, jedenfalls gewann ich die Oberhand. Die Klinge fuhr in die Brust des anderen und schnitt tief in das Fleisch. Er öffnete den Mund, brachte aber keinen Laut heraus. Seine Augen weiteten sich, dann sackte sein Kopf zur Seite, und jeder Widerstand erlahmte. Der schwere Körper unter mir war nur mehr eine leblose Ansammlung von Fleisch und Knochen.
Erstarrt wie erkaltetes Blei, so hockte ich auf ihm, vielleicht einige Minuten, vielleicht auch nur wenige Sekunden lang. Die Lebensgefahr, die mich eben noch in größte Panik versetzt hatte, war vorüber, und doch konnte ich mich nicht rühren. Ich hatte einen Menschen getötet, einen Mörder zwar, der zudem auch mir nach dem Leben getrachtet hatte, aber doch einen Menschen.
Mein Verstand versuchte, das in seiner ganzen Tragweite zu erfassen, und war doch nicht fähig dazu.
War nicht Gott allein der Herr über Leben und Tod?
Ich erschauerte bei dem Gedanken, daß ich mich in seine Befugnisse eingemischt hatte.
Irgendwann wurde ich gewahr, daß Onkel Jean und die Grenadiere vor mir standen. Waren sie durch den Kampflärm angelockt worden, oder hatte ich nach ihnen gerufen? Ich wußte es nicht.
Ich sah zu, wie sie den Toten hinaus auf die Gasse zogen. Ein Soldat hielt ein brennendes Scheit in der Hand, das er wohl aus einem der Häuser geholt hatte, und gespenstisch flackerndes Licht fiel auf den Leichnam, dessen Brust ebenso blutverschmiert war wie die von Abul. Immer mehr Schaulustige kamen aus den Häusern, ohne daß wir weiter auf sie achteten.
»Wer war der Mann?« fragte mein Onkel und kniete sich neben den Toten.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Er hat kein einziges Wort gesprochen.«
»Das konnte er auch nicht«, sagte Onkel Jean, nachdem er den Leichnam kurz untersucht hatte. »Er hat nämlich keine Zunge.«
»Keine Zunge?« wiederholte ich leise, während ich zu begreifen versuchte, was das zu bedeuten hatte.
Mein Onkel schob die Kiefer des Toten auseinander, und auf sein Geheiß leuchtete der Soldat mit dem Feuerscheit in den offenen Mund. Tatsächlich konnte ich keine Zunge entdecken.
So war das eigenartige Knurren vermutlich der einzige Laut gewesen, den der Mann hatte hervorbringen können. Ein Hauch von Mitleid wollte sich in mir regen, aber dann dachte ich daran, daß unter weniger glücklichen Umständen ich an seiner Stelle dort im Schmutz gelegen hätte.
»Abgeschnitten«, konstatierte Onkel Jean. »Fragt sich nur, ob als Strafe oder als Vorsichtsmaßnahme.«
»Vorsichtsmaßnahme, Onkel? Sie meinen …«
»Ganz recht, Bastien. Ein Mörder ohne Zunge kann seinen Auftraggeber nicht so leicht verraten. Da fragt man sich eigentlich, weshalb nicht viel mehr Mörder ohne Zunge herumlaufen.«
Sergeant Kalfan mischte sich mit dröhnender Baß-
stimme ein: »Jedenfalls hat den Kerl sein gerechtes Schicksal ereilt. Der Dolch des Mörders hat den Mörder gerichtet.«
»Ja, der Dolch«, sagte mein Onkel und erhob sich.
»Darf ich ihn einmal sehen, Bastien?«
Erst jetzt wurde mir bewußt, daß ich die blutige Waffe noch in der Hand hielt. Froh, sie loszuwerden, reichte ich sie meinem Onkel, der sie eingehend inspi-zierte.
»Äußerst interessant«, murmelte er schließlich.
»Was, Onkel?«
»Der Dolch mag hierzulande geschmiedet worden sein, aber seine Machart ist abendländisch. Wie das Schwert unserer geheimnisvollen Ritter erinnert er mich an mittelalterliche Waffen. Und dann sieh dir das hier an!«
Ich trat näher und betrachtete den Griff des Dolches, den er mir hinhielt. Wie bei dem Schwert war auch hier auf jeder Seite des Knaufs ein Kreuz eingraviert, einmal von heller und einmal von rötlicher Färbung.