37. KAPITEL

Ein doppeltes Spiel

brahim ging hinaus, um den Reiter in Empfang zu I nehmen. Offenbar waren die Kreuzritter nicht weniger überrascht als ich, und gebannt lauschten wir den Schritten Ibrahims und des Neuankömmlings auf der Treppe. Und zu meinem größten Erstaunen sah ich hinter dem Araber Onkel Jean den Speisesaal betreten. Mit offenem Mund starrte ich ihn an, unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen.

Er sah müde und abgekämpft aus, schmutzig und unrasiert, mit einem Wort: Er war in einer ähnlichen Verfassung wie ich. Was nicht verwunderlich war, hatte er doch dieselben Strapazen hinter sich. Eine andere Erklärung gab es nicht. »Das ist der andere Mann aus der Zuflucht!« rief Roger de Montjean. »Auch er hat gegen unsere Brüder und mich gekämpft!« Er drehte sich zu mir, die narbige Fratze dicht vor meinem Gesicht. »Hast du ihn mitgebracht?«

Mein Onkel übernahm es zu antworten: »Das hat er, aber unwissentlich. Als er sich aus dem Haus stahl –

drei Nächte ist das her – und in die Wüste ritt, bin ich ihm ebenso heimlich gefolgt. Mein Neffe dachte, er könnte seinen Gemütszustand vor mir verbergen, aber er hat vergessen, wie lange ich ihn kenne.«

Ich erinnerte mich an die Staubwolke, die ich für einen Augenblick durchs Fernrohr gesehen hatte und die dann verschwunden war. Ich hatte an eine Sinnestäuschung geglaubt – fälschlicherweise.

»Was willst du hier?« fuhr de Montjean meinen Onkel an. »Suchst du das Beduinenmädchen oder das Wahre Kreuz?« Onkel Jean lächelte. »Ich bin zu alt für junge Mädchen, und außerdem bin ich, wie ihr auch, ein Mann des Glaubens, der sich der Liebe zu Gott und seinem Sohn Jesus Christus verschrieben hat.«

De Montjean sah meinen Onkel ungläubig an. »Ein Mann des Glaubens, du?«

»In Frankreich war ich der Abt eines großen Klosters, St. Jacques bei Pontoise, bevor die Revolution ausbrach und mit ihr die Barbarei der Ungläubigen und Unwissenden. Sie haben das Kloster gestürmt, seine Kunstschätze zerstört und die Bücher verbrannt.«

Thibaut du Lac sah ihn verständnisvoll an. »Was sich in Frankreich abgespielt hat, ist beschämend. Wir haben noch lange Unterstützung von einigen Klöstern und Vereinigungen dort erhalten, aber seit der Revolution ist auch diese Quelle versiegt. Es scheint, als habe Gott sich von den Menschen abgewandt.«

»Wir hegen ähnliche Gedanken, und aus ähnlichen Gründen suchen wir nach dem Kreuz Jesu«, fuhr Onkel Jean fort. »Auch ich will mit seiner Hilfe dem Glauben zum Sieg verhelfen. In Frankreich gibt es noch viele, die so denken wie wir, verschiedene Gruppen, die für die Wiedereinsetzung von Kirche und Königtum eintreten, allgemein Royalisten genannt. Wenn sie das Wahre Kreuz sehen, wird das ihren Glauben und ihre Entschlossenheit stärken. Dann wird es uns gelingen, die Revolutionäre aus dem Land zu jagen!«

Mein Onkel hatte mit wachsendem Enthusiasmus gesprochen, und einige der Ordensritter nickten zu-stimmend.

Ich dagegen war verwirrt. Zwar hatte ich stets ge-spürt, wie sehr ihn der Verlust des Klosters schmerzte, auch noch Jahre danach, doch hatte ich angenommen, er habe sich mit den neuen Verhältnissen und seinem Leben als Archäologe arrangiert. Immerhin begleitete er Bonaparte, eine Galionsfigur der jungen Republik, auf dessen Orientexpedition. Hatte Onkel Jean all die Jahre hindurch eine Maske getragen, von der sogar ich ge-täuscht worden war? Er mußte ein guter Schauspieler sein, daß er seine wahren Empfindungen so lange so gut vor mir hatte verbergen können.

»An Ihren Worten ist viel Wahres«, sagte der Groß-

meister. »Vor Jahrhunderten sind wir ins Heilige Land gezogen, um es den Ungläubigen zu entreißen. Jetzt aber haben sich Ungläubige in unserer Heimat breitge-macht, haben die Macht an sich gerissen und tun alles, um den Glauben an Gott zu erschüttern. Vielleicht ist die Zeit für einen neuen Kreuzzug gekommen, einen, der uns zurück in die Heimat führt.«

»Wir sollten uns verbünden«, sagte Onkel Jean.

»Zunächst muß das Abendland vom Unglauben befreit werden; erst dann können wir hoffen, daß eines Tages auch im Morgenland das Kreuz Christi angebetet wird!«

Zweifelnd sah ich meinen Onkel an. Meinte er wirklich, was er da sagte? Wenn dies seine wahren Absichten waren, dann mußte er zutiefst verbittert sein, vielleicht gar von Haß zernagt.

Der Großmeister holte tief Luft. »Das alles will reiflich überlegt sein. Ich werde mich mit meinen Brüdern und mit Gott beraten.«

Zum ersten Mal seit seinem Eintreten bemerkte ich einen Anflug von Unsicherheit auf Onkel Jeans Gesicht.

»Überlegt nicht zu lange, sonst könnte es zu spät sein!

Bonaparte und seine Armee werden bald vor dieser Festung auftauchen.«

De Montjean trat auf ihn zu. »Woher weißt du das?

Hast du uns verraten?«

Mein Onkel schüttelte den Kopf und wandte sich an mich. »Hast du die Landkarte, Bastien?«

Ich zog sie aus meinem Rock und gab sie ihm. Onkel Jean breitete sie auf dem Tisch aus und erklärte den Ordensrittern ihre Bedeutung.

»So haben Sie uns also gefunden«, stellte du Lac fest.

»Hat Bonaparte auch so eine Karte?«

»Nein«, sagte mein Onkel. »Aber er weiß von dem Mann, der uns die Karte gegeben hat. Vermutlich wird er ihn zum Reden bringen, und sei es mit Gewalt.«

»Gegen seine Armee können wir niemals siegen«, seufzte der Großmeister. »Das könnten wir selbst dann nicht, wenn wir zahlreicher wären. Trotzdem dürfen wir keine übereilten Entschlüsse fassen. Morgen reden wir in Ruhe über alles. Bis dahin muß ich Sie, zu unserer Sicherheit, leider einsperren.«

Was ich in der vergangenen Stunde erfahren hatte, besonders von meinem Onkel, hätte mich unter anderen Umständen wohl aus der Fassung gebracht. Jetzt aber war ich merkwürdig ruhig, vielleicht weil ich wuß-

te, daß mir die Hände gebunden waren.

Mich beschäftigte nur eine Frage: »Kann ich Ourida sehen?«

»Einverstanden«, entschied du Lac. »Wir bringen Sie zu ihr.«

Die Ritter führten uns über mehrere Treppen in ein unterirdisches Verlies und öffneten eine schwere Tür, die mit einem gewaltigen Riegel verschlossen war. Der fensterlose Raum dahinter wurde von einer flackernden Kerze erhellt. Vor einem Lager aus Stroh und Decken stand Ourida und starrte uns entgegen.

Sie sah mitgenommen aus, mit tiefen Ringen unter den Augen. Ihre linke Wange war angeschwollen; offenbar hatte man sie geschlagen. Aber sie lebte und schien nicht ernsthaft verwundet zu sein – das wog alles andere auf! Ibrahim kam mit ein paar zusätzlichen Decken, aus denen er zwei weitere Nachtlager herrich-tete. Als er die Zelle verlassen hatte, schlossen die Kreuzritter die Tür und wir hörten das Schaben des schweren Riegels.

»Ihr könnt euch gern in die Arme fallen«, sagte Onkel Jean. »Oder soll ich mich abwenden?«

Ich trat auf Ourida zu und legte meine Arme um sie, ganz vorsichtig, weil ich ihr keine Schmerzen zufügen wollte. Möglicherweise hatte sie Verletzungen davongetragen, die ich nicht sah. Als aber unsere Körper einander berührten, verflog alle Zurückhaltung. Ich klammerte mich an sie wie ein Ertrinkender an seine Retterin, und ihr erging es genauso. Wie lange wir so dastanden, ist schwer zu sagen; es müssen etliche Minuten gewesen sein. Was immer ich gegen meinen Onkel vorbringen konnte, ich mußte ihm anrechnen, daß er uns nicht störte.

Irgendwann brachte ich heraus: »Dein Onkel Jussuf, Ourida, er ist tot.«

»Ich weiß. Ich habe es gesehen, obwohl ich nicht dabei war. Es war schrecklich. Aber ich bin froh, daß du lebst!«

Jetzt meldete sich Onkel Jean doch zu Wort: »Sieh an, sie kann sprechen, und dann auch noch französisch.

Kompliment für Ihre Schauspielkunst, Mademoiselle.«

Da Ourida schwieg, erwiderte ich: »Sie sind ein noch viel besserer Schauspieler, Onkel! Was haben Sie mir nicht alles vorgespielt. In Kairo haben Sie vor ein paar Tagen erst so getan, als hörten Sie zum ersten Mal, daß das Wahre Kreuz von Beduinen versteckt wird. Dabei hatten Sie das längst in einem Buch gelesen.«

Onkel Jean schaute mich betreten an. »Ja, das Buch.

Ich hatte es gut im Regal versteckt, aber mit dem Vanda-lismus des aufgestachelten Mobs habe ich nicht gerechnet. Dumm, daß es dir in die Hände gefallen ist. Oder auch nicht, denn sonst wären wir jetzt vielleicht nicht hier. Kompliment übrigens, wie du die Festung gefunden hast. Als ich den zerstörten Kompaß entdeckte, habe ich mir ernsthafte Sorgen gemacht. Wie hast du den Rest des Weges so zielsicher zurücklegen können?«

»Ich bin einfach dem Stern gefolgt.«

»Welchem Stern?«

»Dem, der besonders hell leuchtete und direkt über der Festung stand.«

»Tut mir leid, aber einen solchen Stern habe ich nicht bemerkt.«

»Aber er war da!«

Ourida drückte meine rechte Hand. »Vielleicht hat er nur für dich geleuchtet, Liebster. Vielleicht kam das Licht aus dir selbst. Das Schicksal hat dich zu mir ge-führt.«

»Mag sein. Wichtig ist doch nur, daß ich bei dir bin«, sagte ich und wandte mich wieder an Onkel Jean.

»Hören Sie endlich auf zu heucheln! Sie wollen sich Sorgen um mich gemacht haben? Daß ich nicht lache!

Als Bonaparte das Lager der Abnaa Al Salieb beschos-sen hat und ich mittendrin war, haben Sie nichts unter-nommen!«

»Das konnte ich nicht, Bastien! Bonaparte hat mich hintergangen. Es war gegen unsere Abmachung, das mußt du mir glauben! Er hatte mir zugesagt, dich zu befreien, bevor er einen Großangriff befiehlt, aber als er seine Truppen und Kanonen in Stellung gebracht hatte, hat er den Plan geändert.

Er meinte, die Gelegenheit sei zu günstig, um nicht anzugreifen; wenn er erst versuche, dich herauszuholen, könnten die Beduinen gewarnt werden. Ich beschwor ihn, sich trotzdem zuerst um dich zu kümmern, aber er ließ sich von seinem Entschluß nicht abbringen. Genauso ist es gewesen, glaub mir!« Er mochte recht haben.

Aber das änderte nichts an der Tatsache, daß mein Onkel mich hintergangen und gemeinsame Sache mit General Bonaparte gemacht hatte. Ich fühlte mich ausge-nutzt, und Zorn kochte in mir hoch. Unwillkürlich ballte ich die Fäuste und stand kurz davor, auf meinen Onkel einzuschlagen. Aber er war auch der Mann, dem ich mein Leben verdankte. Dieses Wissen und die Erinnerung an alles, was er für mich getan hatte, hielten mich zurück.

»Was ist das für eine Abmachung zwischen Bonaparte und Ihnen?« herrschte ich ihn an. »Wie ist es da-zu gekommen?«

»Wie du weißt, wurde Bonaparte vor einigen Monaten in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen, der auch ich angehöre. Wir haben uns bei der Aufnah-mefeier kennengelernt, und ich habe ihm von meinen Forschungen über das Wahre Kreuz erzählt, denn ich wollte nach Ägypten mitgenommen werden. Bonaparte hat mir eine Zusage gemacht. Er hatte schnell erfaßt, daß das Kreuz ihm bei seinem Orientfeldzug von unschätzbarem Nutzen sein kann.«

»Aber was haben Sie davon, wenn Sie das Kreuz Bonaparte überlassen?«

»Er hat mir versprochen, im Gegenzug die Rechte der Kirche zu stärken, wenn wir nach Frankreich zu-rückkehren. St. Jacques soll wieder Kloster werden und alle Ländereien zurückerhalten. Und Bonaparte will mich wieder als Abt einsetzen.«

»Kann er das überhaupt? Im Direktorium wird es kaum eine Mehrheit für eine Stärkung der Kirche geben.«

»Wenn Bonaparte diesen Feldzug gewinnt, wird er als gefeierter Held heimkehren. Seine Ambitionen sind groß, kein Direktorium wird ihn dann noch aufhalten können.«

»Sie spielen ein doppeltes Spiel, Onkel«, sagte ich nach einigem Überlegen. »Sie haben das Wahre Kreuz erst Bonaparte und jetzt den Rittern vom Verlorenen Kreuz versprochen. Welches Versprechen werden Sie halten?«

»Das hängt davon ab, wie die Dinge sich entwickeln.

Es ist besser, zwei Eisen im Feuer zu haben als keins.«

Ich sah ihm tief in die Augen. »Was bin ich für Sie?

Auch ein Eisen, das Sie schmieden, solange es heiß ist?«

»Ich verstehe nicht.«

»Sie wollen nicht verstehen, denke ich. Daß zwischen dem Wahren Kreuz und mir eine Verbindung besteht, ist wohl kaum ein Zufall, oder? Geben Sie zu, daß Sie davon gewußt haben, schon in Frankreich!«

Er zögerte erst, nickte dann aber. »Das gebe ich zu.«

»Und seit wann wissen Sie es?«

»Seit der Zeit in St. Jacques.«

»So lange?« staunte ich.

»Du bist schlafgewandelt und hast erstaunliche Dinge erzählt über die Kreuzzüge, die Schlacht von Hattin und das Wahre Kreuz. Die anderen Jungen im Schlaf-saal haben es nicht verstanden und sich geängstigt. Ich habe mir damals so manche Nacht mit dir um die Ohren geschlagen, und du hast mir vieles erzählt, woran du dich am nächsten Tag nicht mehr erinnern konntest.

Es war wie ein zweites Leben, das in dir schlief und nachts in deinen Träumen erwachte. Dann warst du ein anderer, der Kreuzfahrer Roland de Giraud. Ich habe ein ganzes Notizbuch mit deinen Erzählungen gefüllt.

Seitdem habe ich gewußt, daß du mich eines Tages zum Wahren Kreuz führen würdest.«

»Ich erinnere mich an nichts.«

»Irgendwann war es vorüber. Du hattest dir alles von der Seele geredet und schienst befreit zu sein.«

Meine Enttäuschung über den Mann, den ich als meinen Onkel, als zweiten Vater gar, betrachtet hatte, wuchs ins Unermeßliche.

Ich spürte einen dicken Kloß im Hals und sagte mit erstickter Stimme: »All die Jahre haben Sie mich also belogen; haben Sie so getan, als hätten Sie mich gern.

Entweder bin ich sehr einfältig, oder Sie sind der beste Schauspieler der Welt!«

Meine Worte schienen ihn sehr getroffen zu haben.

»Aber das stimmt nicht, Bastien! Vom ersten Tag an warst du wie ein Sohn für mich. Warum sonst hätte ich damals die Nächte durchwachen sollen? Dein Wohler-gehen hat mir immer am Herzen gelegen!«

»So wie das Wahre Kreuz«, sagte ich gallig. »So sehr, daß Sie mich mit nach Ägypten genommen haben, ohne mir den Grund zu verraten.«

»Du wirfst mir Verrat vor? Ich bin ein Mann der Kirche, bin auch ihr verpflichtet. Vielleicht weiß die Kirche, warum sie ihren Priestern und Ordensangehörigen Ehe und Familie untersagt. Es gibt Momente, da kann man nicht beides unter einen Hut bringen. Ich habe es versucht und scheine gescheitert zu sein. Vielleicht hast du recht, und ich hätte dich viel eher einweihen sollen. Aber ich wollte, daß du unbelastet bist. Wä-

rest du ins Morgenland gekommen, um krampfhaft nach deinem anderen Leben zu suchen, hättest du es vielleicht gerade nicht gefunden.«

Noch immer ruhte mein Blick auf ihm. Er wirkte ehrlich bekümmert, aber vielleicht war auch das gut gespielt.

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte ich schließlich.

»Mein Herz will Ihnen Glauben schenken, Onkel, mein Verstand aber zweifelt.«

Wir ließen uns auf die Lager nieder, waren jedoch zu aufgewühlt, um uns zum Schlafen hinzulegen. Ich saß neben Ourida und hielt sie im Arm, was uns beiden guttat. Onkel Jean starrte die gegenüberliegende Wand an, aber mit einem Ausdruck, als blicke er eigentlich tief in sein eigenes Inneres. Meine Vorhaltungen schienen ihn wirklich getroffen zu haben. Doch ich hatte gerade erst erfahren, daß ich ihn nicht wirklich kannte, und so hätte ich auch in diesem Moment nicht sagen können, was ihn tatsächlich bewegte. Plötzlicher Lärm ließ uns aufhorchen: Pferdehufe, Schreie, das Klirren von Waffen. Es gab keinen Zweifel, draußen auf dem Burghof wurde gekämpft!